Nemesis - wie alles begann
Die Sonne senkte sich über die Ödnis von Savannah, als Frans sich auf die Stufen der Veranda setzte und langsam damit begann, einen Joint zu drehen. Im Hintergrund hörte er das Schluchzen seiner Mutter. Er hasste es, dass sie sich immer wieder aufs neue Leid zufügte, indem sie stundenlang vor dem Fernseher saß und sich Kriegsberichte ansah.
Auch wenn sie noch so oft auf Atompilze starrte, sich von der Kraft ihres zerstörerischen Anblicks hinreißen ließ, so würde es seinen Großvater auch nicht zurück bringen.
Einerseits widerte ihn dieser Masochismus an, er konnte es kaum erwarten endlich zum Studium nach Harvard zu gehen, andererseits hegte er ein reges Interesse an der schier unbegrenzten Manipulierbarkeit seiner Umgebung hier in Savannah. Alles war so unglaublich klein hier. Im Geiste, wie auch im räumlichen Sinne. Er nahm einen tiefen Zug, inhalierte das Gras und starrte auf den Rasen der Nachbarn. Das feucht glänzende Grün würde er auch nicht vermissen und mit Befriedigung stellte er fest, dass außer seiner Mutter nichts ihn wohl je wieder hierher zurück bringen würde.
Nach einer Weile war es still im Haus. Noch drei Tage, dann würde das beginnen worauf er sich schon seit er denken konnte freute - sein Leben.
Frans hatte sich schon immer für die Verhaltensmuster seiner Umwelt interessiert, als stiller Beobachter die kleinen und größeren Dramen in seiner Umgebung verfolgt und seine Schlüsse daraus gezogen. Etwas anderes als Psychologie zu studieren, kam nie für ihn in Frage. Seinen Mitschülern war er oftmals ein Rätsel, seine analytische Haltung gegenüber allem, schien ihnen in vieler Hinsicht suspekt. Eigentlich war ihm das auch immer lieber und so empfand er die Ruhe bei einem Joint meist als vergnüglicher, als die Gesellschaft belangloser Menschen, die nicht weiter dachten, als zur nächsten Party.
Er drückte den Joint aus und ging ins Haus. Es war bald vorbei.
Die ersten drei Semester gingen so schnell vorüber, dass Frans kaum Zeit damit verbrachte, an Savannah zu denken. Alles war weit weg, das Klima an der Ostküste empfand er als weitaus angenehmer und das Leben an einer Eliteuniversität hatte darüber hinaus einen ganz besonderen Reiz. Dass er überhaupt hier war, hatte er seinem Professor auf dem College zu verdanken, welcher seine Leistungen nicht nur gefördert hatte, sondern darüber hinaus auch exzellente Beziehungen zu einem Mitglied des hier ansässigen Gremiums pflegte, welches über die Vergabe der Stipendien zu entscheiden hatte. Er war der einzige, dem er von Zeit zu Zeit eine Postkarte schickte.
Seine Mutter besuchte er kein einziges Mal. In den Ferien gab er stets vor arbeiten zu müssen, um sein Leben hier finanzieren zu können.
Sie war ihm schlichtweg egal, wie er mit einer gewissen Verwunderung feststellte.
Im Herbst 2007 lernte er Damian kennen. Er hatte ihn schon öfters auf dem Campusgelände gesehen, aber nie mit ihm gesprochen. Seinem Vater gehörte eine große Firma, von welcher er lediglich wusste, dass sie sich in der Biochemie und Bionik einen Namen gemacht hatte. Im Grunde genommen war Damian das genaue Gegenteil von Frans und mit einer gewissen Verwunderung nahm er zur Kenntnis, dass dies wohl genau der Grund war, weswegen dieser sich ebenfalls von ihm angezogen fühlte. Eines vormittags, Frans saß gerade in einem Café in der Nähe der Uni, kam Damian plötzlich auf ihn zu und setzte sich neben ihn.
"Hi, ich bin Damian, du musst Frans sein. Habe schon von dir gehört. Professor Highnes ist ja ein richtiger Fan von dir." mit einem Lächeln streckte er seine Hand aus. Frans las gerade einen Artikel über Traumata-Forschung und war ein bisschen verwirrt, als er plötzlich diese Hand sah, die sich ihm so offen anbot.
