Kater Heinrich 4.5
Hoffentlich bemerkt das hier noch jemand …
Hier nochmal die Links zu den vorherigen Teilen:
Kater Heinrichs "Geburt" als Beitrag zum Acht-Worte-Spiel Part 11:
Kurzgeschichten: Geschichten-Spiel Part 11
Kater Heinrich 2 - "Sommernachtsspiele":
Kurzgeschichten: Sommernachtsspiele
"Kater Heinrich - die Dritte":
Kurzgeschichten: Kater Heinrich - die dritte
Alle anderen (4.1 bis 4.5) sind ja hier in diesem Thread. Damit wäre erst mal alles aus den Heinrich-Geschichten aufgelöst
Viel Spaß, ich hoffe die Geschichte kann was
*
Als Heinrich unter dem Apfelbaum in Simones Garten ankam, sah er gerade noch, wie das Gebilde aus wabernder Luft in sich zusammenfiel. Das A.R.C.R. war weg und er hatte keine Ahnung, ob er Ka-Tse und die seltsame Dimension der Katzen jemals wiedersehen würde.
Er sah in den Himmel.
»Hmm, noch ziemlich früh…«
Er kalkulierte, wann Simone wohl das letzte Mal ihn, beziehungsweise seinen Doppelgänger gesehen haben könnte.
»Auf jeden Fall zu früh«, sagte er sich. Wenn er jetzt schon nach Hause ging, konnte er höchstens mit ein paar Streicheleinheiten und etwas zusätzlichem Trockenfutter rechnen. Noch einmal hob er den Kopf, beobachtete aufmerksam das sanfte Dahinziehen der Wolken, sog tief die warme Luft ein … Oh ja, schon in zwanzig Minuten wäre die Situation eine völlig andere. Dann wären mindestens fünf Minuten Kraulen und ein Schälchen Milch drin, obwohl er davon Blähungen bekam. Er horchte in sich hinein, das Essen bei Ka-Tse war ausgesprochen gut gewesen, Hunger hatte er keinen. Er beschloss, alles auf eine Karte zu setzen, schließlich war er kein Kater für halbe Sachen. Eine Stunde später müsste sogar Kraulen auf ihrem Schoß, ausgiebiges Streicheln und Thunfisch möglich sein. Außerdem war es nicht zu viel verlangt, dass sie eine Weile ohne ihn auskam.
*
Es war Freitag, ein Brückentag und Simone hatte sich frei genommen. Nun saß sie, nur mit einem hellgrünen, verwaschenen Top und einem knappen, rosafarbenen Schlüpfer mit Hello-Kitty-Aufdruck bekleidet, am Küchentisch. Ihre lockige, karottenrote Mähne fiel auf ihre sommersprossigen Schultern. Das Radio dudelte vor sich hin und sie blickte gedankenverloren aus dem Fenster, eine Tasse Tee in beiden Händen haltend. Normalerweise saß Heinrich auf dem nun leeren Stuhl ihr gegenüber. Sie hatte sich immer gefragt, warum er nie wie so viele andere Katzen versuchte, etwas von ihrem Frühstück auf dem Tisch zu stibitzen oder wenigstens an der Butter zu lecken. Stattdessen kauerte er meist dort drüben auf dem Sitz, wo sie ihn unter der Tischplatte kaum sehen konnte und schnurrte vor sich hin. Im Sommer zumindest.
Na ja, dachte sie, er würde sich bald wieder beruhigt haben und dann hätte sie wieder Gesellschaft beim Frühstück. Sie stützte sich auf die Ellenbogen, rutschte auf dem Küchenstuhl ein wenig nach vorne und schlang die Füße um die Stuhlbeine. Dabei rutschte ihr Schlüpfer ein Stück nach unten und zur Seite. Dass das einer der Momente war, in denen Heinrich besonders inbrünstig schnurrte, ahnte sie nicht.
Draußen fuhr nun schon zum dritten Mal ein großer, dunkelgrüner Geländewagen langsam die Straße entlang. Keiner der zur Zeit so beliebten Möchtegern-Geländewagen, nein, dieser sah echt aus. Die Reifen hatten ein kräftiges Profil und waren, wie auch die Seiten des Wagens, schmutzüberkrustet. Sie erkannte, dass der Fahrer einen Hut trug.
