F220 Kapitel 6b „Dämonen“
Das erste was ich spüre, als ich wieder zu mir komme, ist der unglaubliche Schmerz in meinem Schädel - bohrend und pochend zugleich.
Der Gewehrkolben, den der elende Sünder gegen meine Schläfe geschlagen hat – ich erinnere mich.
Meine Gesichtsmuskeln zucken und ich spüre getrocknetes Blut an meiner Wange. Vorsichtig versuche ich, mich zu bewegen, doch zwecklos, ich bin mit meinen Hand- und Fußgelenken auf der Liege fixiert.
Blendend und schmerzhaft hell fällt grelles Licht von oben durch meine noch geschlossenen Lider und verstärkt den heftigen Schmerz noch. Elend ist mir, hilflos und gefangen genommen von meinem schlimmsten Feind bin ich, in die Falle getappt - wie eine Anfängerin!
Verzweifelt und zugleich wütend auf mich selbst, zerre ich wild an meinen Fesseln.
Ich muss nachdenken, wie ich hier herauskomme. Schließlich habe ich eine Mission zu erfüllen, die unbedingt erfolgreich sein muss – um jeden Preis.
Gott vergibt, der Prediger nicht!
Er verzeiht weder Fehler noch Schwächen. Das wichtigste für ihn ist der Erfolg seiner Sache! Das Training und die Schulungen, die meine Mitstreiter und ich durchlaufen haben, waren militärisch hart gewesen. Einige aus der Gruppe waren daran gescheitert – der Prediger hat sie bereits als Vorhut unserer gerechten Sache auf ihren blutigen Weg zum Herrn geschickt. Wir Übrigen mussten dabei zusehen - als Warnung, um uns der Konsequenzen eines etwaigen Misserfolgs gewahr zu werden.
Mein Magen knurrt erbärmlich, der Prediger verlangt vor einer Mission von uns ein mehrtägiges Fasten, um den Geist zu stärken.
Meine Lederkleidung ist durchnässt und ich zittere vor Kälte.
Verdammte Katze! Durch ihr Fauchen ist er erst auf mich aufmerksam geworden. Doch dieses kleine haarige Etwas, das mich mit großen glänzenden Augen so herzerweichend angeblickt hat, hat mir ein vergessenes Gefühl zurückgebracht – Mitleid.
Der Prediger hat versucht, es in tagelangen und schier endlosen Sitzungen aus meinem Kopf und Herzen zu vertreiben. Bis dato war er damit erfolgreich gewesen.
Diese Raubkatze ist eine bessere Mutter als ich, hämmere ich mir selbst ein, denn diese hat ihr Kind besser beschützt und auch gerettet. Ich habe als Mutter versagt, denn meine Kinder sind vor mir und unter furchtbaren Qualen gestorben.
Nichts, was ich versucht habe, hat geholfen.
Ich habe sie nicht retten können.
Angefleht habe ich den Herrn, mich doch auch zu sich zu holen, doch der Allmächtige verschmäht mich bislang.
Bilder aus glücklichen Tagen steigen als zusätzliche Qual vor meinem inneren Auge auf – ein gemütliches Sonntagsfrühstück mit dem voller Stolz präsentierten selbstgebackenen Rosinenbrot meiner Tochter, ausgeblasene Geburtstagskerzen auf einer Torte, Kinderlachen…
Alles ist wieder da - Trauer, das Leid und alle Selbstvorwürfe, die ich für eine Weile verdrängt habe.
Diese Zäsur ist derart schmerzhaft, dass es mir wie ein Stich mit stumpfer Messerklinge in mein Herz vorkommt.
Dann die Erinnerung an ihre kleinen toten Körper. Leicht, fast schwerelos waren sie gewesen – diese Szene steht mir so klar vor Augen als sei sie erst gestern gewesen.
Es war keiner mehr da, der meine Kinder hätte beerdigen können. So hatte ich sie einzeln auf meinen Armen in den Hof getragen und einen Scheiterhaufen errichtet.
Danach saß ich wie zu Eis erstarrt vor der noch glimmenden Asche.
Innerlich tot, vollkommen leer und nur noch mit dem einen Wunsch beseelt – ebenfalls zu sterben.
So hatte der Prediger mich vorgefunden. Er hatte die Totengebete für meine Kinder gesprochen, redete danach von einer neuen Weltordnung, die er erschaffen wolle, von Mitstreitern, die er suche und von den Sünden der Menschheit, die durch strenge Buße und unbarmherziges Läutern getilgt werden müssten.
