F 220, Kapitel 6
Wie gelähmt tappte ich wie ein Geist durchs Schiff. Schott für Schott ging ich ab. Nur zur Sicherheit. Ich durfte es auf gar keinen Fall riskieren, dass der verrückte Prediger an Bord kam. Ich durfte nicht einmal riskieren, dass er auf den Stützpunkt kam. Vor allen Dingen musste ich sofort alle Waffen sichern. Typen wie der Prediger würden sie ohne zu zögern benutzen.
In meiner alten Kabine angekommen, riss ich die Depesche auf, nachdem ich kraftlos in den Stuhl gefallen war. „Sie haben etwas verpasst, WSO“ stand handschriftlich auf dem Umschlag.
Innen viele Seiten Papier. Programmieranleitungen, technische Pläne, Anleitungen und technische Zeichnungen. Und eine DvD.
Ich muss lange gelegen haben. Die Unterlagen zeichneten das System als Manits NBS C-Ram 1A3 aus. Also die dritte Ausbaustufe. Jetzt war ich neugierig geworden. Hastig blätterte ich die Unterlagen durch. Und frohlockte. Die Jungs von Rheinmetall hatten alles richtig gemacht. Nicht nur, dass die Sensoreneinheiten mit einem Rundsuchradar ausgerüstet war, das in 20 Km Entfernung noch eine Möwe orten konnte, ich hatte das neuwertigste Zielverfolgungsradar, das es gab, mit den leistungsfähigsten Recheneinheiten. Ein Infrarot-Folgeradar inklusive Infrarot-Zielradar, Laser-Entfernungsmesser, hochauflösende TV-Kameras mit Bildstabilisator und Null-Lumen Nachtsichtgeräte.
Das bedeutete, dass ich auch in stockfinsterster Nacht alles sehen konnte. Dazu kam ein Wärmebildsensor. Eine unglaubliche Maschine. Dazu kam, dass die Ingenieure eine automatische Freund / Feind- Kennung eingebaut hatten, das nicht nur nach Funkleitstrahlen funktionierte, sondern auch auf Sicht. Der Hintergrund war, dass viele Terroristen, das hatten sie aus 9/11 gelernt, die Transponderkennungen der Maschinen einfach abschalteten. Das bedeutete aber auch, dass man das System frei mit Bilddaten füttern konnte. Die A2-Stufe hatte bedeutet, dass die 24 Schuss-Kartuschen, die man so umständlich von Hand laden musste, durch eine automatische Gurtzuführung ersetzt worden war. Jedes Magazin, das ein Deck unterhalb der Türme installiert worden war, hatte 14 000 Schuss 30mm Munition. Und das alles frei programmierbar.
Mich hielt nichts mehr. Ich begab mich augenblicklich in die BFZ, die neben der OPZ angebracht war. Alle Systeme waren auf Stand by, das sah ich auf dem Monitor des Waffentechnik- Offiziers. Dort blinkte einiges. „System Stand by“ blinkte grün hinterlegt und ohne zu zögern nutzte ich die Maus, um das System scharf zu schalten. Einen Augenblick lang flackerte das Licht, als die SMART anlief, die beiden Sensoreneinheiten und die vier Geschütze ihre Gurtzuführungen rattern ließen. Ich war begeistert.
Auf den beiden Monitoren links und rechts des Hauptleitstandes sah ich die Umgebung. Zeit zu spielen. Ich benutzte alles. Die Kameras waren fantastisch. Selten hatte ich so eine Auflösung gesehen, selten so klar und scharf gezoomt. Und vor allen Dingen: So verwackelsicher.
Am Ufer entdeckte ich Madame. Ich grinste. Der Ozelot lag im Gras und döste vor sich hin. Den ganzen verdammten Stützpunkt konnte ich abtasten. Und hätte ich Idiot nicht verträumt auf den Ozelot geschaut, wäre mir der blinkende Monitor der Wärmebildkamera nicht entgangen.
