F 220, Kapitel 3B
Es konnte losgehen. Tief durchatmen. Ich ging an der Garage entlang zum Tor und erschrak bis ins Mark. Stocksteif blieb ich stehen. Mitten in der Auffahrt stand ein Mann. Ich hatte ihn nicht sofort erkannt, weil er, wie ich, ganz in Schwarz gekleidet war. Reglos und stumm stand er einfach da, sah mich an und hielt etwas vor seine Brust. Es war ein Buch. Und als ich im Sternenlicht seinen weißen Kragen erkannte, wurde mir klar, dass dort ein Geistlicher stand. Er sah mich an. Mit starrem Blick, ganz auf mich fokussiert. Ich empfand eine Welle aus Aggression und Zorn in den Blicken. Ich spürte Wut und Verzweiflung. Und Wahnsinn.
Meine Starre löste sich zögerlich, als der Priester im fahlen Licht der Sterne langsam den rechten Arm hob, die Handfläche beschwörend auf mich gerichtet.
„Sünder!“ zischte er mit mühsam unterdrückter Wut. „Sünder! Bereue! Der Herr sagt, du sollst nicht stehlen. Der Herr sagt, du sollst deinen Nächsten lieben. Der Herr sagt, du sollst nicht töten!“
Er wurde immer lauter. Das Zischen wandelte sich zu einem Zetern und dann zu einem Brüllen.
„Sünder, Sünder, Sünder! Bereue! Der Herr wird Pestilenz und Fluch auf dich legen, Sünder! Er wird dich verbrennen im Feuer der Apokalypse, Sünder!“
Er sah lausig aus, im wahrsten Sinne. Sein Haar war dünn, fettig und wirr. Und fiel ihm bis auf die Schultern. Seine Eltern waren vielleicht Bauern; seine groben Gesichtszüge, die roten Wangen und die hellblauen Augen erzeugten den Eindruck, jedenfalls im fahlen Licht der Sterne.
Aber es reichte. Der Spinner brüllte die ganze Gegend zusammen und in kurzer Zeit hätten wir die Plünderer am Hals. Also ging ich zwei schnelle Schritte auf ihn zu.
„Hochwürden! Liebe deinen Nächsten? Stimmt das?“
„Sünder!“ Er spuckte mir mit all seiner Verachtung dieses eine Wort entgegen, als wäre es ein glühender Speer.
„Dann hab mich gern und sei still. Die Tiere sind nachts unterwegs, klar? Tiere immer nachts“
„Möge der Herr, unser aller Va…“ er brüllte nicht mehr, nachdem er den Kolben der Schrotflinte kosten durfte. Haltlos fiel er hintenüber.
Einen Moment lang stand ich starr da. Wer einmal gewisse Geräusche gehört hat, vergisst diese niemals wieder. Das Aufschlagen eines haltlosen Körpers zum Beispiel. Oder wenn auf dich geschossen wird und die Projektile hinter und neben dir einschlagen. Oder eine extrem nasse Frau. Hier war es das Aufschlagen eines Körpers. Es hörte sich an, als wenn man einen Sack mit Holz und Watteresten vom Balkon wirft.
Schnell und rücksichtslos zerrte ich den kranken Pfaffen auf den Rasen vor Opa Schmittkes Haus, öffnete die Garage und sah den Jeep. Unmöglich, die Karre. Aber es gab kein anderes Auto. Alle Reifen waren voll, keine Pfützen unterm Wagen, das musste erst einmal an Überprüfung reichen. Schnell die Zündung an und den Tank kontrollieren. Halb voll, immerhin. Mir fiel ein, dass Opa immer einen Ersatzkanister in der Garage hatte. Nicht des Jeeps wegen, sondern wegen des Rasenmähers und des Trimmers.
Er war nicht schwer zu finden, der Kanister stand hinterm Auto. Immerhin 15 Liter mehr Reichweite. Schnell zurück und meinen Hintern in den Sportsitz geschwungen. Sportsitze in einem Geländewagen. Klar.
