Sternschnuppe
Der Wind wehte ein paar aufgewirbelte Schneeflocken durch die lange, gerade Schloßstraße. Die Luft war kalt genug, um jedem Spaziergänger die Tränen in die Augen zu treiben und nach fünf Minuten einen „Rudolph-the-red-nose-reindeer“-Zinken ins Gesicht zu zaubern. Ronny kam aus der „Blauen Maus“ und schlug den Kragen hoch, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Ein Sattelschlepper donnerte an ihm vorbei, während er überlegte, ob er noch runter zum Strandhotel gehen sollte oder – ja, wohin sonst?
Es war gerade mal 21.00 Uhr, irgendwo sollte man doch noch seine Knochen wärmen können und ein letztes Bier bekommen. Die Weihnachtsfeier war vorbei, sie hatte schon mittags begonnen, denn in der Regel wollten die Wirte hier in der Region spätestens um 22.00 Uhr ihre Türen schließen. Runter zum Anleger, wo sich im Sommer die Freunde der Nacht trafen, konnte er auch nicht gehen, der war um diese Jahreszeit dicht.
Noch während er überlegte, vernahm er Geigenklänge, die aus Richtung des Marktplatzes zu ihm herüber wehten. Trotz des Straßenlärms der vorbei brausenden Autos, die den Schneematsch geräuschvoll mit Sand und Streusalz zu einer braunen Soße vermischten, konnte er sie deutlich hören. „Das schau ich mir mal an“, dachte er sich. „Dort ist auch die Hotelbar. Wenn genug Touristen da sind, gibt’s da auch noch was zu trinken“. Er ging weiter auf dem engen Bürgersteig. Autos, Busse, Lastwagen donnerten an ihm vorbei. Überall entlang der Straße hingen selbstgemalte Schilder der Anwohner:
„Verlegt die 198“, „Wie lange noch“, „Ungehung jetzt“, „Rettet die Schloßstraße“, „Umgehung B 198 – wann?“. Der Verkehr war wirklich unerträglich, selbst um diese Uhrzeit noch. Ronny stapfte entlang des viel zu schmalen Gehsteigs zwischen typisch mecklenburgischen Häusern: Erdgeschoss, Dachgeschoss, in Reih und Glied aufgestellt. Manche noch im alten Ost-Grau, manche rausgeputzt und modernisiert, manche dem Zerfall preisgegeben. Nur nicht über eine der alten, schiefen Betonplatten stolpern. Pass auf, Ronny!
Am Marktplatz hockte ein verwahrlost wirkender Geigenspieler. Gekleidet in einem dunklen, angeranzten Mantel, über den ein grauer Bart hing. Er spielte die Geige mit grauen Wollhandschuhen, welche die Fingerspitzen frei ließen. Die Augen des Mannes hatten dunkle Ränder, aber sie leuchteten seltsam von innen, als hätte jemand eine Kerze hinter ein Milchglas gestellt. Ronny lauschte den Klängen. Da war nur eine Geige. Sonst war niemand da. Doch in seinem Kopf halten die Klänge wieder, als sänge ein ganzer Chor zum einfachen Geigenspieler dieses offenbar Obdachlosen. Ronny war verwirrt und fasziniert. Er war zwar leicht beschickert von Sekt und Bier auf der Feier, aber er hatte nicht übermäßig getrunken. Eigentlich trank er seit Jahren nicht mehr, aber als Chef eines Bauunternehmens musste man zu solchen Anlässen den einen oder anderen Kelch stemmen. Dabei war ihm gar nicht nach Feiern zumute, was ihn heute dazu veranlasste, doch noch einen weiteren Zapfhahn zu suchen, der ihm flüssigen Trost spenden könnte.
Ronny blieb vor dem Clochard stehen. Er lauschte seiner Musik. Warm, vibrierend, erfüllend – als wären Heerscharen von Himmelsboten auf dem Marktlatz versammelt. Er kramte in seiner Manteltasche und warf ihm einen Zehner in den Hut.