Das Geräusch des Toasters unterbrach ihre Beobachtungen und sie widmete sich genüßlich der Zubereitung eines Vollkorntoastes mit Butter, 40-prozentigem Quark und Preiselbeermarmelade aus dem Bioladen.
Als sie wieder den Blick durch das Fenster schweifen ließ, stand der Geländewagen vor ihrem Haus. Sie stutzte, dann hörte sie etwas, das wie Schritte klang, auf der Treppe. Etwas stimmte nicht mit diesen Schritten, da war ein helles, metallisches Klappern. Es klingelte. Schnell schlüpfte sie in ihre hellblauen Tigerpranken-Puschen und eilte in den Flur.
Durch den Spion in der Haustür blickte sie in ein Gesicht, in dem ein graudurchzogener Schnauzbart prangte, darüber leuchtete eine rötliche, grobporige Nase.
»Moment!« rief sie, lief ins Badezimmer, warf sich ihren gelben Bademantel über und öffnete schließlich die Tür. Ein etwa sechzigjähriger Mann stand ihr gegenüber, kräftig und nicht besonders groß.
»Mein Name ist Gondt«, stellte er sich vor und machte eine dramatische Pause.
»
Jens Gondt« fügte er dann ernst hinzu.
Er trug einen grünen Filzhut auf dem Kopf, ein kariertes Hemd, in dem ein beachtlicher Kugelbauch die Hirschhornimitatknöpfe einem Dauerbelastungstest unterzog und eine Kniebundhose aus hellbraunem Breitkordstoff. Er stützte sich auf Krücken aus Aluminiumrohr – die Ursache für das Klappern. Links trug er einen braun und grün karierten Kniestrumpf, der in einem dunkelgrauen Wanderschuh verschwand, sein rechtes Schienbein wurde von einer weißen Kunststoffschiene umschlossen.
Simone grinste.
Er zog die Brauen zusammen und sah sie an. »Habe ich etwas komisches gesagt, junge Frau?«
Sie unterdrückte das Grinsen.
»Nein. Nein, überhaupt nicht. Wie kann ich Ihnen helfen?« fragte sie dann mit zuckenden Mundwinkeln.
»Ich bin der Jägermeister des Reviers, das hinter der Siedlung beginnt«, fuhr er fort »und ich untersuche einige mysteriöse Vorfälle …«
Simone kicherte.
»Entschuldigung, aber …« sie gluckste, »dürfte ich vielleicht Ihre Lizenz zum Töten sehen?«
»Sie meinen … Selbstverständlich habe ich meine Jagdlizenz immer dabei – warum fragen mich das alle?«
Er klemmte die Krücke unter den Arm und kramte in seinen Taschen. Dann hielt er ihr ein in Folie eingeschweißtes Kärtchen vor die Nase. Ihr fiel auf, dass er an der rechten Hand einen Verband trug, mit einer dunklen Stelle, wo sich einmal der Zeigefinger befunden hatte.
»Sehen Sie? Es hat alles seine Richtigkeit. Jagdlizenz für das Revier 007 …«
Simone brach in Gelächter aus. Verständnislos wartete Gondt, bis sie sich wieder gefangen hatte.
»Das ist eine ernste Angelegenheit, junge Frau. Ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt. Wie ich bereits sagte, untersuche ich einige mysteriöse Vorfälle, in die eine getigerte Hauskatze aus dieser Straße verwickelt ist …«
»Und das haben Sie alles unter dem Einfluss von – ich meine, in Ihrer Eigenschaft als Jägermeister herausgefunden? Und als nächstes sagen Sie mir, dass mein Heinrich mit ihren ›mysteriösen Vorfällen‹ zu tun hat.«
»Ahaa!« rief er triumphierend »Heinrich heißt er! Und Sie geben zu, dass Sie einen Kater haben!«
Simone wusste nicht, ob sie lachen oder ernst bleiben sollte.
»Wer von uns beiden hier den Kater hat, lassen wir jetzt mal beiseite …«
Einer der seltenen Momente, in denen die gutmütige Simone ärgerlich wurde, bahnte sich an. Doch da sah sie, wie sich das bisher so ernste, vierschrötige Gesicht des Jägers veränderte. Sein Blick wurde feucht, sein Kinn zitterte …
»Auch Sie …« schniefte er, »auch Sie nehmen mich nicht ernst …«
Er zog ein weißes Stofftaschentuch aus einer Hosentasche, dessen Ränder mit einem gestickten Eichenlaubmuster verziert waren. Er versuchte, die Krücken mit den Ellenbogen festzuhalten während er sich geräuschvoll schneuzte. Eine der Krücken löste sich jedoch von seiner Seite und Simone fing sie gerade noch auf.
