F220, Kapitel 5
Kapitel 5: Boarding
Da stand ich nun. Vor knapp Sechstausend Tonnen Stahl. 143 Meter lang, 17,5 Meter breit. Vorn am Rumpf prangte in zwei Meter hohen, elfenbeinfarbenen Lettern: F 220. Ein schönes Schiff. Elegant und schnittig. Mit einem Lächeln sah ich an ihm hoch. Die Radaranlagen und die SMART-L-Antenne waren außer Betrieb. Das verhieß nichts Gutes. Die Hamburg lag vor mir wie ein toter Fisch. Ich hörte auch nichts, das war das Beunruhigendste. An der Mole waren die beiden Antriebsturbinen selbstverständlich aus, so wie die beiden Dieselmotoren auch. Aber die beiden Versorgermotoren hätten laufen müssen, denn ich sah keine Ex-Leitungen in den Rumpf führen. Also musste ich wohl oder übel an Bord, um nachzusehen. Es gab zwei Möglichkeiten, an Bord zu kommen. Über den Wachstand mittschiffs und über das Flugdeck. Der Zugang zum Flugdeck war gesperrt und die Gangway zum Wachstand war schon recht steil.
Ich sah zu meiner Freundin herunter.
„Na Madame? Kommst du mit?“
Und als ob sie mich verstanden hätte, kam ein Grollen aus den Tiefen ihrer Kehle, was wohl Missmut ausdrücken sollte. Ich lächelte sie an, weil ich mich immer noch nicht traute, sie anzufassen. Manchmal, wenn sie gähnte, sah ich ihre messerlangen, blütenweißen Reißzähne. Ein beeindruckendes Arsenal hatte sie da.
„Hey, keine Sorge. Ich komme bestimmt wieder!“
Tief atmete ich ein. Langsam ging ich den Steg empor. Oben angekommen stellte ich fest, dass die Bordorganisation vor der abendlichen Flaggenparade stattgefunden haben musste. Da mich niemand an Bord willkommen hieß, grüßte ich nur die Flagge.
„Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen?“ murmelte ich, aber mir war sehr unwohl und ich fühlte mich nicht wirklich gut. Die Besatzung bestand aus 255 Mann und hier schien alles leblos und tot. Entweder der Kapitän hatte Führungsqualitäten bewiesen und die Soldaten heimgeschickt oder abkommandiert, oder ich würde hier unten eine extreme Scheißüberraschung erleben.
Langsam und beobachtend ging ich auf das Schott zu. Es war ein mit „Y“ gekennzeichnetes Schott. Derart gekennzeichnete Schotten werden nur im Gefechtszustand geschlossen. Jetzt machte ich mir wirklich Sorgen. Wenn Gefechtsalarm war, was im Hafen so gut wie nie vorkam, war es nahezu unmöglich, an Bord zu kommen. Sofern die Mannschaft alle Befehle korrekt ausgeführt hatte.
Ich begab mich zur Brückennock, nachdem ich direkt über dem Wachstand den Backbord-Turm des Mantis-Systemes bewundert hatte. Aber die Brücke war dicht wie ein Schneckenhaus. Einzig das Wartungsschott am Schornstein könnte eine Möglichkeit sein. Und tatsächlich, das Schott war offen. Das war dem Umstand zu verdanken, dass dort ein Soldat das Schließen des Schottes verhindert hatte. Er lag tot zwischen Schott und Bordwand. Ich öffnete das Schott ganz und drehte den Leichnam auf den Rücken. Es war Obergefreiter Hansen, ein Sanitäter. Ich kannte ihn. Hansen war ein stiller Mensch. Er hatte mir einmal erzählt, er würde gern verreisen. Ich fragte ihn, warum, weil er doch an Bord der Hamburg ständig auf Achse wäre.
Aber Hansen meinte, er würde gern mit seiner Frau und dem Hund nach Schottland reisen. Für drei Monate oder länger. Die Berge sehen, die Seen, die Pubs und die Leute dort. Er würde ohne Schuhe und Socken über das nasse Gras rennen, eiskaltes Quellwasser trinken und, auf einem Berg sitzend, den Himmel berühren wollen. Das alles konnte er nun nicht mehr. Alles, was er war, und alles, was er je hätte sein können, war ausgelöscht. Ich wurde wütend. Alles nur wegen einem beschissenen Virus.
Ich musste mich nun fragen, wie es weiterging. Wenn meine Ahnung mich nicht trog, hatte ich hier 255 Tote an Bord. Wollte ich hier leben, musste ich die Leichen entsorgen und, wenn ich konsequent genug wäre, in Ehren bestatten. Immerhin waren das einmal meine Kameraden. Eine Herkules- Aufgabe. Und ich war noch nicht wieder so kräftig, dass ich es bewältigen konnte. Wie zum Teufel sollte das funktionieren? Dazu kam, dass die Schiffsimmanenten Systeme abgeschaltet waren. Ich war verwirrt, wütend und irgendwie hilflos. Ich war allein. Die Leichen, die überall auf dem Stützpunkt lagen und schon fast verwest waren, hatte ich bislang ignoriert oder ausgeblendet. Aber das hier?