„Vergelt´s Gott“ sprach der Geigenspieler und beendete sein Spiel mit einem sanften Ton.
„Das war toll. Wirklich schön. Ich dachte, ich höre ganze Chöre“, bemerkte Ronny.
„Dann bist du ein guter Mensch!“ Der alte Mann lächelte Ronny an.
„Ich? Ein guter Mensch?“ Ronny lachte bitter auf.
„Komm, wir gehen ein Stück gemeinsam. Ich habe noch einen Auftrag zu erfüllen“, sagte der Geigenspieler und nahm Ronny am Arm. Diese merkwürdig vertraute Geste störte Ronny nicht, obwohl er sonst Fremden gegenüber sehr zurückhaltend war.
„Ich bin bestimmt kein guter Mensch. Gerade habe ich die Weihnachtsfeier hinter mich gebracht. Wenn die Geschäfte weiter so schlecht laufen, muss ich nächstes Jahr Leute entlassen. Ich bin zu feige, es ihnen zu sagen.“
„Sei ohne Sorge, deine Leute spüren deinen Kummer, sie sind dir nicht böse.“
Ronny stellte sich gar nicht die Frage, woher der alte Mann das wissen konnte. Vermutlich war er irgendein Psychologe, der in seinem Leben gescheitert war und nun als Geigenspieler durch die Straßen tingelte. Oder so ein esoterischer Guru, davon hörte er oft, denn Ronnys Frau beschäftige sich gerne mit spirituellen Themen.
Ronny wollte Kummer und Sorgen loswerden, während sie ein paar Schritte gingen. Das Getöse der Straße war wie ausgeblendet.
„Heute Mittag habe ich mich mit meiner Frau derart heftig gestritten, dass ich mich fragen muss, ob Weihnachten dieses Jahr ausfällt. Diese ganze Geschichte mit Liebe, Jesus und Engelchen. Ich habe den Glauben daran verloren…“
„Würdest Du denn einen Engel erkennen, wenn Du ihm begegnen würdest?“, schmunzelte der alte Mann.
Ronny überhörte die Frage und erzählte weiter:
„Zu meinen Geschwistern ist der Kontakt abgebrochen. Zu viele Streitereien um das Erbe nach dem Tot unserer Eltern. Alle meine alten Freunde haben nach der Wende früher oder später die Koffer gepackt. Vielleicht liegt es an mir, das ich hier alleine zurück bleibe. Kein Hahn würde nach mir krähen, wenn ich jetzt einen Spaziergang über den See mache, bis ich im Eis einbreche…“
Der alte Mann zupfte ihn freundschaftlich am Ärmel:
„Komm schon, bist du wirklich so sicher, nie etwas Gutes in deinem Leben bewirkt zu haben? Glaubst du wirklich, dass es keinen Menschen gibt, der dir dankbar ist?“
Er legte Ronny eine Hand in den Nacken und flüsterte ihm ins Ohr: „Denk nach!“
Ronny erschrak. Muss ich jetzt sterben? Er hatte oft davon gehört, dass Menschen im Todeskampf das Leben an sich vorbeiziehen sehen. Bilder blitzen vor ihm auf:
Da war das vietnamesische Mädchen in der dritten Klasse, Kind eines „ausländischen Werktätigen“, für das er sich damals prügelte, weil die anderen Mitschüler das „Schlitzauge“ hänselten und quälten.
Die Silvester-Party am See in Teenager-Alter, wo er den eingebrochenen dicken Egon mit Hilfe von Freuden mittels einer Leiter aus dem Eis zog.