»Danke,« sagte er weinerlich, »Sie haben ein gutes Herz.«
Da war es um sie geschehen. Simone, die bei Rosamunde Pilcher-Filmen Krokodilstränen vergoss, die aus dem Nest gefallene Küken aufpäppelte, hoffnungslos verlauste Igel durch den Winter fütterte, brach es das Herz, diesen alten Mann den Tränen nahe zu sehen. ›Helfersyndrom‹ nannte das ihr Freund Andreas, während Heinrich sich mal über Gesellschaft an langweiligen Wintertagen, mal über eine schnelle Mahlzeit freute.
»Möchten Sie sich vielleicht kurz hinsetzen? Ich habe auch Tee oder Kaffee, wenn Sie mögen …«
»Also, ein wenig Stärkung könnte ich jetzt tatsächlich gebrauchen, aber ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen.«
»Das tun Sie nicht, machen Sie sich keine Sorgen.« Zur Sicherheit fügte sie noch hinzu: »Mein Freund kommt gleich zurück, vielleicht hat der etwas gesehen, was Ihnen weiterhilft.« Andreas musste arbeiten, er hatte sich den Brückentag nicht rechtzeitig sichern können, aber man wusste ja nie …
»Das ist sehr freundlich, aber ich fürchte, der glaubt mir noch weniger. Außerdem habe ich nicht vor, Sie lange aufzuhalten.«
»Kommen Sie erst mal rein.«
Gondt folgte ihr in die Küche. Er schniefte zwar noch ein paar Mal, hatte sich aber wieder im Griff. Er setzte sich auf den leeren Stuhl und lehnte die Krücken an die Heizung.
»Möchten Sie einen Ingwertee?«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht …«
Simone schaltete den Wasserkocher ein und setzte sich an den Tisch.
»Dann erzählen Sie mal von Ihren ›mysteriösen Vorkommnissen‹.«
»Nun,« begann Gondt, »es fing vor ein paar Tagen an. Ich streifte mit Gernot an meiner Seite durch mein Revier …«
»Gernot?« unterbrach Simone.
»Mein Rauhaardackel, Gernot von der Hodenweide …«
Der Wasserkocher war fertig und Simone sprang auf, es hatte nicht viel gefehlt und sie hätte wieder laut losgelacht, aber so konnte sie ihm den Rücken zuwenden, ohne unhöflich zu wirken. Sie atmete ein paar Mal tief durch und kam wieder an den Tisch.
»Gernot von der …
Hodenweide?« fragte sie, während sie seine Tasse auffüllte. Es kostete sie große Mühe, ihre Mundwinkel unter Kontrolle zu halten.
»Ja, ein Missverständnis bei seiner Registrierung als Jagd- und Rassehund.«
Sie füllte ihre eigene Tasse und setzte sich.
»Eigentlich sollte er Gernot von der Hasenweide heißen, aber an jenem Tag hatte mein väterlicher Freund und Mentor Dienst im Forstamt, ein altgedienter Jagdmeister, dessen Augen nicht mehr die besten waren. Gut, meine Handschrift und seine Vorliebe für geistige Getränke mögen ihren Teil beigetragen haben, doch sei's drum. Bei ihm habe ich viel gelernt und mein erstes Abzeichen gemacht, die blanke Eichel mit Kranz …«
Simone prustete, Tee lief ihr aus der Nase.
»Ist Ihnen nicht gut?« fragte Gondt besorgt.
»Nein, alles in Ordnung«, sie hustete, »ich habe mich nur verschluckt, erzählen Sie weiter.«
»Wie gesagt, seine Augen waren damals schon nicht mehr die besten und da hat er sich nun mal vertan. Was sollte ich machen? Diesem altehrwürdigen Veteranen der Jagd auf den Kopf zu sagen, dass er einen
Fehler gemacht hatte?«
»Also ich würde …« begann Simone, aber Gondt nahm sie nicht wahr. Froh, jemanden gefunden zu haben, dem er sein Herz ausschütten konnte, fuhr er fort.