So aber suchte ich die Programmierung der zu bekämpfenden Ziele. Die Standardprogrammierung wies nicht viel aus. Die Freund-Kennungen waren klar hinterlegt. Vage erkennbare Ziele waren ausgezeichnet mit „Fire on demand“. Also die ganzen MIGs, Suchois und Tupolews, die die östlichen Länder auch an andere Staaten abgegeben hatten. Sämtliche Raketen waren hinterlegt, und, was mich überraschte, eine Vielzahl an Drohnen. Ich war wirklich lange weg. Deutschland hatte mittlerweile auch Drohnen? Aha. Hatte sich Flinten-Uschi also doch durchgesetzt.
Rechts unten auf dem Monitor entdeckte ich eine Art Uhr, die rückwärts lief. Als ich sie anklickte, wurde mir klar, dass es sich hier um eine automatische Rundumsicherungs-Aufzeichnung handelte. Sie zeichnete automatisch die letzten 48 Stunden auf. Ich musste grinsen. Nach kurzer Zeit hatte ich eine Aufzeichnung vor mir. Die Bordkameras hatten eine Wärmequelle, das Beerdigungs-Feuer, entdeckt und sich automatisch aufgeschaltet. Jetzt hatte ich sogar ein Bild vom Prediger. Ich schnitt die Figur aus und schob sie in den Ordner: „Feindsignaturen“. Dort rechts anklicken und im Kontextmenü wählen: „Automatisch Feuer eröffnen nach Zielerkennung“. Ich grinste fast im Kreis. Sollte das ernsthaft funktionieren? Im Hauptmenü schaltete ich Turm Alpha, Bravo, Charlie und Delta scharf.
Über das Flugdeck ging ich an die frische Luft. Komisches Wetter. Die Wolkendecke schien immer gleich. Gleich dick, gleich kalt, gleich grau. Am Heck angekommen, lehnte ich mich auf die Reling. Madame lag im Gras des Ufers. Sie bemerkte meine Blicke. Und hoffentlich bemerkte sie auch, dass ich sie sehr mochte. Ich dachte schon immer und denke nach wie vor, Tiere spüren das.
Madames Kopf ruckte hoch. Sie witterte etwas. Auch ich spürte ein ungutes Gefühl, dachte aber, dass das wohl an meiner Reaktion auf das Tier lag. Madames Schwanz peitschte hin und her, ihre Ohren waren nach hinten eng an den Kopf angelegt. Sie fauchte, drehte sich um und verschwand mit langen, eleganten Sätzen zwischen den Büschen. Vielleicht kündigte sich ein Wetterumschwung an? Bei Jack konnte ich mir da sicher sein. Der spürte ein Gewitter eine Stunde vor den Nachrichten.
Es nützte nichts, ich musste etwas tun. Aus dem Log des Kapitäns wusste ich, dass die Bunker alle voll waren. Blieb nur, die Lebensmittel, Waffen und Munition an Bord zu bringen. Eine Herkules-Aufgabe. Als ich mich umdrehte, bemerkte ich eine Bewegung aus den Augenwinkeln. Ich blieb stehen. Tat so, als binde ich mir die Schnürsenkel. Dann langsam weiter. Wieder diese Bewegung oben am Schiff über den Hangartoren. Langsam drehte ich den Kopf und mir rutschte das Herz in die Hose. Ich blickte in die Mündung einer 30 Millimeter Schnellfeuerkanone. Der Delta- Turm. Scheiße. Das System stand auf Automatik. Und wenngleich ich nicht als Ziel zur Bekämpfung hinterlegt war, verfolgte mich das Zielfolgesystem unerbittlich. Verdammte Axt, daran hätte ich denken müssen. Mir war nicht sehr wohl bei dem Gedanken, dass ich ständig vor einer Waffenmündung herumturnte. Aber es ließ sich nicht vermeiden. Auf jeden Fall musste ich mein Bild in die „Freund-Kennung“ verfrachten. Ungeheuerlich. Nicht auszudenken, wenn mal eine Optik dreckig wäre. Hier offenbarte sich der Schwachpunkt des Systems. Und ich musste auf jeden Fall Madame eingeben! Nicht auszudenken, wenn das einzige Wesen nicht mehr da wäre, mit dem ich Kontakt hatte und mich nicht in die Hölle wünschte.