Er hatte mich gesegnet und mich als Erste in seinen Unterschlupf mitgenommen.
Mit mir begann er sein Werk.
Du wirst meine Hand sein, die das Schwert gegen die Sünder führt. Du wirst meine Gerechtigkeit und meine Botschaft in die Welt tragen! Du wirst meine Lösung für diesen Fluch sein! waren seine Worte gewesen, die mein Leben in eine andere Bahn lenkten.
Schritte – ich hörte schwere Schritte auf dem Gang vor dem Zimmer, die mich aus meiner Erinnerung reißen. Ich spanne meinen Körper an, der Sünder kommt.
Wird er mich nun töten oder schlimmer noch - foltern?
Ich beschließe, mich zunächst noch bewusstlos zu stellen um mehr Zeit zu gewinnen.
Ich fühle seinen lauernden Blick auf mir, höre wie er etwas klirrend abstellt. Was hat er mit mir vor? Es kann nur etwas furchtbares sein, der Prediger hat mich vorgewarnt.
Dieser Sünder sei schlimmer als alle, die ich bereits erfolgreich geläutert habe. Er sei ein Dämon in menschlicher Gestalt und er würde mich im Falle einer Gefangennahme schrecklich quälen. Er hat mir eingeschärft, nichts zu verraten.
„Du kannst damit aufhören. Ich weiß, dass du wach bist“.
Verdammt, er hat mich durchschaut! Diesem Helfer Satans kann man nichts vormachen! Wut und indoktrinierter Hass flutet und erwärmt mich.
Ich öffne die Augen. Abscheu und eine Restangst stehen in meinen Blicken. Er antwortet verletzend und mit ebensolcher Abscheu auf meine verächtliche Reaktion.
Er verlangt meinen Namen zu erfahren! Wozu soll das gut sein?
Außerdem – welchen Namen meint er denn?
Meinen ursprünglichen Namen, den mir meine Eltern gaben oder den Namen, den der Prediger mir nach Abschluss des Drills in einer Art Taufzeremonie verliehen hat?
Hasserfüllt starre ich ihn an und mein Blick fällt auf das abgedeckte Tablett. Folterwerkzeuge – unter dem Handtuch müssen welche sein - Messer, Spritzen, Wahrheitsserum? Obwohl darauf vom Prediger vorbereitet, habe ich schreckliche Angst. Nicht vor dem Tod, sondern vor dem langen peinvollen Weg dorthin.
„Deinen Namen – na los, ich warte!“ sein Ton ist schneidend.
Ich sammele meine letzte Spucke im Mund und speie ihm verächtlich vor die Füße, gleichzeitig verrät mich mein laut knurrender Magen an den Feind.
„Ich kann warten“, meinte er lapidar und dann „ wenn du ihn mir verrätst, bekommst du etwas zu essen – gutes Happahappa!“ lockt er.
„Eher verhungere ich, als mit dir zu reden!“ ätze ich ihm entgegen.
„Süße, du hast doch gerade mit mir gesprochen!“ meint er süffisant.
Mistkerl!
Mein Körper schreit mit jeder Faser nach Nahrung, doch mein Wille muss fest bleiben! Er nimmt das Tuch ab und ich sehe wahre Köstlichkeiten auf dem Tablett.
Keine Folterwerkzeuge, nur wundervolles leckeres Essen.
Ich erinnere mich nicht, wann ich das letzte Mal so ein Festmahl genossen habe.
Das Wasser läuft in meinem Mund zusammen, und es erscheint mir als ob kleine Schmetterlinge in Vorfreude auf Speis und Trank in meinem Magen herumflatterten.
Hart bleiben – Nein! beschwört und ermahnt mein Geist das elende schwache Fleisch. Der Prediger hat Recht! Dieses sündige gierige Fleisch ist unser aller Schwachpunkt und Verderben.
„Ich kann dich auch in einen Käfig sperren und dich mit einem Dankesbriefchen für deine Hilfe an den Prediger zurückschicken!“ droht der Sünder nun.
Oh Gott im Himmel, dann würde ER glauben, ich hätte ihn und seine Sache verraten. Er würde mich grausam hinrichten! Ich spüre, wie das Blut aus meinen oberen Hautschichten weicht. Das ist die Wahl zwischen Pest oder Cholera!