"Hi, freut mich. Ich bin Frans van Keepen. Studierst du auch bei dem Alten?"
Damian lachte.
"Nein, ich bin von der anderen Fraktion. Ich studiere Medizin, genauer gesagt ist es mein Ziel Chirurg zu werden. Den "Alten", wie du ihn nennst, kenne ich nur durch meinen Vater."
Frans war zwar aus seinen Studien gerissen, aber irgendwie bedauerte es keineswegs, denn Damian war der erste Mensch auf dem Campus, der sich ganz offen um eine Unterhaltung mit ihm bemühte.
"van Keepen ist irgendwie ein eigenwilliger Name." meinte Damian und wollte wissen woher er kam.
Frans erklärte ihm, dass sein Großvater, der im Krieg umgekommen war seinerzeit aus den Niederlande nach Amerika kam und sich dort eine bescheidene Existenz aufgebaut hatte.
Sie unterhielten sich noch einige Stunden, bis Damian ihn einlud, ihn am Wochenende zu besuchen. Frans sagte zu.
Im Gegensatz zu Frans wohnte Damian nicht auf dem Campus, sondern hatte eine recht attraktive Wohnung am Rande der Stadt. Die Tatsache, dass er Sohn reicher Eltern war, war etwas, was Frans irgendwie neidvoll berührte, er verbarg seinen Argwohn jedoch, als er zwei Tage später gegen acht Uhr abends an seiner Tür klingelte.
Eine junge Frau öffnete ihm. Sie hatte schulterlanges, dunkelbraunes Haar und auf ihrem Gesicht schimmerte ein goldiger Braunton.
"Hey! Du musst Frans sein, Damian hat mir bereits von dir erzählt. Komm rein." lächelnd nahm sie ihm den Mantel ab und Frans nahm einen dezenten Geruch von weißen Blüten wahr.
In diesem Moment erschien auch schon Damian. Fröhlich begrüßte er ihn.
"Frans! Wie ich sehe hast du meine Freundin Marie bereits kennen gelernt. Sie studiert auch in Harvard. Informatik - und die Kleine ist ein wahres Genie." er legte den Arm um Marie, die sich ein wenig wand.
"Glaub ihm kein Wort, Frans. Er will nur angeben. Ich bin eine ganz normale Frau und kein Genie."
Ihr kokettes Lächeln allerdings verriet, dass Damian mit dem, was er über sie gesagt hatte ihr durchaus schmeichelte.
Während im Hintergrund dezente Bluesrythmen eine stimmungsvolle Kulisse zeichneten, stand Frans zu späterer Stunde am Fenster und starrte mit einem Glas Cognac in der Hand in den Nachthimmel.
" Kaum zu glauben, dass da oben tausende von Satelliten in der Umlaufbahn kreisen, die unaufhörlich Daten hier runter schicken."
Er hatte nicht bemerkt, wie Marie sich neben ihn gestellt hatte. Ihr Lächeln, ihre ganze Art hatte eine betörende Wirkung auf ihn.
Doch sie war Damians Freundin und er hätte es als unhöflich empfunden, an diesem Abend mit ihr zu flirten.
Damian und Marie wurde seine besten Freunde in den kommenden Jahren. Irgendwann hatte er auch begonnen mit Marie zu flirten und stellte erstaunt fest, dass sie durchaus empfänglich für seine Avancen war. Was Frans dabei anfangs irritierte war, dass Damian bei diesen Anzeichen von so offensichtlich gegenseitiger Anziehung so gar nicht eifersüchtig wirkte. Im Gegenteil, er schien ihm geradezu grünes Licht zu geben, sich näher mit Marie einzulassen.
Frans war sich durchaus bewusst, dass Maries Interesse an ihm hauptsächlich sexueller Natur war, doch das störte ihn nicht im Geringsten. Er begriff schnell, dass sie besondere Vorlieben hatte, die den seinen in geradezu idealer Weise entsprachen. Sie liebte es, an den unmöglichsten Orten von ihm gefickt zu werden, oftmals auch in unmittelbarer Nähe von Damian.