Flugs eilte ich zurück an Bord, nachdem ich das Schott sorgfältig verschlossen hatte. Wenn man erst einmal die Funktionsweise des Abwehrsystems kapiert hatte, war es nicht mehr schwer zu handhaben. Ich suchte, wie zuvor beim Prediger, aus den 48-Stunden Aufzeichnungen ein Bild der großen Katze, und schob es in den entsprechenden Ordner. Mein Blick fiel auf die Wärmebildkamera.
Das sind fantastische Dinge, die da abliefen. Die Fenster des Krankenhauses waren nachts orange-rot, weil die Wärme des Hauses dort ins Freie gelangte. Blau bedeutete: Kalt. Und je roter ein Objekt wurde, desto wärmer war es. Das Krankenhaus sah aus wie ein bunter Käfig. Ich schwenkte die Kamera weiter, und jetzt staunte ich nicht schlecht. Ich sah drei rote Objekte auf dem Monitor!
Einen der Signaturen erkannte ich sofort. Es war Madame, die sich um eine Gruppe Bäume und Gebüsch schlich. Offenbar war sie auf der Jagd, sie war flach wie ein Toastbrot und in Lauerstellung.
Weiter unten in Ufernähe jedoch ein weitaus kleineres Objekt. Auf diese Entfernung sah es aus, wie ein Baby in Fetalhaltung. Seltsam. Ich zoomte heran und erkannte tatsächlich ein Baby. Ein Katzenbaby! Madame war eine Mutter! Ich musste lächeln. Ich freute mich für die Katzenmami.
Als ich den Bildausschnitt wieder verkleinerte, sah ich das dritte Objekt. Es war weit draußen am Rande des Stützpunktes und kauerte hinter dem Zaun, der den Stützpunkt zur See hin abschloss. Ich konnte es nicht wirklich erkennen und vergrößerte den Ausschnitt wieder. Aber es war zu spät, das Lebewesen hatte tatsächlich ein Loch entdeckt, war durchgeschlüpft, glitt ins Wasser und tauchte ab. Damit war es für mich unsichtbar. Verdammt. Ein Seehund vielleicht? Eine Robbe, ein Fischotter oder war es der Prediger? Nun, ein Bad würde ihm guttun.
Dreißig Meter weiter tauchte ein rotes Objekt mitten im Wasser wieder auf. Fast hätte ich es nicht gesehen, weil beim tauchen die Oberflächentemperatur absinkt. Es war kein Tier. Ein menschlicher Kopf. Es war nicht der Prediger. Der trug keine Creolen, das hatte ich deutlich vor Augen. Meinen Augenblick des Jubels, weil es garantiert nicht der Kopf des Predigers war, hielt nicht lange an. Wenn jemand den Stützpunkt entern wollte, und kam nicht wie jeder offizielle Gast an die Vordertür, sondern schlich sich hinten herum herein, führte er etwas im Schilde. Also musste ich das als Invasion einstufen. Und nun? Es wäre sehr einfach, die Wärmebildsignatur in den „Feind“-Ordner zu verschieben. Das System würde die Gefahr innerhalb einer einzigen Sekunde aus der Welt schaffen. Aber durfte ich das? Ohne zu fragen? Ohne zu wissen, wer und warum mich da „besuchen“ wollte? Mein Gewissen würde mich zu Tode quälen. Nein. Außerdem war ich viel zu neugierig. Ich musste wissen, was los war. Also fasste ich einen Entschluss.