»Ich streifte also mit meinem treuen Gernot zur Seite durch das Revier. Einen Hubertusjünger auf vier Pfoten, so nannte ich ihn immer. Ein Mann, seine Waffe und des Menschen bester Freund, der treue Hund, so wie es sein sollte …«
Da begegnete er Simones verständnislosem Blick.
»Ach Fräulein,« sagte er dann, »es ist traurig, dass Ihre Generation so gar nichts mehr vom traditionsreichen Waidwerk weiß. Aber ich mache Ihnen keinen Vorwurf, Sie arbeiten ja nur noch mit den Komputern und diesem Inder-Netz. Sankt Hubertus ist der Schutzpatron der Jagd.«
»Ach so.«
Gondt fuhr fort: »Wir inspizierten also die Fallen, die ich aufgestellt hatte, um der Kaninchenplage Herr zu werden, aber was glauben Sie, was wir fanden? Was glauben Sie?«
»Ja, was?«
»Sie waren
weg!«
»Weg?«
»Weg!«
»Ach …«
»Ja, und das Verrückte war, dass alles, was aus Plastik war, und auch die Köder noch an exakt der Stelle lagen, wo wir die Fallen aufgestellt hatten! So, als ob sich einfach alles Metall in Luft aufgelöst hätte.«
»Jugendliche vielleicht?«
»Das habe ich auch zunächst gedacht. Oder die Terroristen, man ist ja heutzutage nirgends mehr sicher, aber dann hätte ich doch Spuren finden müssen«, er senkte dramatisch die Stimme »und da waren keine …«
»Müsteriööhs …« sagte Simone. Sie war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte, doch Gondt machte nicht den Eindruck, als ob er sich Geschichten ausdenken würde. Eigentlich bezweifelte sie sogar dass er das konnte, selbst wenn er gewollt hätte. Seine Erzählung hörte sich seltsam an, doch andererseits war ihr selbst in den vergangenen Tagen einiges seltsam vorgkommen. Mehrmals war die Terrassentür offen gewesen, obwohl sie sicher war, sie zugeschoben zu haben, öfter als gewöhnlich sah sie Tiere im Garten und nicht nur frühmorgens, wenn sie gerade aufgestanden war. Einmal waren da vier Kaninchen, die auf etwas zu warten schienen, ein anderes Mal glaubte sie, einen Fuchs in der Hecke verschwinden zu sehen …
»Aber …« er beugte sich über den Tisch und senkte die Stimme, »ich habe
Katzenspuren gefunden! Ganz Recht, Katzenspuren! Halb verwischt, aber ich bin mir sicher, dass es die Spuren einer Katze waren!«
»Nein.«
»Doch! So sicher, wie ich hier sitze!« triumphierend setzte er sich wieder auf, nahm einen Schluck Tee und fuhr dann fort.
»Wir pirschten also durch unser Revier, mein Gernot und ich …«
Ihre Mundwinkel zuckten kaum merklich »Revier Null-Null-Sieben …«
»Genau, und wieder fanden wir eine Falle, die nicht mehr da war. Eine, die wir tags zuvor erst aufgestellt hatten. Und weil mir schon zuvor einige auf diese mysteriöse Weise abhanden gekommen waren, hatte ich diese an einer Stelle platziert, an der man auf jeden Fall Spuren finden musste.«
»Raffinieeert …« sagte Simone.
»Selbstverständlich«, entgegnete Gondt stolz, »und wie ich bereits sagte – da waren sie, die Spuren des Übeltäters! Katzenspuren!«
»Ich kann's immer noch nicht glauben …«
»Glauben sie's nur, junge Frau, ein alter Jägersmann wie ich lässt sich nicht täuschen!« Er nahm einen Schluck Tee, dann fuhr er mit gesenkter Stimme fort.
»Die nächste Falle war noch unberührt an Ort und Stelle, also beschlossen Gernot und ich, am späten Abend wiederzukommen, zur Jagdzeit der Katzen. In der Dämmerung legten wir uns also nahe der Falle auf die Lauer und warteten. Geduldig, wachsam und zu Allem entschlossen. Lange Zeit geschah überhaupt nichts, doch plötzlich schlug Gernot an. Er wurde unruhig und knurrte. Schließlich preschte er unter lautem Gebell davon.«
Gondt war im Laufe seiner Erzählung immer ruhiger geworden, seine Gesten waren weniger geworden, seine Stimme düsterer.
