Fr, 1. Mai 2015
Wie soll ich anfangen? Ich soll nichts löschen oder durchstreichen. Dies soll ein therapeutisches Tagebuch sein, nur für mich, mir helfen, herauszufinden, wer ich bin. Nur ich soll es lesen, nächste Woche, in zehn Jahren, vielleicht nie. Ich soll über mich schreiben, jeden Tag, über meinen Tag, aber nicht bloß, was ich gegessen habe oder gekauft, sondern, was ich über mich gedacht habe, erlebt habe, dass mich zum Nachdenken gebracht hat, und das war heute natürlich der Auftrag, dieses Tagebuch zu führen.
Ich habe eine Therapie begonnen, nicht, weil es mir psychisch wirklich richtig schlecht geht, aber eben auch nicht gut. Weil ich mich falsch fühle, fremd im eigenen Leben; so, als täte ich, was ich gerade tun soll, nach den Gegebenheiten, in die ich mich selbst gebracht habe, aber letztlich nicht weiß, warum; weil ich nicht weiß, wer ich bin. Das sei vermutlich keine echte Depression, meinte der Therapeut - nicht mal zu so viel Klarheit bin ich offenbar mir selbst gegenüber in der Lage - sondern eher ein philosophisches Problem. Na toll!
Ein Philosoph bin ich nämlich gerade nicht, also einer, der ständig über Gott und die Welt nachdenkt und sich selbst erkennt. Aber gut, es ist ja mein Wunsch, mich selbst zu erkennen, also ist es vielleicht kein schlechter Vorschlag des Therapeuten, quasi zum Philosophen zu werden. Wenn ich nur wüsste, wie das geht. Vielleicht finde ich das ja heraus über das Schreiben. Schreiben kann ich, hat man mir immer wieder gesagt, meine Eltern, meine Lehrer, und daher studiere ich ja auch Jura. Wenn ich naturwissenschaftlich begabt wäre, würde ich wohl Medizin studieren.
Und als Juristin gehe ich Texte eigentlich eher systematisch an. Soll ja auch Philosophen geben, die das machen. Auf jeden Fall kann und möchte ich nicht intuitiv schreiben. Muss ich auch nicht, sagt der Therapeut. Gut, also systematisch: Wer bin ich? Bisher habe ich nur geschrieben, dass ich eine psychisch kranke Jurastudentin bin, na prima! Also gut, in Deutschland geboren, in den USA lebend, genauer gesagt, in New York, der Stadt meiner Träume. Zudem arbeite ich als Model. Das ganze ist wohl in mehrfacher Hinsicht der Traum vieler Mädchen. Und doch bin ich so unzufrieden, dass ich dieses Tagebuch führen muss, oder soll ich sagen, undankbar?
Warum bin ich nicht von allein glücklich darüber, ein Leben zu führen, von dem andere, und auch ich selbst, träumen? Ich bin groß und schlank, habe naturblonde lange Haare und noch nie eine Diät gemacht, weil ich mich gerne gesund ernähre: viel Gemüse, keine Süßigkeiten; und ich laufe jeden zweiten Tag zehn Kilometer. Ich werde offenbar als so gutaussehend empfunden, dass Modefirmen mit mir werben wollen, und kleide mich modisch, aber eher unauffällig von casual bis elegant, passend zu meinem Studienfach.
Ich habe ein gutes Abitur gemacht, mit Bestleistungen in den sprachlichen Fächern, und wird nicht allen braven Mädchen mit solchen Noten ein Jurastudium vorgeschlagen? So haben das auf jeden Fall meine Eltern und Lehrer gemacht, und mein eigener Anteil an der Entscheidung war es, das Studium in New York zu machen, einfach, weil ich schon immer hier hin wollte. Wegen Hollywoodfilmen und Bildern und dem ganzen Image der Stadt. Ich war keines der Mädchen, die ein eigenes Pferd wollten oder ihren Traummann heiraten. Ich wollte in New York leben, und da bin ich nun, am Ziel meiner Träume und doch unglücklich.
Klar, vielleicht deshalb, weil ich hier noch keine richtigen Freunde gefunden habe, aber das allein ist es nicht, denn zum einen ist da ein nettes Pärchen aus Schweden, dass auch für das Jurastudium hier hin gezogen ist, und sich freut, mit mir eine andere Europäerin treffen zu können, und zum anderen frage ich mich, ob ich überhaupt je "richtige" Freunde hatte. Meine Freundschaften erscheinen mir im Nachhinein als so oberflächlich. Und meine deutschen Freundinnen melden sich zwar immer wieder per Internet, aber das macht diese Freundschaften nur noch oberflächlicher.
Hm, das sind alles nur Ansätze, aber ich soll Tempo und Plan ja hier ganz frei bestimmen. Und eine Seite pro Tag soll genügen. Die habe ich jetzt - Aufgabe erfüllt - also dann: Bis morgen, "liebes Tagebuch", pah!