Die Zeit nach der Wende, als er den alten VEB-Wohnungsbau übernahm, nach dem sich die alten Chefs abgesetzt hatten. Gegen alle Widerstände hatte er den Betrieb wieder aufgebaut, denn er ahnte, dass der Tourismus an der Mecklenburgischen Seenplatte boomen wird und bald neue Häuser gebraucht werden. Er hatte damit viele Leute in Lohn und Brot gebracht und immer versucht, ihnen gerechte Löhne zu zahlen, weit über den in dieser Gegend immer noch viel zu niedrigen Einkommen.
Langsam verblassten die Bilder. Ronny hörte fröhliches Kindergeschrei. Auf dem Marktplatz lieferte sich eine handvoll Kinder eine Schneeballschlacht. Hier war die einzige Fläche, wo genug sauberer Schnee lag, um sogar in der Mitte einen Schneemann, mit altem Suppentopf als Hut und Kronkorken für Augen, Mund und Knöpfe zu bauen. Als Nase diente eine dieser modernen, blinkenden Fahrradlampen, deren Batterien trotz der Kälte noch funktionierten.
Ronnys Aufmerksamkeit wurde auf ein kleines Mädchen gelenkt, das vor den Schneeballangriffen der anderen Kinder lachend auf der Flucht war. Es rannte vom Marktplatz weg und hielt sich die Hände vor das Gesicht, welches schwer von Schneebällen getroffen war. Plötzlich war der Lärm der Straße wieder da.
Ronny schrie: „Hey, stopp, nicht weiter!“
Das Mädchen erstarrte, während ein 30-Tonner haarscharf am Straßenrand hupend vorbei donnerte, an dem das Mädchen bereits angekommen war. Die Kleine schaute Ronny ins Gesicht. „Wie ein Engel“, dachte Ronny. Ihr Gesicht begann zu leuchten, sie lächelte ihn mit einem Ausdruck an, der Ronny so viel Dankbarkeit spüren ließ, wie es tausend Worte von Erwachsenen nicht ausdrücken können. Ronnys Augen wurden feucht.
„Siehst du“, sagte der Geigenspieler mit einem verschmitzten Lächeln, „es ist gar nicht so schwer, wichtig zu sein.“
Ronny taumelte. Er bekam weiche Knie, der Boden unter seinen Füssen schien zu kippen. Mit einem Ruck zog ihn der Geigenspieler zurück auf den Gehsteig, wieder donnerte ein schweres Fahrzeug vorbei, vor das Ronny um ein Haar gestürzt wäre. Als er zurück gezogen wurde, viel er auf den Gehsteig, konnte sich aber rechtzeitig mit den Händen abfangen. Das kalte Nass von Schnee, Eis und Streusalz brannte auf seiner Haut.
Als er sich wieder aufrichtete, war der Geigenspieler spurlos verschwunden. Die Geige lag mitsamt Geigenbogen auf einer nahe stehenden Sitzbank. Ronny dreht sich hektisch in alle Richtungen, wo war der Mann hin? Er wollte sich wenigstens noch bei ihm bedanken. Er hätte ihn sogar zum Weihnachtsfest eingeladen – vorausgesetzt, er schaffte eine rechtzeitige Versöhnung mit seiner Frau. Nirgends konnte er ihn erkennen. Schließlich schaute er zum Himmel.
„Wie schön, jetzt darf ich mir auch noch was wünschen“, dachte er sich, als er eine Sternschnuppe erblickte. Dann viel ihm auf, dass diese Sternschnuppe nicht vom Himmel fiel, sondern nach oben aufstieg und dabei in keiner Weise zu verblassen schien. Irgendwie wurde sie sogar immer heller und strahlender, je weiter sie sich von der Erde entfernte. Ronny schaute dem Phänomen noch lange nach, bevor er sich in Bewegung setzte. Die Geige nahm er – geschützt unter seinem Mantel – mit auf den Weg.
Zuhause angekommen beobachtete er lange durchs Fenster seine Frau, die mit den Kindern den Weihnachtsbaum schmückte. Sie lachten und sangen dabei. Ronny liefen die Tränen über die Wangen, als er die Haustür öffnete.