»Und nun begann das Grauen«, sagte er mit Grabesstimme. Simone lief es kalt den Rücken hinunter.
»Ohne dass wir es gemerkt hatten, war es spät und später geworden, es begann zu dunkeln. Gernot war im Wald verschwunden auch sein Bellen konnte ich nun nicht mehr hören. Ich war allein. Ich rief nach ihm, schließlich griff ich nach meiner Pfeife, doch er antwortete nicht. Ich erhob mich und schlug mich in die Richtung, in die mein treuer Gefährte gerannt war. Das Unterholz war finster, der Wald füllte sich mit den Lauten der Tiere der Nacht …
Plötzlich …« Simone zuckte zusammen – überraschend hatte er die Stimme gehoben mit beiden Händen geräuschvoll die Tischkante gepackt, so dass der Tee in ihrer Tasse schwappte, »drang das Bellen meines Gernot durch das Dunkel! ›Gernot harre aus, ich komme!‹ rief ich und wandte mich in diese Richtung. Farne schlugen mir ins Gesicht, Tannenzweige rissen mir den Hut vom Kopf, doch nichts konnte mich aufhalten.«
Simone hatte die Schultern hochgezogen und lauschte gebannt dem alten Jäger.
»Sein Gebell wurde …« er stockte, »wurde immer höher, so als wäre er in Gefahr, als hätte er
Angst! … Und dann war es still. Wieder stand ich in der Dämmerung und hatte ihn immer noch nicht gefunden. Dann war da ein kurzes, atemloses Keuchen, ganz nah. Ich nahm mein Gewehr von der Schulter, sah durch das Zielfernrohr mit Lichtverstärker in die Runde und wieder – nichts! Können Sie sich das vorstellen? Ich war dem Wahnsinn nahe – Mein treuer Hund bellt schmerzerfüllt, ruft in höchster Not nach seinem Herrn in greifbarer Nähe und ich sehe nichts! Rein gar nichts!«
Simone schluckte, da war wieder dieser leiderfüllte Ausdruck in dem vierschrötigen Gesicht, der sie dazu gebracht hatte, ihn hereinzubitten.
»Da sah ich, während ich mich noch drehte, eine andere Falle im Fadenkreuz und etwas bewegte sich dort. Ich schwenkte flink wie der Blitz zurück und konnte gerade noch einen getigerten Kater verschwinden sehen, der sich an der Falle zu schaffen gemacht hatte. Ich hatte das Gewehr nicht entsichert und so ist mir dieses Untier entwischt. Im selben Moment hörte ich ein leises Geräusch, ganz nah. Ich zog die Lampe vom Gürtel und schlich vorsichtig darauf zu. Da lag er. Mein Gernot.«
*
Heinrich blinzelte in die Sonne. Er hatte herrlich gedöst und fühlte sich nun bereit, Simones Aufmerksamkeit, vielleicht auch etwas Thunfisch entgegenzunehmen. Oder doch lieber Gänseleberpastete? Man würde sehen. Er gähnte herzhaft, streckte sich und trottete dann über die Wiese auf die Terrasse zu.
*
Gondt schluckte. Seine Augen glänzten. Schließlich fuhr er fort.
»Mir blieb fast das Herz stehen. Es kostete mich große Überwindung, auf das leblos daliegende Bündel zuzugehen. Doch als ich sah wie sich seine Brust schnell, aber flach hob und senkte sprang ich zu ihm, kniete mich an seine Seite. Ich sah kein Blut, keine Wunden. Er lebte! Aber er hechelte, sein Bauch zitterte, seine Augen waren verdreht, da war nur noch das Weiße zu sehen, die Zunge lag wie eine nasse Socke auf dem Boden …«
Er schluckte.
»Und da sah ich es …« Gond hob zitternd seine Tasse und leerte sie in einem Zug, »Er … er war
bestiegen worden …«
Simones Brauen hoben sich, sie presste die Lippen zusammen und prustete ein unterdrücktes Lachen durch die Nase, während der Jäger den Boden seiner Tasse fixierte. Er holte tief Luft.
»Und glauben Sie mir Fräulein, wenn ich jemals einen Ausdruck tierischer …« er suchte nach Worten » …
Geilheit gesehen habe – entschuldigen Sie den Ausdruck – dann in jenem Moment. Verstehen Sie … er schien es zu
genießen!«
Er schniefte, zog sein Taschentuch hervor und schneuzte sich wieder geräuschvoll.