Als ich den Schlüssel herum drehte und der Motor nach ein paar widerwilligen Umdrehungen ansprang, fuhr mir der nächste Schock in die Glieder. Die verdammte Karre hatte keinen normalen Auspuff mehr. Nein, der gute Hansen musste auffallen um jeden Preis. Die Abgase kamen so gut wie ungefiltert aus Sidipipes. Der Hall in der Garage tat ein Übriges. Ich hatte das Gefühl, als wäre der Motorenlärm bis nach Helsinki zu hören. Also bloß weg hier. Außerdem rappelte sich der Pfaffe gerade wieder auf und begann zu zetern.
„Sünder, der Herr wird dich mit Höllenfeuer stra…“ murmelte er, erwachend aus seiner Ohnmacht, der Rest ging im knallenden Geblubber des großvolumigen Motors unter. Ich fuhr kopfschüttelnd los. Und hielt wieder an. Verdammt. Verdammt verdammt ich war Soldat. Ich hatte gelernt zu kämpfen. Zu kämpfen für Menschen, die sich nicht selbst wehren können. Also setzte ich gegen jede Vernunft zurück.
„Letzte Chance, Großmaul. Komm mit mir und halt die Klappe oder bleib hier und werde überrannt. Deine Entscheidung, Pfaffe!“
Einen kleinen Moment lang klarte sein Blick auf. Der Wahnsinn verschwand und sein Blick wurde unstet.
„Komm schon, Mann!“ Drängte ich.
Doch irgendetwas passierte im Geist des Pfaffen. Er holte weit aus und warf ein großes Kreuz nach mir. Mit einem dumpfen Schlag traf es den Jeep und fiel klingelnd auf das Pflaster.
„Abschaum! Sünder! Bereue oder stirb für den Herrn, unseren Gott! Ja, oh ja, er kennt dich! Er kennt dich genau, Vater aller Sünden. Du bist die Pest, du bist das Tier, du bist das Verderben. Und ja, Sünder, er wird dich holen!“ Seine Stimme wurde leiser. Er flüsterte nur noch, als er ganz ruhig näher kam.
„Er kommt dich holen, Sünder. Ausgeburt der Verdammnis, Bote des Todes. Verführer. Versucher. Er kommt dich holen…“
Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Der Typ war wahnsinnig. Und doch hatten seine Worte etwas Eindringliches. Sie berührten mich irgendwie, auch wenn mein Verstand sagte, dass ich auf das Gaspedal treten solle.
„Steig ein du irrer Vogel. Ich fahre jetzt“
Ganz ruhig sagte er:
„Du kannst fliehen, Sünder. Flieh, so schnell du kannst. Nur verstecken kannst du dich nicht. Er wird dich finden. Er wird dich finden…“
Ich konnte es nicht ändern. Und wollte es auch nicht, Wer weiß, wozu der irre Priester imstande war. Besonders, wenn es brenzlig wurde. Ich fuhr die Straße herunter bis zur Kreuzung. Dann rechts die Holbeinstraße entlang. Alles ruhig. Es war wie jede Nacht. Eine schlafende, verträumte Siedlung am Rande der Stadt. Und doch spürte ich Blicke. Tausendfache Blicke, die den lauten Wagen mit Grim verfolgten. Gierig, neiderfüllt. Ich musste auf der Hut sein, denn ich war weit genug zu hören. Das war das Problem. Fuhr ich schneller, konnte ich nicht genau genug die Straße lesen, fuhr ich langsamer, wurde ich angreifbar. Als ich von der Holbeinstraße in den Langschmidtsweg bog, zweifelte ich schon. Es war alles malerisch und friedlich. Keine brennenden Häuser, keine zerfurchten Vorgärten, keine geplünderten Autos. Alles normal. Die Gehwege waren gefegt, die Autos friedlich am Straßenrand geparkt. Die Laternen, die brannten, beleuchteten schlafende Rosenstöcke, gemähte Rasenflächen und geschnittene Hecken.
