Worst Case
„Es ist soweit. Operation Pfingstrose auf Go minus 3.24.“
Warum bin ich überrascht? Ich wusste, dass das passiert. Trotzdem stehe ich hier und bin überrascht. Den Liegestuhl kann ich vergessen. Draußen hämmert der Specht an der alten Blutbuche herum. Das Geräusch bringt mich in die Gegenwart. Ich spüre, wie Adrenalin in mir hochschießt. Der Organismus springt an, und ich beginne damit, die tausendfach trainierten Abläufe für den Worst Case abzuarbeiten.
Während der Rechner hochfährt, programmiere ich den Anrufbeantworter auf sofortige Aufnahme und spreche einen neuen Text auf. „Hallo Leute, ich brauche mal Urlaub. Versucht es ein anderes Mal erneut.“ Ich deaktiviere den Lautsprecher und ziehe den Stecker beim Fax. Anschließend logge ich mich ins soziale Netzwerk ein und stelle mein Profil auf „vorläufige Deaktivierung“. Anschließend unterbreche ich meine Zeitungsabos für jeweils eine Woche. Nun noch den Browser-Cache leeren. Outlook starten und das Autoreply „out of the Office“ aktivieren. Zum Abschluss lösche ich sämtliche Cookies, die sich auf dem Rechner angesammelt haben, fahre ihn herunter und unterbreche die Stromzufuhr.
Meine Onlineexistenz ist auf Eis gelegt. Mich durchfährt kurzes Bedauern, als ich daran denke, dass Morgentau_69 vermutlich die Welt nicht mehr verstehen wird. Aber es gibt wichtigeres als die Onlineberatung einer Transe beim Strumpfkauf. Konsequent schalte ich das Handy ab.
Mein Gehirn ruft die Checkliste automatisch ab. Ich lasse die Rollläden herunter. Mögen andere den Sommertag genießen, hier ist jetzt kein Platz für die Welt. Ich gehe ins Bad, stecke die Haare hoch und ziehe eine Haube darüber. Handschuhe an und los. Es ist an der Zeit, die Spuren zu tilgen.
Ich beginne im Arbeitszimmer. Blatt für Blatt wandern die Papiere in den Schredder, die sich auf dem Schreibtisch angesammelt haben. Leere Kekspackungen, Tassen mit kalten Kaffeeresten, alles was Spuren von DNA aufweisen kann, wird entsorgt. Systematisch wandern alle Verpackungen in die entsprechenden Müllbeutel, die Tassen in die Spülmaschine. Wohnzimmer, Schlafzimmer, Gästezimmer, Küche, Bad. Alles, was Aufschluss über meinen Charakter geben könnte, wird entfernt.
2.24 plus 12. Mitternacht. Ich bin im Plan. Es ist Zeit für eine Pause.
2.24. plus 6. Ein Klappern schreckt mich hoch. Die Zeitungsfritzen brauchen immer 24 Stunden bis die Abosperre auch beim Zusteller angekommen ist. Ich springe auf und schiele durch das Badezimmerfenster nach draußen. Wolkenloser Himmel verspricht einen sonnigen Tag. Ich gehe vor die Tür, entnehme die Zeitung und werfe sie in die blaue Tonne. Es ist zu früh, um den Rasen zu mähen. Ich schneide die Büsche im Vorgarten und bündele die Zweige für die Abholung. Morgen ist Strauchschnitt. Perfekt.
2.24. plus 2. Ich mähe den Rasen und fülle den Grasschnitt bis zum Anschlag in die grüne Tonne.
2.24. Meine Sommersprossen explodieren. Ich beschließe, im Haus weiterzumachen. Ich vermumme mich mit Einmaloverall und frischen Handschuhen. Zeit für die große Säuberung. Ich beginne im Obergeschoss. Systematisch arbeite ich mich durch sämtliche Räume. Die Waschmaschine ist im Dauereinsatz. Gardine für Gardine wandert wieder vor die frisch geputzten Fenster.
24. plus 12. Mitternacht. Ich brauche eine Pause. Eigentlich will ich nur ein Stündchen ausruhen, doch prompt nicke ich ein.