»Gerade als ich zum Fangschuss auf ihn angelegt hatte, um ihn von seinen Qualen zu erlösen, sagte ich mir: ›Nein, Jens. Nein. So leicht gibst du dich nicht geschlagen. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn das traditionsreiche, männliche Handwerk der Jagd einen vom Wege abgekommenen Jünger Hubertus' nicht wieder auf den rechten Weg bringen könnte‹. Und ich nahm ihn wieder mit nach Hause. Doch er war nicht mehr derselbe. Er besprang einfach alles, was ihm in die Quere kam. Den Pudel meines Vermieters, den Chihuahua der Nachbarin, selbst meine Hosenbeine waren nicht mehr sicher.« Wieder schneuzte er sich geräuschvoll.
»Sie hatten einen
Sex-Anarchisten aus ihm gemacht«
Simone traute ihren Ohren nicht und sie hätte jeden, der ihr hätte weismachen wollen, dass das möglich sei, für verrückt erklärt - doch Gondt hatte es fertiggebracht, das Wort
Sex-Anarchisten in weißer Schrift auf rotem Grund auszusprechen.
Gondt fuhr fort: »Ich nahm einer der randalierenden Gören in unserem Haus den Teddybären weg – schließlich ging es um ein höheres Ziel – und schloss Gernot damit im Badezimmer ein. Einen Tag und eine Nacht hörte ich die verbotensten Laute, doch ich ließ ihn nicht heraus. Dann endlich schien er sich beruhigt zu haben. Den Teddybären verbrannte ich im Garten. Und ich kann Ihnen sagen, es dauerte, bis er Feuer fing…«
Simone grinste, hielt sich aber die Tasse vor das Gesicht.
»Am nächsten Tag beschloss ich, ihn wieder auf die Jagd mitzunehmen. Sie wissen ja, wer vom Pferd gefallen ist, muss so schnell wie möglich wieder in den Sattel, sonst wird er nie wieder reiten. Nun, es ließ sich auch recht gut an. Er gab Laut, wie ich das kannte wenn er einen Hasen gewittert hatte, und rannte davon, doch als ich ihm folgte … Sie können sich mein Erstaunen nicht ausmalen, als ich sah wie er den Hasen besprang. Und noch nie, glauben Sie mir, noch nie habe ich eine größere Verwirrung im Blick eines Tieres gesehen. Ich war zu perplex, so dass der Hase entkam und meinem Gernot habe ich ordentlich die Leviten gelesen, das können Sie mir glauben!«
Simone lachte.
»Nun, Ihnen mag das vielleicht komisch vorkommen, für mich war es eine Katastrophe. Doch ich gab mich nicht geschlagen und nach und nach hatte ich den Eindruck, dass er wieder parierte. Später am Abend entdeckte ich die Fährte einer Füchsin, die schon länger ihr Unwesen in meinem Revier trieb und ich dachte, das wäre eine Aufgabe, die mir meinen Gernot ganz wieder herstellen würde. So folgten wir also ihrer Fährte und er nahm Witterung auf. Schließlich hatten wir sie gestellt. Es war perfekt. Eine Lichtung, sie hatte eine Maus oder ein Kaninchen gefangen und fraß. Der Wind stand gegen uns und ich legte an. Gernot war still und wartete auf mein Kommando. Es schien, als würden wir wieder als Herr und Hund den Wald verlassen, mit reicher Beute. Ich hatte das verflixte Tier im Visier, es konnte nichts anderes als ein Blattschuss werden, der Wind stand immer noch günstig, Gernot und ich waren lautlos, tödlich, und beinah wieder verbunden … ich entsichere die Waffe, mein Finger krümmt sich um den Abzug -
da erscheint dieser vermaledeite Kater im Zielfernrohr!« Simone riss ungläubig die Augen auf.
»Der Schuss löst sich – und ich schwöre bei Sankt Hubertus – wenn Sie wollen beim Herrgott selbst, er senkt den Kopf und läßt die Kugel daran abprallen!«
»Nein!« entfuhr es Simone.