Aber ich spürte, dass das nur eine Fassade war. Eine Illusion. Das hier war nicht die feinste Gegend, aber die Mehrzahl der Hausbesitzer war vermögend. Was auch darauf schließen ließ, dass ihre Vorratskeller gut gefüllt waren und sie Plündereien nicht nötig hatten. Noch nicht.
Nach vier Kilometern war am Kurt Schumacher-Damm Schluss. Hier zeigte sich das genaue Gegenteil zum friedlichen Vorort. Ein paar Autos standen, wohl infolge eines Unfalles, ineinander verkeilt auf der Straße. Davor stand ein Streifenwagen mit eingeschalteten Blaulichtern, die schon matter und langsamer wurden. Das Martinshorn war auch nur noch krächzend zu vernehmen; ein Zeichen, dass der hier schon länger stand. Es war niemand zu sehen. In ausreichendem Abstand hielt ich an, ließ den Wagen aber laufen. Ich stieg aus. Sorgfältig sah ich mich um. In den Fahrzeugen war nichts zu sehen. In den Fenstern der Häuser auch nicht. Es war bis auf die blinkenden Blaulichter keine Bewegung auszumachen. Und doch fühlte ich mich beobachtet. Das Gefühl verursachte beinahe körperliche Schmerzen.
„Schwarzer!“
Ich zuckte zusammen unter dem plötzlichen Schrei. In der Dunkelheit hielt mich wohl jemand für einen Farbigen, weil ich mein Gesicht geschwärzt hatte. Mit einer flüssigen Bewegung zeigte der Lauf der Benelli in die Richtung, aus der ich den Rufer vermutete.
„Schwarzer, nicht schießen, ich komme raus“
Ich antwortete nicht. Mein Herz pumpte schneller. Adrenalin. Ruhig, Alter, ruhig. Regel Nummer eins in Krisensituationen: Ruhig bleiben. Es gewinnt nie der mit der größten Knarre, sondern der mit dem schärfsten Verstand. Und ich glaubte nicht, dass der Typ allein war. Gründe für meine Ahnung hatte ich nicht. Ein reines Instinktgefühl.
Vor den ineinander verkeilten Wagen löste sich ein Schatten aus einem Hauseingang. Knapp 1,75 groß, Glatze, Woodland- Militärhose und sehr zu meiner Überraschung eine Splitterschutzweste. Weiß der Teufel, woher er die hatte. Der Dienstgrad war nicht zu sehen, aber so, wie der Typ sich bewegte, war er es gewohnt, Befehle zu geben. Befehle, die befolgt würden. Todsicher war der nicht allein. Und ich würde Stein und Bein schwören, dass mindestens ein Scharfschütze meinen Brustkorb im Visier hatte.
„Hallo Schwarzer“
Seine Stimme war irgendwie langweilig-neutral. Hörte man sie, vergaß man sie gleich wieder. Nichtssagend war wohl das richtige Wort.
„Leutnant Richter, und sie sind?“
„Oberstleutnant Heinemann. Kommandeur der Einsatzkompanie Tirpitzhafen“
Dachte der, er könne mich veralbern? Ein Sesselpupser war das. Worthengst, Schreibtisch-Seefahrer. Er war Chef der Ausbildungs- Einheit der Einsatzflottille 1.
So weit, so gut. Doch auch wenn er ein Popeldreher war, seine Leute waren es auf keinen Fall. Die Leute der Bordeinsatzkompanie waren gut ausgebildete Spezialisten. Ein zusammengeschweißtes Team, ausgebildet in taktischer Suche. Austrainiert, fit und hell im Kopf. Das BEK hatte die Aufgabe (wie vor Somalia), den Seeraum zu überwachen, Schiffe abzusichern, bewaffnete Eskorten durchzuführen und Schiffe taktisch zu durchsuchen.
Das bedeutete für mich, dass ich auf jeden Fall im Fadenkreuz stand. Ich glaubte auch nicht mehr, dass die Straßensperre zufällig da war. Nur eine BEK konnte das hier taktisch aufbauen. Suchen, sichern, überwachen. Das war ihr Job.
„Herr Oberstleutnant?“ Ich wollte wissen, was er wollte.