Verzweifelt bin ich! Mein Auftrag, meine Mission, ich kann und darf doch nun nicht aufgeben! Vielleicht sollte ich so tun, als würde ich mitspielen, um Zeit und vielleicht sogar sein Vertrauen zu gewinnen?
Dann könnte ich vielleicht doch noch diese Mission erfolgreich beenden.
„Deinen Namen – jetzt – frank und frei!“ befielt er.
„Ich bin die erste Vollstreckerin von Gottes Armee!“ erwidere ich tonlos.
„Die erste? Das heißt, es gibt noch andere?“ bohrt er interessiert nach, "wie viele hat der verrückte Kerl um sich geschart? Sag es mir!“
„Ich bin die erste Vollstreckerin von Gottes Armee!“ wiederholte ich stur während mir der himmlische Essensgeruch in die Nase steigt.
Tantalusqualen – der Prediger hat Recht gehabt, er foltert mich mit diesen Gerüchen!
Der seltsame Dämon blickt mich nun aus tiefblauen Augen an. In ihnen steht kein Hass, eher Güte und Mitleid, auch so etwas wie Bewunderung?
Seit wann haben die Kreaturen Luzifers Gefühle?
Hat sich der Prediger womöglich geirrt?
Ist das hier nur ein Mensch, der – wie ich – überlebt hat?
Ich will den Gedanken nicht zulassen und zu Ende denken!
Er MUSSS ein Dämon sein so wie alle anderen!
„Du bist stur, verdammt stur, aber auch tapfer, Emma Peel – ja wirklich! Du scheinst eine Kriegerin zu sein und ich weiß selbst nur zu gut, was das bedeutet.
Du würdest also lieber verhungern als etwas preiszugeben?“ sein Kopf liegt fragend etwas in der Schräge.
Das gibt diesem Teufel etwas verflucht Sympathisches.
„Närrin!“ höre ich des Predigers Stimme in meinem Kopf hallen, „er lullt dich ein, fall ja nicht auf ihn herein!“
Störrisch nickte ich, aber Vehemenz sieht anders aus, ich merke es selbst. Verdammter schwacher Leib!
Er nimmt ein feuchtes Tuch, setzt sich an meine Seite und wischt damit sachte das getrocknete Blut auf meinem Gesicht fort.
„Du könntest auch eine heiße Dusche und trockene Kleidung vertragen!“ stellt er fast beiläufig fest.
Seine ausstrahlende Körperwärme ist so wohltuend an meinem frierenden Körper. Seit wann strahlen Dämonen Wärme aus? Der Stahlring um mein vereistes Herz bekommt einen weiteren Riss.
„Doch ich bin überzeugt, du würdest lieber erstinken und erfrieren als das zuzugeben?“ seine Stimme ist mit einem Mal so sanft.
Er spricht mit mir wie mit einem kleinen Kind. Geduldig und warmherzig.
Wieder nickte ich widerborstig, doch noch etwas schwächer als zuvor. Eine heiße Dusche, Seife und saubere Kleidung, dazu ein voller Magen – das kommt für mich nahe an das Paradies heran.
„Sag mir deinen Namen – bitte“, flüstert er nun, „ich verrate das auch niemanden. Lass mich dich zivilisiert ansprechen. Meine Wenigkeit heißt Thomas."
Er lächelt mich fast entwaffnend an.
„Welchen Namen willst du hören?“ hauche ich.
Geschwächt von Hunger, Durst und schrecklicher Müdigkeit bin ich und es ist so schrecklich kalt. Dieses Wesen scheint mir nicht durch und durch schlecht zu sein. Meine Abwehr, ihm meinen Namen zu nennen befindet sich in Auflösung.
„Du hast mehrere?“ erstaunt zieht er seine Augenbraue nach oben.
„Ja, einen aus dem alten und einen aus dem neuen Leben.“ antworte ich leise.
„Beide, ich möchte beide wissen.“
„Vor der Apokalypse hieß ich Claudia, nach meiner Berufung zur Vollstreckerin taufte mich der Prediger auf den Namen Judith, nach der Gerechten aus dem alten Testament, die mutig zu Holofernes ging und ihn im Schlaf enthauptete, um ihr Volk zu retten.“
Meine Stimme bricht und mein Bewusstsein schwindet.