»Doch! So wahr ich hier vor Ihnen sitze!«
Sie saß da und starrte mit offenem Mund, zu unglaublich war diese Geschichte, doch Gondt erzählte sie mit einem solchen Ernst, einer solchen Inbrunst …
»Was dann geschah, begreife ich immer noch nicht,« fuhr Gondt fort und sah auf seine bandagierte Hand. »Völlig perplex lasse ich die Waffe sinken, glaube einem Trugbild aufgesessen zu sein. Die Füchsin ist natürlich über alle Berge, doch da sehe ich den Kater auf mich zu kommen, so schnell, wie ich noch keine Katze habe laufen sehen. Ich lade noch einmal das Gewehr durch, doch er ist bereits zu nah, Gernot jault auf und prescht in panischer Angst davon. Dann höre ich ein lautes Krachen und während ich noch zu Boden sinke, merke ich, dass mir dieser Teufelskater das Bein gebrochen hat! Stellen Sie sich das vor!«
Simone glotzte immer noch ungläubig.
»Und als wäre das noch nicht genug … sehe ich wie er sein Maul aufreißt … dann ein Schmerz wie Feuer an meiner Rechten … Er hat mir den Finger abgebissen! Sehen sie nur!« Er hielt Simone die dick verbundene rechte Hand hin mit dem dunkelbraunen Fleck wo sich der Zeigefinger befunden hatte …
Gondt atmete heftig, die Erinnerung hatte ihn mitgerissen.
»Und nun bin ich auf der Suche nach demjenigen, der meinem Gernot und mir dieses Unaussprechliche angetan hat.«
Er sah die schweigende Simone an, dann trank er seine Tasse in einem Zug leer und setzte sie geräuschvoll auf dem Tisch ab.
»Nun, ich bin Ihnen lange genug zur Last gefallen. Danke vielmals dass Sie sich meine ungeheuerliche Geschichte angehört haben, doch nun muss ich los. Ich werde diesen Unhold zur Strecke bringen, koste es, was es wolle!« Er stützte sich auf den Tisch und die Stuhllene, griff nach seinen Krücken, als er sicher stand.
Simone riss sich aus der Erstarrung, in die Gondts unglaubliche Geschichte sie versetzt hatte. War der Mann verrückt? Was war Jägerlatein? Was Wahrheit? Doch der Verband, seine Beinschiene …
Er humpelte bereits in den Flur vor der Küche. Jetzt erst konnte Simone aufstehen, um ihm die Tür zu öffnen. Im Flur sah sie ihn mit dem Rücken zur Tür stehen, wie versteinert. Die Augen vor Entsetzen geweitet starrte er sie an.
Sie sah an sich hinab »Was …?« fragte sie. Gut, Andreas mäkelte oft genug über ihre Farbauswahl, aber
so schlimm konnte es nun auch nicht sein – da fiel ihr auf, dass Gondt nicht sie, sondern etwas, das sich hinter ihr befand anstarrte. Sie fuhr herum.
»Heinrich, mein Kleiner!« rief sie erfreut, als sie ihren Kater sah, der fragend, mit schiefgelegtem Kopf den totenblassen Gondt musterte.
»Das … Das ist er! Das
Teufelsvieh! Halten Sie ihn mir vom Leib!« rief er mit einem hysterischen Unterton in der Stimme, schien sich durch die geschlossene Tür nach draußen drücken zu wollen.
»Jetzt beruhigen Sie sich mal wieder, das ist nur mein Heinrich …« sagte Simone während sie sich bückte, um ihren Kater auf den Arm zu nehmen.
»Das ist ein Monster! Sie beherbergen ein Monster unter Ihrem Dach! Eine menschenfressende Bestie!« schrie er mit kippender Stimme, hatte zitternd, aber nichtsdestotrotz rasend schnell die Tür aufgerissen und versuchte nun eilig, ohne dabei Heinrich aus den Augen zu lassen, mit den Krücken und der Beinschiene rückwärts das Haus zu verlassen.
Gerade als sie sich wieder dem hysterischen Jäger zuwenden wollte, erklang ein lautes Poltern und Klappern, dann ein schmerzerfüllter Schrei – er war die Stufen vor dem Haus hinabgestürzt.
Der Lärm erschreckte Heinrich, er sprang von Simones Arm und brachte sich in der Küche in Sicherheit. Simone lief zu Gondt, der wie ein Käfer auf dem Rücken lag und ohne den Blick von der Tür zu wenden nach seinen Krücken tastete.