Wenige Minuten später verließ ich das Schiff, um mir einen Gabelstapler zu schnappen. An der Versorgungsrampe lud ich zunächst Lebensmittel auf eine Palette, die nicht ins Kühlhaus gehörten. Dosen, Nudeln, Reissäcke und Gewürze, Kaffee, Tee und Kakao, und natürlich EPA. Einmann-Packung. Furchtbatres Zeug, aber im Notfall unentbehrlich. Und was sollte es hier? Ich fuhr den Stapler zum Schiff und begann, die Palette zu entladen. Dabei achtete ich sorgsam auf die Uferböschung. Madame war nicht zu sehen. Das Gras jedoch sehr wohl, denn es war sehr lange nicht gemäht worden. Und auch, wenn die Person, die sich dort anschlich, alle Mühe gab, vorsichtig zu sein, eine Grasnarbe, die sich entgegen der Windrichtung bewegte, war mehr als eindeutig.
Nach dem dritten Gang aufs Schiff spurtete ich in Richtung Bug, schlug einen Haken nach links und rannte, die Gebäude als Deckung nutzend, in einem großen Bogen um den Stützpunkt. So gelangte ich über eine freie Fläche hinter der Trafostation in den Rücken meines Besuchers. Langsam und vorsichtig näherte ich mich dem letzten Punkt, an dem ich die bewegten Grashalme sah.
Plötzlich schoss Madame an mir vorbei. Mit einem gewaltigen Satz sprang sie ins Gras. Ihr Fell stand vom Körper ab, ihr Schwanz war aufs doppelte verdickt und sie fauchte Gift und Galle.
Ein paar schnelle Schritte, das G36 entsichert.
Vor mir im Gras lag ein Etwas. Es war lang, es war dünn und es war nass und es war dreckig. Es hatte lederne, schwarze Sachen an und es hatte eine Reihe unterschiedlichster Messer am Gürtel und über den Rücken waren gekreuzte Kurzschwerter angebracht, die wie Schmetterlinge aussahen. Das Gesicht dreckig, beinahe wie Tarnschminke, die Haare wild und zerzaust.
Das Schlimmste aber waren die Augen. Abscheu drückten sie aus. Ekel und Widerwillen. Zugleich aber auch Wut und Enttäuschung. Faszinierend, denn hinter dieser Kulisse aus Emotionen stand ein gänzlich anderer Ausdruck. Nämlich Angst. Nur unwillig gestand ich mir diese Zäsur ein. Weil es mir Angst machte. Weil es eine menschliche Regung bedeutete. Weil es mich weich machte. Oder drohte, zu machen. Das galt es, zu verhindern.
„Na du Schlampe, du kommst mir gerade recht…“, eröffnete ich die Ansprache, „hast du gedacht, du kannst mich überraschen? Erst einmal zurück. Zurück, sagte ich! Weg vom Baby!“
Sie kroch rückwärts zwei Meter zurück. Madame fackelte nicht lange, sie trug ihr Kind im Maul wie der Wind davon.
„Jetzt zu dir…“, wandte ich mich der mageren Frau zu.
„Sünder“, warf sie mir entgegen und spuckte vor mir auf den Boden. Jetzt war die Sache glasklar. Ich hob die Mündung des Gewehres.
Mein gestreckter Zeigefinger tastete sich zum Abzug. 30 Patronen im Kaliber 5,56mm warteten darauf, das hasserfüllte Gesicht der Frau in eine breiige Masse zu verwandeln. Und doch hemmte mich etwas.
Es waren die Augen. Und die Logik. Seit langer Zeit traf ich einen Menschen und wollte ihn umbringen? Selbst wenn sie mich gerade überrumpeln und töten wollte, ich hörte ja, wer sie angefixt hatte. Und wenn der verrückte Prediger schon diese Frau für sich gewinnen konnte, hätte er noch mehr auf Lager, als das. Und das musste ich herausfinden. Allein schon wegen Madames Kind.