„Leutnant Richter, was haben sie vor? Wo ist ihre Einheit und sind sie nicht in der falschen Richtung unterwegs?“ Jetzt wurde es brenzlig.
„Ich bin im Urlaub, Herr Oberstleutnant“
„Ah ja, Seemann, sie sehen auch aus wie ein typischer Urlauber. Wo wollen sie Urlaub machen, in der Ukraine?“
„Nein.“ Ich versuchte, ruhig zu bleiben. „ich sehe nur kurz nach meiner Mutter, dann fahre ich zur Hamburg und nehme meinen Dienst als WSO wieder auf.“
„Ist ihnen bewusst, Soldat, dass ihre Waffe auf mich gerichtet ist?“
Nun hieß es, Farbe bekennen. Entweder ich offenbarte, dass ich den Finger bewusst am Abzug hatte oder ich würde mich fügen müssen. Und spätestens beim zweiten Punkt krampften sich meine Eingeweide zusammen.
„Das ist derselbe Zufall, Herr Oberstleutnant, wie die Tatsache, dass zwei Scharfschützengewehre auf mich gerichtet sind, nicht wahr?“
Mir war nicht klar, wie lange ich das Spielchen durchhalten konnte. Mit den zwei Sicherungsschützen hatte ich ins Blaue graten. Mehr wäre für eine Richtung sinnlos, weniger fahrlässig. Der Fakt, dass ich wohl einen Treffer gelandet hatte, sagte dem Oberstleutnant, dass es eventuell auch Gewehre gäbe, die auf ihn gerichtet wären. Somit stand es patt.
Ich sah ihn an. Der Oberstleutnant war gut im Futter. Seine Einheit hatte ihren Job erledigt. Ich vermutete, dass eine ganze komplette Logistik hinter ihm stand, die er aufgezogen hatte. Aber, und das war der entscheidende Punkt, er agierte nicht in einer Kaserne sondern inmitten der Stadt. Damit hatte er sich hoheitliche Rechte herausgenommen ohne Mandat der Politik. Zu Friedenszeiten nennt man das Besatzung, Rebellion oder schlicht Terrorismus.
„Wir könnten sie hier gebrauchen, Leutnant“ sagte der Mann mit der neutralen Stimme und dem nichtssagenden Gesicht.
„Ich möchte zuerst zu meiner Mutter. Wenn ich dort war, komme ich zurück. Ich muss ohnehin hier durch, wenn ich zum Stützpunkt will, oder?
Der Oberstleutnant dachte nach. Nachdem ich allerdings festgestellt hatte, dass er kein Soldat mehr war, hatte ich Probleme damit, seinen Dienstgrad anzuerkennen. Tat ich es aber, würde er den Braten riechen und ich wäre tot.
„Was ist mit meinen Männern?“ erwiderte ich.
„Die können auch bleiben. Je mehr wir sind, desto größer die Chance.“
„Gut. Und wie komme ich durch die Sperre?“
Der Oberstleutnant drehte sich halb herum und zeigte auf den äußersten, rechten Wagen. Einen demolierten VW Amarok. Ein schwerer Dieselmotor sprang an, ich hörte Kettenglieder rasseln und der VW wurde von einem Bulldozer zurück gezogen.
„Seemann“ eröffnete der Oberstleutnant das Gespräch erneut. Diesmal jedoch in einem versöhnlicherem Tonfall.
„Seemann, wir haben jede Menge Leute verloren. Erwarten sie bitte nicht zuviel. Es sind fast alle tot und nur ganz wenige haben die Seuche überlebt. Wie lange werden sie brauchen?“
„Mal sehen… von hier bis zur Wieland sind es zwei Kilometer. Das Haus durchsuchen, die Schwester und Mutter finden. Wenn sie noch leben, bringe ich sie mit, wenn nicht, komme ich allein. Das mag zwei Stunden dauern, höchstens, wenn ich noch ein paar persönliche Dinge mitnehmen möchte“
„Und ihr Leute?“
„Die bleiben in ihrer Deckung, bis ich wiederkomme“
Er hatte den Braten gefressen und nickte. Zu salutieren vor einem Hochverräter fiel mir schwer. Aber wenn ich überleben wollte, durfte ich nichts anderes tun. Röchelnd und knallend sprang der Wagen nach vorn und ich rollte durch die Sperre. Einen Augenblick lang dachte ich, dass gerade jetzt der beste Zeitpunkt wäre, mich abzuknallen. Es passierte aber nichts.