Als ich in den Niedergang hinabsah und kein Licht entdeckte, war mir klar, dass ich vor einer beinahe unlösbaren Aufgabe stand. Der Absolutismus, der mich zum Alleinherrscher des Schiffes machte, erschlug mich fast. Was würde ich also tun, wäre ich bei Sinnen? Zunächst eine Taschenlampe organisieren. Die Stromaggregate anwerfen und überall im Schiff Licht anmachen. Dann Raum für Raum vom Bug bis zum Heck jeden verdammten Raum absuchen. Leichen finden, Leichen von Bord bringen, Leichen beerdigen. Eine verdammt makabere Aufgabe. Aber ich musste das Schiff bewohnbar machen. Unvermittelt kam mir in den Sinn, dass ich, bevor ich loslegte, die Leichen von Bord zu schaffen, die Funkanlage in Betrieb nehmen sollte. Vielleicht gab es doch noch Menschen irgendwo. Oder sollte ich das lieber lassen? Vielleicht waren die Reste der Menschheit so verroht und verrückt wie der Oberstleutnant, dem ich es zu verdanken hatte, dass ich hier gelandet war.
Ich hob den Sani auf und wunderte mich. Er war ganz leicht! Hansen musste schon länger hier liegen. Sein eingefallenes, runzliges Gesicht und seine faltige Haut an den Händen bestätigte dies. Und er roch nach Honig. Wildblütenhonig, gemischt mit einer moschusartigen Note. Ich bugsierte Hansen an Deck und stieg den Niedergang hinab. Unten auf dem Arbeitsdeck war es stockdunkel. Nur der scharfe Lichtkegel, der aus dem Niedergang schien, bescherte mir ein wenig Licht. Ich entdeckte die beiden Lynx- Hubschrauber, die zum Schiff gehörten. Sie waren anständig verzurrt. Hinter dem Pilotensitz war eine Taschenlampe, das wusste ich. Unvermittelt wurde mir ein wenig leichter. Immerhin lag hier unten nicht ein Leichnam.
Vorbei an der Kantine der Mannschaften und der Bücherei ging ich zum Maschinenleitstand. Hier war tatsächlich alles ausgeschaltet. Verdammt, ich hatte zwar öfter mal zugesehen, aber das alles selbst zu machen, war eine gänzlich andere Baustelle. Ich ging an den Schaltschränken vorbei. Gut, dass sie beschriftet waren. GTur1, GTur2, ManDies1, ManDies2, BoSpan. Letzteres sollte wohl Bordspannung heißen? Ein handtellergroßer Drehschalter prangte vor mir, mit einem Ausschnitt wie das Segment eines Tortenbodens. Dahinter leuchtete es rot. Daneben stand OFF. Auf der 12 Uhr-Stellung stand: ON. Rechts daneben ein roter Kippschalter, darunter ein Drucktaster mit der Aufschrift: „Start“. Die Aufgabe konnte ich gar nicht verreißen. Also den Drehschalter betätigen, bis der Tortenbodenausschnitt grün wurde. Irgendwo im Schiff lief ein Elektromotor an! Das tieffrequente Säuseln wurde heller und heller, dann den Kippschalter umlegen und den Drucktaster eindrücken. Polternd lief ein Motor an, wohl im Raum nebenan. Als der Diesel rund lief, flackerten die Lichter und wurden rapide heller. Nach ein paar Minuten war der Raum komplett ausgeleuchtet.
Die beiden Hubschrauber sahen aus, wie tote Insekten, die jemand zum Studium festgezurrt hatte. Mir war schlagartig klar, dass auch die beste und ausgefuchsteste Technik ohne Menschen nichts wert war. Gottseidank lagen hier keine Leichen herum. Ich atmete tief durch. Erst einmal hoch zur Schreibstube, Papier besorgen. Dann vom Mast bis zur Bilge alles absuchen. Bestandsaufnahme, was das Personal anging. Dann eine Bestandsaufnahme, was Füll-Zustände anging. Treibstoff, Nahrungsmittel, Trinkwasser. Ich schätze, auf eine Matrosendusche (*) konnte ich zukünftig verzichten. Der Vorteil der Stromversorgung war, dass die Wasseranlage arbeitete, die Funkanlage, die Lenzpumpen, die Computer und die elektrischen Schott-Entriegelungen. Ich schätzte, beim öffnen der Kühlschränke würde ich eine fiese Überraschung erleben… Jedes Käsebrot hätte wahrscheinlich zig Junge bekommen und eine intelligente Lebensform gebildet.
