Edith und ich und die Bäume
Das Kunstangebot der Einrichtung gab es zweimal die Woche. Meist wurde ein Thema nur lose vorgegeben und die Teilnehmer konnten entscheiden, wie sie es umsetzen möchten.Diesmal war es anders. Jedem wurde ein Blatt Papier gegeben. Wir sollten bitte alle einen Baum malen. Auch Edith bekam ein Blatt und wurde gebeten, diesmal mitzumachen. Anfangs zierte sie sich, aber als der strenge Blick des Lehrers traf, griff sie gehorsam zu den Stiften.
Es herrschte Ruhe im Raum. Edith saß wie meistens neben mir, es hatte sich irgendwie eine lose Beziehung ergeben, immerhin waren wir Zimmergenossinnen.
Sie kritzelte konzentriert mit der rechten Hand während sie den linken Arm nutze, das Blatt Papier vor dem Blick der anderen zu schützen. Ich grinste kurz und überlegte dann, wie ich einen Baum malen könnte. Noch während ich nachdachte, wendete Edith ihr Blatt, so dass die Zeichnung nicht zu sehen war und griff zufrieden zu ihrem Strickzeug.
Mit groben Strichen zeichnete ich einen dicken Stamm, so dick, dass für die Baumkrone kein Platz auf dem Papier mehr war. Mein Bild zeigte nur den Stamm.
"Wir sollten einfach oben ein weiteres Blatt ansetzen - Ihrem Baum fehlt ja sonst die Hälfte", schlug der Kunst-Therapeut vor.
Also klebten wir ein zweites Papier an und ich malte eine riesige Baumkrone aus wirren grünen Schlenkern.
"Du kannst so schön zeichnen. So kraftvoll. Ich wünschte ich könnte das auch". Edith schaute bewundernd auf mein Gewirr aus braunen und grünen Strichen.
"Naja - nen Shagall ist es nicht.. - Zeig mir deins mal, wenn du magst..."
"Ich kann einfach nicht malen.", zögerlich drehte sie ihr Blatt um.
Mit wenigen schwarzen Strichen kindlich gemalt, sah man in der Mitte des Blattes etwas kleines, dass eher an einen Stengel mit kleiner Wolke obenauf erinnerte. Es hatte etwas liebloses.
"Du könntest es farbig machen oder lass dir nochmal ein Papier geben und probier es nochmal", schlug ich vor.
"Nein - ich lasse es jetzt so. Ich kann es nicht und der Schal muss auch fertig werden", wiegelte Edith ab und griff wieder nach Ihrer Stricktüte.
Später wurden die "Werke" der Teilnehmer an eine Wandtafel geklebt. Wir standen davor und diskutierten, lobten und kritisierten munter.
Einige hatten ganze Landschaften - erstaunlich oft Winterlandschaften - um ihren Baum gemalt, der allein zwischen Bergen und Flüssen stand.
Mein riesiges Ding, doppelt so groß und in wilden Farben stach mir unangenehm raus. Edith hatte fast Tränen in den Augen, als alle Bilder besprochen wurden und nur über ihr eigenes fast keiner ein Wort verlor.
Später rollten jeder seine Zeichnung zusammen und nahm sie mit. Edith zerriss ihre.
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Kurzgeschichten: Edith