Edith
Edith war meine Zimmergenossin während eines Klinik-Aufenthalts im letzten Sommer. Edith war knapp über 60. Eine bäuerliche Figur zwängte sich in bonbonfarbene Blusen und grauen Faltenröcken unter denen grellweiß die Thrombosestrümpfe hervorlugten. Das graue Haar wurde abends mit 4 Lockenwicklern aufgedreht und jeden morgen akkurat in Form gelegt.
Edith war bekennende Christin und betete jeden Abend und auch vor jedem gemeinschaftlichen Essen demonstrativ und laut. Nach dem Aufenthalt hier, will sie eine Selbsthilfe-Gruppe für drogenabhängige Christen eröffnen - echter Glaube könne Wunder vollbringen - erzählte sie mir einmal Abends.
Tagsüber gab es verschiedene Kurse - von Meditation und Wassergymnastik bis Kunst.
Ich mochte das Kunstangebot und Wassergymnastik war bei der Hitze eine willkommen Abkühlung. In Kunst strickte Edith auf eigenen Wunsch an Schals aus bunter Polyacrylwolle. Wassergymnastik war für ihr Alter nicht schicklich und sie brauchte ja auch so lange um die Strümpfe an- bzw. auszuziehen.
Edith und ich teilten uns das Zimmer mehrere Wochen.
Abends strickte sie und ich las. Wir hatten nicht viel gemeinsam - meistens schwiegen wir, die wenigen Gespräche waren seltsam.
"Warum kriegst du eigentlich nie Besuch? Du bist doch noch jung und hast sicher eine Familie..."
Ich legte mein Buch beiseite und erwiderte zögerlich "Ist nicht ganz einfach. Mein Mann ist gestorben und meine Kids werden von meinem Bruder in Hamburg versorgt solange ich hier bin."
"Ach? Du bist Witwe?", sie schaute kurz vom himmelblauen Gestrick auf. "Glaub mir, das Schlimmste, das einer ordentlichen Frau passieren kann, ist eine Scheidung. Mein Mann hat mich betrogen! Diese Schande möchte ich keinem zumuten."
"Ja - Scheidung - das ist echt schlimm...", ich griff meine Zigaretten und ging über die Terassentür in den Garten. Es war früher Abend. Die Hitze des Tages lag noch spürbar in der Luft.