Ein paar Minuten später bog ich in die Wielandstraße ein. Auch diese Siedlung war scheinbar unberührt von den bürgerkriegsähnlichen Tumulten. Alles lag friedlich da. Das war meine Hoffnung. Als der V6 abgestorben war, legte sich eine unheimliche Stille wie ein Tuch über die Ansiedlung. Nicht einmal ein Hund war zu hören, und hier gab es viele Hunde.
Zielstrebig aber doch mit der Flinte im Anschlag ging ich die Rampe zur Garage hinunter. Hinter einer Säulenzypresse war der Notschalter an der Wand befestigt. 1104 war die Geheimzahl. Die hatte jedes Familienmitglied. Quietschend öffnete sich das Tor und das Licht flammte auf. Ich musste unwillkürlich grinsen. Mein alter, schwarzer 3er stand noch genauso da, wie ich ihn abgestellt hatte. Nur staubiger. Ob der wohl ansprang? Mithin war er um Längen schneller als der idiotische Jeep. Und leiser. Und vollgetankt. Das war einer der Dinge, die man beim Militär lernt. Kehrt ein Fahrzeug zurück in den Stützpunkt, ist als allererstes die Einsatzbereitschaft wieder herzustellen. Dazu gehört in jedem Fall, dass das Fahrzeug vollgetankt wird. Außerdem rostet der Tank nicht, wenn er voll ist. Und da soll einer sagen, Militär sei nutzlos.
Über die Kellertreppe stürmte ich hoch ins Haus, nachdem ich abgewartet hatte, bis die Garagentür sich wieder schloss. Alles dunkel.
„Mam? Sabine?“
Keine Antwort. Mein Herz raste. Ich machte das Flurlicht an.
„Mam?“
Nichts. Kein Geräusch, keine Regung. Nur Stille. In der Küche war alles sauber und aufgeräumt. Ein kurzer Blick in den Kühlschrank sagte mir, dass die Plünderer hier noch nicht gewesen waren. Und ich sah auch, dass seit mehreren Tagen niemand den Kühlschrank geöffnet haben musste. Die Alufolien der Joghurtbecher hatten ähnliche Blähungen wie die Milchtüten. Nicht gut. Gar nicht gut. Das Wohnzimmer war bis auf eine Staubschicht ordentlich und aufgeräumt. Auf der Anrichte im Esszimmer steckte ein Briefumschlag hinter der Wählscheibe des antiquierten Holz-Telefons. Ich öffnete den Umschlag.
„Schau bitte nach Vater“ Unterschrift SS. Sonja und Sabine. Vater war seit vier Jahren tot. Er lag auf dem Nordfriedhof. Meine schlaue Schwester hatte Brotkrumen gesät. Cleveres Mädchen.
Im Keller suchte ich so lange, bis ich einen Rucksack fand. Draußen beim Jeep stopfte ich alles, was ich brauchen würde, hinein. Munition, Brot, zwei Tetrapacks Eistee und drei Salami aus Mutters Keller. Da wir uns im Ausnahmezustand befanden, könnte ich wohl auf Kennzeichen verzichten. Ich startete den Motor meines alten BMW. Wie gewohnt lief das Triebwerk nach wenigen Sekunden fehlerfrei. Ein Hoch auf deutsche Ingenieurskunst.
Dann fuhr ich los. Weit weniger spektakulär als zuvor. Und da ich nach Norden musste, konnte ich die Barriere des Oberstleutnants umfahren. Trotzdem dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis ich am Friedhof war. Auch hier eine, im wahrsten Sinne, Todesstille. Zielstrebig und doch vorsichtig hastete ich zu Vaters Grab. Ein kleiner, verwelkter Blumenstrauß steckte in einer dieser dunkelgrünen Plastikvasen, die man ins Erdreich stecken konnte. Doch die Vase war durch ein Papier gesteckt worden. Ein Prospekt von LIDL. Die Angebote galten für diese Woche, also war der Prospekt eine Woche alt. Ein Lebenszeichen?