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Ich brauchte drei Wochen. Drei verdammte Wochen. Insgesamt waren vierzehn Leichen an Bord. Der Erste, der Kapitän, der Antriebsoffizier, der Bordarzt und die zehn toten Kameraden im Bordlazarett. Einer war wohl so schnell gestorben, dass er ein nostalgisches Buch in Händen hielt. „Liebeslust amor vitae. Erzählungen. San Guedoro, Lodovica“
Wenigstens ist er nicht schmerzvoll gestorben. Die Leichname waren alle sehr leicht. Und es stank auch nicht, was mich sehr wunderte. Vor vielen Jahren war in der Wohnung neben der meiner Großmutter einmal ein Mann in seiner Wohnung verstorben und lag dort sechs Monate lang unentdeckt. Den Gestank vergisst man niemals. Die Hausbewohner dachten (oder wollten denken), dass der üble Geruch aus der Biotonne kam und hielten das aus. Aber nach einer gewissen Zeit nimmt man wohl auch das nicht mehr wahr. Oder, wie im Falle meiner Oma, man legte nachts feuchte Handtücher vor den Türschlitz. Erst wenn der Besuch sich naserümpfend bis kreidebleich beschwerte, musste man handeln.
Und so kam es, dass ich den Nachbarn zu sehen bekam. Er sah genau so aus, wie die Toten an Bord. Der Gestank kam nach sechs Monaten aus der Toilette, aus dem Kühlschrank, dem Aquarium und den Mülleimern. Bestialisch ist weit untertrieben.
Nach drei Wochen hatte ich vierzehn Leichen in ihre besten Uniformen gezwängt und nebeneinander auf einem Rasenstück unweit des Baumes gebettet, auf dem Madame zu mir gefunden hatte. Ich hielt den Ort für malerisch und meiner toten Kameraden würdig. Madame hielt sich übrigens fern von mir. Ihr war das alles nicht geheuer, wie mir schien.
Mich selbst für verrückt haltend, zog ich meine Uniform an, die ich an Bord des Schiffes im Schrank hatte, besorgte ein paar Kanister Benzin und ein Zippo aus der Schiffskantine.
„Kameraden. Ich stehe hier vor euch“, meine Stimme wurde brüchig, „und möchte euch danken. Ein paar von euch kannte ich, die anderen nicht. Trotzdem finde ich, dass es das Schicksal mit euch gut gemeint hat. Ihr seid jetzt tot und habt irgendwo, irgendwann eine neue Zeit vor euch. Ich aber bin verdammt zu leben. Und gerade jetzt wünschte ich mir, ich wäre bei euch. Wir würden Bier trinken, einen Film schauen oder wie damals in Singapur, sämtliche Weiber flachlegen, die nicht schreiend abgehauen waren.“
Ich stockte. Die Erinnerungen kamen alle zurück. Mir wurde schlecht, wenn ich daran dachte, dass ich vielleicht wirklich der letzte Mensch war.
„Ihr Lieben… jetzt, wo ich auf mich allein gestellt bin, vermisse ich euch umso mehr. Das Leben hat euch kein gutes Blatt beschert, aber meines ist beschissen. Und doch werde ich euch in Erinnerung behalten. Egal, wie lange ich lebe.“
Die Benzinkanister waren schnell geleert. Die Flammen schossen meterhoch in den stahlblauen Himmel. Ich musste ein paar Meter weit zurückweichen und setzte mich mit dem Rücken zur Straße auf den steinernen Absatz des Zaunes.
Tränen rannen über mein Gesicht. Nie war mir meine Lage deutlicher als gerade jetzt. Der Mensch ist wohl nicht zum Alleinsein geschaffen. Mein Atem ging mühsam, ich bekam eine Gänsehaut. Als ob Madame das spürte, kam sie näher. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Wie albern, eine Katze weiß gar nicht, was das ist. Aber Katzen spüren. Mehr als wir. Sie kam näher und näher und ich staunte. Keine zehn Zentimeter vor mir setzte sie sich auf die Hinterläufe und sah mich an. Aus großen Katzenaugen. Langsam und behutsam streckte ich eine Hand aus. Sie reckte ihren Kopf leicht nach vorn und schnüffelte an meinen Fingern. Dann geschah das Wunder. Madame rieb ihren Kopf an meiner Hand. Ich lächelte und freute mich, dass die Katze mich aus meiner Traurigkeit gerissen hatte. Und ich hatte sie berührt. Und war erstaunt, wie struppig und rau ihr Fell war. Von Jack kannte ich das anders. Sein Fell war seidig und glatt und schmeichelte in der Hand.
Wie von einem elektrischen Schlag durchfahren stand Madame urplötzlich auf ihren Beinen. Sie war flach wie ein Dachs, ihre Ohren waren nach hinten gelegt, sie riss das Maul mit ihren blitzenden Zähnen auf und fauchte. Innerhalb einer Sekunde war mein Kreislauf mit Adrenalin durchflutet, mein Herz raste und ich begann augenblicklich, zu schwitzen. Aber Madame fauchte nicht mich an. Ihr Blick ging an mir vorbei zur Straße. Siedend heiße Wellen fuhren über meinen Rücken, denn eine Waffe hatte ich nicht zur Beerdigung mitgenommen. Ein Riesenfehler.
„Sünder!“ zischte es hinter mir und mir wurde übel.
(*) Matrosendusche: Nass machen, Wasser aus. Einseifen, Wasser an, abspülen, fertig. Die Meerwasserentsalzungsanlage liefert 20 Kubikmeter Wasser pro Tag für 255 Leute, das ist verdammt wenig.