„Aufstehen. Aber langsam. Mach keinen Blödsinn, hörst du? Ich will dich nicht töten, aber wenn es sein muss, werde ich ein echt schlechtes Gewissen haben. Willst du, dass ich mich schlecht fühle?“
„Du wirst gerichtet werden, Sünder!“
„Hör mit dem Gequatsche auf und werd wach. Der Prediger hat dich unter seinen Fittichen gehabt, oder etwa nicht?“
Sie schwieg und starrte mich nur hasserfüllt an. Was zum Teufel hatte ich ihr getan? Der Prediger ging mir allmählich auf die Nerven.
„Umdrehen“, sagte ich ruhig, „Und jetzt geh. Langsam und vorsichtig. Flucht ist zwecklos, so wie du aussiehst, holt dich jeder Achtjährige ein.“
Ich musste sie klein halten. Außerdem: Sie wollte mich töten, warum also höflich bleiben?
Sie stand auf. Ganz entfernt erinnerte sie mich an Emma Peel, nachdem sie in einen Gulli geplumpst war. Die eng anliegenden Lederklamotten hätten mich bei entsprechender Figur bestimmt irgendwie angemacht, aber jetzt, wo ich hinter ihr herlief, bemerkte ich, dass sie nicht einmal einen Arsch in der Hose hatte. Von den Spaghetti-Beinen einmal abgesehen, zeichneten sich ihre knöchernen Schulterblätter deutlich unter dem völlig verdreckten Leder ab. Die Frau war total unterernährt. Die Frage war, ob das ein Dekret des Predigers war oder das Resultat einer fehlenden Strategie.
„Halt die Hände seitlich vom Körper weg, ich will keine Überraschungen erleben!“
Ich wurde immer leiser. Wer mich kannte, wusste, dass das ein untrügliches Signal war. Je stiller ich wurde, desto ernster wurde es.
Sie ging in einem leichten Bogen zum Schiff, wollte wohl an Bord.
„Halt“, sagte ich und trat einen Schritt näher.
„Schau nach rechts hoch. Siehst du die beiden Hangar-Tore?“
Sie nickte. Hatte wohl beschlossen, mich mit Schweigen zu strafen.
„Darüber ist eine Art Geschützturm, siehst du ihn?“
Wieder nickte sie.
„Mach drei Schritte nach vorn und beobachte den Turm. Und dann denk an Gandalf!“
Sie machte drei zögerliche Schritte und beobachtete, wie der Geschützlauf ihr folgte.
„Gandalf?“, fragte sie, den Kopf zur Seite drehend, um mich zumindest aus den Augenwinkeln sehen zu können.
„Du kannst hier nicht vorbei!“, sagte ich. Es war der letzte Film, den ich im Kino gesehen hatte.
„Der Turm und noch drei andere bekämpfen vollautomatisch alles, was sich nähert und nicht im System als Freund gekennzeichnet ist. Hast du das verstanden? Du kannst dort nicht hinein.“
Ihre Schultern sackten zusammen. Offensichtlich war das wohl der Plan.
„Geh nach links, zum Krankenhaus.“
Ein Militärkrankenhaus sollte einen sicheren Raum haben. Ich wollte sie nicht im Wachgebäude in die Arrestzelle stecken, weil das Wachgebäude zu dicht an der Straße lag und sie den Verrückten vielleicht rufen könnte. Als ich auf der Suche nach Lebensmitteln durch das Lazarett lief, hatte ich ein Fixierbett samt Immobilisierungsgurtsystem gesehen. Das wäre ab sofort ihr neue Heimat. Und zwar bis ich herausgefunden hatte, was der Prediger im Schilde führte.
Nur widerstrebend fügte sich die Frau. Als sie das Gurtsystem erblickt hatte, wurde ihr Körper starr und sie blieb stehen.