Die Frontseite sah ich mir genauer an. Denn der LIDL-Schriftzug war mit einem neonroten Marker bemalt worden. Mir fiel es wieder ein. An irgendeinem Geburtstag, mag es der 40ste oder 41ste gewesen sein, unterhielt ich mich mit meiner Schwester, was ich machen würde, wenn der Krieg ausbräche. Ich sagte:
„Oben im Norden, im Industriegebiet ist die Verteilerzentrale von LIDL. Dort lagern jeden Tag 60 Paletten Kaffee, 60 Paletten Brot, 60 Paletten Getränke und eigentlich alles, was man für ein langes Leben braucht, sofern man es verteidigen kann“
Wir machten uns noch lustig darüber, dass man wohl an jede Ecke des Lagerhauses ein Maschinengewehr anbringen müsste. Dummerweise bräuchte man dafür Leute. Und ich wusste in diesem Augenblick, wohin Sabine mit Mutter geflohen war. Schlaues Mädchen. Und nicht einmal weit weg von hier.
Es dauerte keine zehn Minuten, bis ich im Industriegebiet war. Hier war alles stockfinster. Den Wagen parkte ich in einem Kilometer Abstand zum Lagerhaus. Wer weiß, wer dort noch so alles herumwimmelt. Zu Fuß, die Benelli im Anschlag, schlich ich in Richtung Tor. Als ich es sehen konnte, wurde ich noch vorsichtiger. Irgendetwas sagte mir, dass hier nichts in Ordnung war. Das Fahrzeug-Tor war geschlossen. Zweieinhalb Meter hoch mit Stacheldraht obendrauf. Unbeschädigt. Das Personendrehkreuz jedoch war offen. Sollte ich mich bemerkbar machen? Mein Instinkt sagte: „Nein“.
Mir war klar, dass ich das Gelände nicht umrunden musste, um zu wissen, dass der Zaun lückenlos und unversehrt war. Es nützte nichts, wenn ich auf das Gelände wollte, musste ich durchs Tor, beziehungsweise durchs Drehkreuz. Gottlob quietschte es nicht wie Opa Schmittkes Garage. Nun war ich auf dem Gelände, aber noch nicht an der Halle. Zwischen mir und dem Lager gab es eine endlos weite Parkfläche für LKW. Auf den am weitesten Plötzen links standen ein paar abgesattelte Kühlzüge, deren Aggregate jedoch nicht liefen. Davor standen zwei Solo- Zugmaschinen. Ein Iveco Straelis und ein Mercedes.
Mit gleichmäßigen Bewegungen schlich ich am Zaun entlang, spurtete dann zwischen die Trailer und sah mich lauernd um. Es rührte sich rein Garnichts. Alles mausetot, wie es schien. Da, eine winzige Bewegung auf dem Dach des Lagers! Lange, schwarze Haare glänzten für den Bruchteil einer Sekunde im Sternenlicht. Sabine!
„Flossen hoch, Leutnant!“, herrschte mich eine langweilig-neutrale Stimme hinter mir an, "Und lass die Kanone fallen.“
Langsam lehnte ich die Benelli an die Stütze des Trailers links neben mir. So ein Scheißkerl. Mein Trumpf war die alte Walther, die vorn in meinem Gürtel steckte und die der Oberstleutnant nicht sehen konnte. Langsam lehnte ich die Benelli an die Stütze des Trailers links neben mir. So ein Scheißkerl. Mein Trumpf war die alte Walther, die vorn in meinem Gürtel steckte und die der Oberstleutnant nicht sehen konnte. Er nicht, aber der Mann mit dem Nachtsichtgerät gegenüber an der Hausecke sehr wohl. Als ich nach der Pistole griff, erwischte mich die Schrotladung und es wurde endgültig Nacht.