Dies wiederum steigerte Frans' Faszination für ihn, denn womöglich hätte jeder andere dies als Erniedrigung empfunden. Sie teilten sich alles, den Whiskey, das Koks und Marie. Frans empfand zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie Zufriedenheit.
Sie studierten alle drei unterschiedliche Fächer und waren doch auf eine, wie Frans fand, eigenwillige Art darin verbunden, gemeinsame Erkenntnisse aus ihren Studien zu diskutieren.
Marie war eine unglaubliche Expertin wenn es darum ging, im Internet alles zu finden, was sie brauchte, schrieb eigene Programme, die ihr bei ihrer Suche behilflich waren und tüftelte darüber hinaus an einer neuen Form von Speichermedien.
"Irgendwann werden wir die Rechner in unserem Kopf haben" meinte sie eines Abends, während sie ein Glas Rotwein in der Hand hielt.
"Was genau meinst du damit?" fragte Frans.
Sie erklärte, dass sie seit längerem zusammen mit der Firma von Damians Vater an einer geeigneten Trägersubstanz forschte, die es ihnen ermöglichen würde, ohne Immunsuppressiva die körpereigenen Nervenzellen mit Speicherchips zu koppeln.
Sie erzählte, dass es ihnen gelungen war, eine silikonähnliche Materie aus Stammzellen zu schaffen, die bereits in ersten Tests an Tieren revolutionäre Ergebnisse zeigten.
"Aber was hat eine Ratte davon, wenn sie plötzlich ein Terabyte im Schädel hat und nichts damit anzufangen kann?" lachte Damian.
Doch dann wurde er ernst.
"Wie weit seit ihr noch davon entfernt, es an einem Menschen zu erproben?" wollte er wissen.
Marie erzählte, dass derartige Forschung völlig ausgeschlossen sei, egal welche Ergebnisse sie im Vorfeld errungen hatten. Es sei absolut illegal, was einerseits vielleicht sogar verständlich wäre, denn immerhin ginge es hier um das menschliche Gehirn.
"Scheiß drauf! In diesem Land legen sie der Forschung immer nur Steine in den Weg." meinte Damian wütend.
Dann sah er Frans eindringlich an.
"Frans, du kennst das Gehirn, Marie kennt sich mit Speicherchips aus und ich kann so einen verdammten Schädel öffnen. Warum probieren wir es nicht aus?"
"Spinnst du? Wir riskieren hier alle unsere Zulassung!" fiel Marie ihm fast ins Wort.
Frans überlegte. Er spürte wie die Vorstellung, derartiges zu erforschen, ihm heiße Wellen durch den Körper trieb. Wäre es wirklich möglich?
In dieser Nacht waren seine Gedanken so sehr mit diesen Bilder beschäftigt, dass er es zuerst nicht wahrnahm als Marie in sein Zimmer kam und sich neben ihn legte. Langsam zog sie ihn aus. Als sie ihn berührte reagierte sein Körper mechanisch. Wie durch einen Nebel drangen Maries Seufzer an sein Ohr, während sie ihn auf den Rücken drehte und sich auf ihn setzte. Er dachte nur noch an die Chips. Potenzierte Leistung des Gehirns. Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los.
Es raste in seinem Kopf und später konnte er nicht mehr sagen, ob es Maries Zunge gewesen war, oder die Vorstellung von Synapsen, die sich um eine Speichereinheit schmiegten, was ihn zum explodieren brachte.
Er packte Marie an den Schultern und sah sie an. Seine Augen brannten.
"Wir müssen es einfach versuchen."
Sie lächelte.
" Ich habe gewusst, dass du das sagen wirst. Damian freut sich bereits darauf. Sein Vater wird ihn wie immer unterstützen."
Sie drehte sich um, setzte sich auf den Rand des Bettes und er sah wie ein kaltes Lächeln ihren Mund umspielte.
"Wir müssen nur noch das geeignete Forschungsobjekt finden."
Da wusste er noch nichts von einer Perlentaucherin, die ihnen in die Arme fallen sollte. Ahnte nicht, dass ihr gemeinsamer Wunsch schon bald in Erfüllung gehen sollte.
Es war die Nacht, die alles änderte.