„Na los Schätzchen, es gibt keinen Ausweg“, sagte ich so ruhig wie möglich. Aber ich ahnte, was nun kommen würde, deswegen trat ich einen Schritt zurück. Prompt schleuderte sie ihren Körper herum, in der linken Hand ein blitzendes, kleines Messer. Weiß der Teufel, woher sie das hatte. Aber dank meines Schrittes ging der Angriff ins Leere. Sie verlor das Gleichgewicht und mein Gewehrkolben schlug krachend an ihre Schläfe. Licht aus.
Sie war federleicht. Unglaublich, ich schätzte die Frau auf um die 40 Kilo. Mit Klamotten. Die Fixierung war nicht schwer, aber so dürre Körper waren wohl nicht im Sinne des Erfinders. Hände, Füße, Oberschenken und Hüfte wurde festgebunden. Dann trat ich einen Schritt zurück und betrachtete das Werk.
Sie stank. Nicht so schlimm wie der Prediger, aber es war schlimm genug. Ich hätte die Killerbraut auch ausziehen und abschrubben können, aber wozu? Für einen sauberen Tod? Aber diese Mischung aus Schweiß und Dreck war auch nicht gerade heimelig. Irgendwie empfand ich dieses Wesen als Fremdkörper. Sie gehörte hier nicht hin. Sie war die Vorbotin des Verderbens. Und sie hatte eine Schwachstelle entdeckt.
Ich wandte mich ab, schaltete die Lampe auf dem Schreibtisch an und löschte das Neonlicht. Weiß der Teufel, warum ich so nachsichtig war. Eilig verließ ich das Lazarett und suchte die Waffenkammer auf. Handgranaten und ein dünnes Drahtseil aus dem Kompanietrupp-Zimmer sollten reichen. Die Nachmittagssonne strahlte dunkler werdend übers Wasser. Eigentlich ein Anblick des Innehaltens, der Besinnlichkeit und des „Einswerdens“ mit der Natur. Die schwarzen Eierhandgranaten in meinen Händen sprachen jedoch eine andere Sprache.
Das Loch im Zaun war merkwürdig. Kreisrund, ein perfekter Kreis. Die Enden der Drähte sahen aus, als wären sie geschmolzen. Weder aufgerissen, noch aufgeschnitten oder gehebelt, wie manche Kampfmesser es können. Sorgfältig beobachtete ich die Umgebung. Fatal, wenn mich jemand beobachten würde. Mit dem Rücken zu dem kreisrunden, merkwürdigen Loch grub ich mehrere kleine Löcher in verschiedenen Abständen zum Zaun. Ein paar stabile Äste eingegraben, die Handgranaten dahinter eingeklemmt, die Drähte so an den Zündringen befestigt, dass sie sich leicht lösen ließen. Dann Erde aufschütten und festpressen. Gras und Blattwerk über den „Baustellen“ verteilen. Dann vorsichtig die Drähte in verschiedenen Abständen um das Loch im Zaun drapieren und am Ende am Zaun selbst befestigen.
Die Höhe war wichtig. Sieben Zentimeter vom Boden wären perfekt. Wenn jemand auf den Draht latschte, wurde der Zünder ausgelöst. Wenn jemand in den Draht lief, ebenfalls. Lag der Draht zu tief, konnte er unter einen Stiefel geraten, lag er zu hoch, hob er sich zu stark vom Untergrund ab. Der Schwachpunkt war, dass man die Falle ruck zuck entschärfen konnte. Einer Gefahr zu entkommen bedeutet zunächst, sie zu erkennen. Also musste Plan B her. Hastig lief ich zum Schiff und gab folgende Programmsequenz in die Feuerautomatik der BFZ. „IF Movement @#Sector #14 Size>80=Autofire:No Movement“.