»Haben sie sich verletzt? Soll ich einen Arzt rufen?«
Er biss die Zähne zusammen »Nein, ich bin unverletzt, aber halten Sie mir dieses Vieh vom Leib!«
»Aber das ist nur mein Kater, der süßeste, liebste…«
»Denken Sie was Sie wollen – ich weiß, was ich gesehen habe!«
Er drehte sich, versuchte auf alle Viere zu kommen und sich an seinen Krücken aufzurichten. Heinrich spähte vorsichtig nach draußen.
»Jetzt machen Sie aber mal 'nen Punkt! Sie wollen mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass Heinrich mit dem Kopf eine Kugel abgefangen hat! Oder dass er Ihnen das Bein gebrochen hat!«
Simone hatte ihm aufgeholfen, und überraschend schnell hatte Gondt seinen Wagen erreicht, nun suchte er in seinen Taschen fahrig nach dem Schlüssel.
Ihr Blick fiel in den Laderaum des Geländewagens, der mit alten Decken ausgelegt war und durch ein Netz aus kräftigen Nylonschnüren vom übrigen Wageninneren abgetrennt war. Dort saß ein Dackel, der sich mit großer Hingabe das Geschlechtsteil leckte. Der Hund sah auf. Irritiert bemerkte sie, dass er sie
anstarrte. Und zwar nicht, wie ein Hund normalerweise einen Menschen musterte … Aus irgendeinem Grund fiel ihr plötzlich wieder ein, dass sie unter dem Bademantel nur ein dünnes Hemdchen mit Spaghetti-Trägern und einen Schlüpfer trug …
War das Einbildung, oder lagen da tatsächlich galoppierender Wahnsinn und Geilheit in seinen Augen? Die Zunge, die aus dem hechelnden Maul hing, wurde länger und länger, zäh troff der Speichel von den Lefzen… Sie wandte sich ab.
»Sie sollten mal einen Arzt aufsuchen«, meinte Simone beunruhigt, »Vielleicht auch mit Ihrem Hund.«
Zittrig schloss er die Wagentür auf, zwängte sich eilig in das Fahrzeug und knallte die Tür zu. Sie merkte ihm an, dass er sich jetzt etwas sicherer fühlte. Dabei sah er noch einmal zurück zur Haustür, hinter der Heinrich vorsichtig hervorlugte.
»Ich bin kein Weichling aus der Stadt!« sagte Gondt laut.
»So einen Arzt meinte ich auch nicht.«
»Sie glauben, ich bin verrückt? Glauben Sie das?«
»Ääh …« begann Simone.
»Ich schwöre Ihnen
so war es und nicht anders! Wie sonst bin ich wohl zu dem Gipsbein und dem Verband gekommen? Wie?«
»Sie sind über Ihre Flinte gestolpert?«
Sie reichte ihm die Krücken, die er in seiner Eile an den Wagen gelehnt und vergessen hatte. Er zerrte sie ihr förmlich durch das Fenster aus den Händen und warf sie auf den Beifahrersitz.
»Machen Sie sich nur über mich lustig!« rief er erbost, »Ich weiß was ich gesehen habe! Er ist auf mich losgegangen und hat er mir das Bein gebrochen! Er … er ist einfach dagegengerannt! Und als ich am Boden liege, hat er mir den Finger abgebissen! Ich seh' ihn noch vor mir wie er sein Maul aufreißt! Und dann hat er sich über meine Waffen hergemacht! Hier, sehen Sie …« er riss ein paar Holz- und Plastikteile vom Beifahrersitz und hielt sie Simone vor die Nase. Sie erkannte etwas, das aussah wie der Griff eines Gewehrs und einige andere Teile, die sie nicht zuordnen konnte.
»Das lag heute morgen an der Stelle wo ich angesessen habe! Alles Metall ist weg – einfach
weg!«
Er startete den Motor.
»Ich behalte ihr Katzenvieh im Auge! Da können Sie Gift drauf nehmen!« rief er.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht legte er einen Gang ein und raste davon.
Verwundert sah Simone dem aufheulenden Geländewagen hinterher.
Heinrich lugte in sicherer Entfernung hinter der Eingangstür hervor, betrachtete das Spektakel und staunte.
Pass' auf die Kaninchen hier in der Gegend auf, und auf Chantal, die Füchsin. hatte er seinem Doppelgänger gesagt. Der Roboter hatte mit einem lapidaren
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