24. plus 8. Ich schrecke hoch. Draußen dämmert es bereits. Ich beschließe, den Kiesweg zu harken, bis es hell genug ist, die Fenster im Erdgeschoss zu reinigen.
24. plus 5. Das Einkaufscenter öffnet. Außer ein paar Bauarbeitern, die ihr Frühstück kaufen, ist noch niemand da. Ich arbeite die Liste ab. Operation Pfingstrose verlangt den Einsatz von Spezialwerkzeug. Konzentriert überprüfe ich, ob auch nichts fehlt.
24. plus 3. Ich bin um 250 Euro ärmer, aber sicher, nichts vergessen zu haben. Ab nach Hause, bevor ich mir auf dem Parkplatz einen Sonnenbrand hole.
24. plus 1. Ich setzte die große Säuberung im Erdgeschoss fort. So langsam nimmt es Formen an. Bis auf Küche und Bad sieht jetzt alles so aus, als würde ich nicht existieren.
24. Der Countdown läuft. Pünktlich aktiviere ich mein Handy und setze den Statusbericht per SMS ab.
23. Die klinische Säuberung des Gästebades beginnt mit dem Austausch des Duschvorhangs.
22. Ich bügle sämtliche Bett- und Tischwäsche sowie die Trockentücher und die Spitzeneinsätze von Slips und Unterhemden.
19. Sämtliche Wäsche ist akkurat gefaltet und farblich sortiert in den Schränken verstaut. Selbst ein Bundeswehrspieß fände hier keine Falten.
17. Ich beginne die klinische Säuberung des Kellers und unterdrücke den Impuls, das Altglas hinter dem Eingemachten zu verstecken.
16. Ich bin vom Altglascontainer zurück und reinige die Klappkiste.
12. Der Keller sieht aus, als hätte ihn noch nie jemand betreten. Lediglich die Waschmaschine arbeitet noch die letzte Kochwäsche ab. Die Putzlappen sind ja die reinsten Keimschleudern.
10. Die klinische Säuberung des Badezimmers beginnt mit einem Großangriff auf die Fugen.
8. Zeit für den Bombenbau. Die Küche wird zum Labor.
4. Ich aktiviere das Handy. Pünktlich erhalte ich eine SMS. „Alles im Zeitplan ist.“ Ich bestätige. „Dito“.
3. Ich greife zur Spritze und appliziere behutsam die giftgrüne Flüssigkeit auf der Oberfläche der Bombe. Sie erstarrt in Sekundenschnelle.
2. Ich hole die geleerten Mülltonnen vom Hof, schiebe sie in den Schuppen und schließe ihn ab.
1. Die Küche ist gereinigt und desinfiziert. Nichts erinnert mehr an die gerade geschlagenen Materialschlachten. Es ist Zeit für meine Verwandlung.
0.5. Ich nehme eine eiskalte Dusche unter dem Gartenschlauch, nachdem ich sämtliche getragene Einmalkleidung in der grauen Tonne versenkt habe und schlüpfe in ein hellbeiges Leinenkleid und farblich passende Sandalen. Im Schuppen greife ich in den bereit gestellten Beautycase und lege ein dezentes Tages-Makeup auf.
0.1 Ich höre ein Hupen an der Kurve. In Windeseile flitze ich in die Küche und hole die Bombe. Lächelnd stehe ich damit in der Haustür, als der Wagen vorfährt.
0.0. Philipp öffnet den Wagenschlag und hilft seiner Mutter beim Aussteigen. Ich stöckele die Treppe hinunter.
„Hallo, liebste Schwiegermama“, flöte ich fröhlich lächelnd und halte ihr die nach ihrem Rezept gebackene Weincremetorte mit der „Herzlich-Willkommen“-Beschriftung in grünem Zuckerguss entgegen.
Sie schaut an mir vorbei und kreischt, „Da liegt ein klatschnasses Badetuch neben dem Gartenteich.“
Nun ja… den Versuch war es wert.
© Sylvie2day, 13.06.2014