Damit würde bei Bewegungsalarm auf alles gefeuert werden, das höher als 80 cm wäre. Und zwar solange, bis sich nichts mehr bewegt. Alles, was größer als ein Rottweiler war, käme hier nie lebend durch. Madame und ihr Baby waren sicher. Ich atmete auf. Es schien, als wäre ich wieder Herr der Lage. Zeit fürs Abendessen. Als ich in die Kombüse wollte, fiel mir ein, dass ich ja einen Gast hatte. Verdammt.
Grübelnd wandte ich mich, wieder im Lazarett, in Richtung der Küche. Und erst als ich vor dem Kühlhaus stand, wurde mir bewusst, dass ich im Begriff war, der Schlampe etwas zum Essen zuzubereiten. Zuckerbrot und Peitsche? Eher Eier und Gewehrkolben. Dabei wunderte ich mich immer wieder, dass die Stromversorgung noch nicht zusammengebrochen war.
Schulterzuckend machte ich mich ans Werk. Roastbeef statt Rosinenbrot. Ich riss eine vakuumverpackte Kunststofftüte auf. Die ersten sieben cm, die ich abschnitt, legte ich auf einen Teller. Dann dachte ich, dass es vielleicht eine gute Idee wäre, eine weitere Portion zu spendieren. Immerhin musste Madame für Zwei fressen. Dann brachte ich den Teller vor die Tür. Ich pfiff kurz durch die Zähne. Bildete mir ein, Madame wüsste, dass ich etwas Feines hier hätte. Und tatsächlich, es raschelte im Unterholz und die große Katze kam zu mir. Es schien immer noch, als sähe sie mich argwöhnisch an. Aber vielleicht fragte sie sich auch nur, wo das stinkende Weibchen geblieben war.
Nach ein paar Augenblicken des Zögerns und Witterns hatte sie wohl beschlossen, dass von mir keine Gefahr ausging. Sie näherte sich mit eingezogenem Nacken und nach hinten gelegten Ohren. Noch nie hatte ich so ein schönes Tier gesehen, das so wild und doch so gelehrig war. Vorsichtig biss sie in das erste Roastbeef und trug es eilig weg. Ich war sicher, dass sie das andere gleich holen würde. Zeit, für mich zu sorgen. Für uns.
Knapp eine Stunde später betrat ich das Krankenzimmer. Sie lag so da, wie ich sie verlassen hatte. Augen geschlossen und immer noch eine Glocke üblen Geruches um sich. Aber etwas stimmte nicht. Ihr Brustkorb hob und senkte sich viel zu schnell für eine Schlafende. Und ihre Hände waren zu Fäusten geballt.
„Du kannst damit aufhören. Ich weiß, dass du wach bist“.
Sie öffnete die Augen. Hass, Abscheu und Angst standen in ihren Blicken.
„Du bist so gut wie tot, Sünder!“, fauchte sie mich an.
„Für eine, die fixiert ist und wie ein Pissoir stinkt, sind das gewaltige Worte“, grunzte ich und hatte gute Lust, das Tablett mit den Köstlichkeiten selbst zu essen. Eigentlich musste sie es riechen, das frische Sahnegemüse, das Roastbeef und das frische Brot. Ich hatte es abgedeckt mit einem Tuch. Ich trat ans Bett und legte das Tablett ab. Das Besteck klapperte und die Frau krümmte sich in den Fixierungen zusammen. Sie war unter der Dreckschicht wachsweiß geworden. Was dachte sie, ist unter dem Tuch? Folterwerkzeug? Ich grinste breit.
„Du wirst mir deinen Namen sagen. Du wirst mir erzählen, was der Prediger im Schilde führt. Du kannst dich wehren, zappeln, zetern, schreien, mich verfluchen und mir androhen, was immer du willst. Aber du wirst es mir sagen. Es mag sein, dass du dein Herz dem Prediger geschenkt hast, aber hier und jetzt gehört dein Arsch mir!“