Beinhart und engelsgleich
Das Universum befindet sich in Bewegung.
Das Universum ist Bewegung.
Hans steht an der Bushaltestelle. Er wartet. Wartet und friert. Es ist ein
kalter Dezemberabend. Er hält ein Paket in der Hand. Eben war noch ein leises
Ticken zu hören. Aber nun hat es aufgehört. Sie wollte ihn am Glühweinstand
treffen. Abends um sechs. Nun ist es bereits halb sieben. Die antike Uhr, die er
ergattert hat, tickt nicht mehr. Sie steht still.
Überhaupt scheint so einiges stehengeblieben zu sein in letzter Zeit, denkt er.
Dabei war eben noch alles so hektisch gewesen im Stadtzentrum. Hektik bei
gleichzeitigem Stillstand, so war es ihm vorgekommen. Alle rannten, hetzten,
wuselten und doch schienen sie nicht vom Fleck zu kommen. Wie seine Beziehung
mit Julia. Obwohl, eigentlich war es ja noch gar keine. Sie mochten sich, soviel
war klar, aber wie auch die Menschenmassen in der vom Weihnachtsmarkt
blockierten Innenstadt kamen sie einfach nicht weiter. Sie hatte ein Faible für
antike Uhren, das wusste er noch. Sie hatte ihm sogar erzählt warum, aber das
hatte er nicht mitbekommen. Zu viele Menschen am Glühweinstand, zu viel
Weihnachtsmusik. Und er hatte mehr ihre Nasenspitze beobachtet, die sich
bewegte, wenn sie redete, als dass er wirklich auf ihre Worte geachtet hatte.
Heute hatte er in einem Antiquitätengeschäft eine Uhr gefunden, von der er
hoffte, sie würde ihr gefallen. Jetzt hatte sie aufgehört zu ticken. Und Julia
war nicht wieder zum Glühweinstand gekommen. Die Stille rauscht in seinem Kopf.
Millionen und Abermillionen kleinster und feinster Vorgänge greifen ineinander wie Zahnräder, wieder und wieder, und formen dadurch größere Vorgänge, die auch wieder ineinandergreifen wie ein gigantisches Uhrwerk. Dinge entstehen, immer wieder, immer wieder neu, setzen sich zu größeren Dingen zusammen, zu Nebeln, Sternen, Planeten. Und auch dort kommt das Universum nicht zur Ruhe: Leben entsteht, blüht, vergeht und auf den Resten des Vergangenen wächst etwas Neues.
Nur wer innehalten kann, Stille auszuhalten vermag und ganz, wirklich ganz genau hinhört, kann die Zahnräder der unermesslich großen, unbegreiflichen Maschine des Universums surren hören.
Wer lange genug lauscht und sich ein bisschen auskennt, kann, wenn er großes Glück hat, sogar hie und da ein leises Knirschen vernehmen. Das passiert immer dann, wenn etwas aus dem Takt gerät oder einer der unzähligen Vorgänge langsam zum Stillstand kommt, denn nichts ist wirklich perfekt. Nicht einmal das Universum. Ganz besonders nicht an den Rändern der Galaxien. In so einem Randbereich befindet sich unsere Erde. Und ja, hier knirscht es öfter mal.
Ich bin spät dran, aber ich kann es schaffen. Muss es schaffen. Irgendwie
schaffe ich es ja immer, jedes Jahr. Alle Jahre wieder. Hah! Und keiner fragt
mal, wie ich das überhaupt jedesmal hinbekomme, oder was es mich kostet. Als
wenn das alles so leicht wäre! Sie tun so, als wäre es ein Perpetuum Mobile, das
man nur eben mal kurz anstupsen muss. Hätte nicht übel Lust, sie mal hängen zu
lassen, dieses Jahr.
Sie springt die letzten drei Stufen herab. Ihre schweren Stiefel mit den
Stahlkappen landen auf dem staubigen Betonboden. Sie lässt ihren Werkzeugkoffer fallen und schaut nach oben, entlang der schmiedeeisernen Wendeltreppe bis zu dem hellen Loch, das kaum noch zu sehen ist. Eine Staubwolke schwebt durch die Luft. Einzelne Partikel glitzern im Licht. Sie streicht sich die glatten, schwarzen Haare aus dem Gesicht. Ein dumpfes Summen schreckt sie aus ihren Gedanken. Sie holt ein Mobiltelefon aus ihrer Jackentasche, aufgeregtes Geschrei dringt aus dem Gerät. Sie hält das Handy ca. zehn Zentimeter entfernt an ihr Ohr und antwortet mit stoischer Ruhe: „Ja, ich bin schon da. Ja, ich hör dich, du musst nicht so brüllen ... Natürlich weiß ich das, ich mach das doch nicht zum ersten Mal ... Ja ... ja“. Das Mobiltelefon verschwindet wieder in der Jackentasche.
Sie drückt mit aller Kraft. Sie drückt und stöhnt und flucht. Es bewegt sich
nichts. Sie schwitzt. Ihre Füße stemmen sich in den Boden, ihre Arme vibrieren
vor Anspannung. Sie schiebt am Zahn eines riesigen Zahnrades. Das Metall ist mit Rost überzogen, der in verschiedenen Brauntönen schimmert.
Es muss gehen. Es geht doch immer. Irgendetwas klemmt. Jetzt dreh dich
endlich, mach schon. Ich brauche noch mehr Öl.
Sie nimmt einen Ölkanister aus ihrem Werkzeugkoffer und gießt großzügig Öl in
einige Gewinde. Die Konstruktion ist von gewaltigem Ausmaß aber wegen der
Lichtverhältnisse nur schemenhaft zu erkennen. Sie nimmt einen großen Hammer aus ihrem Werkzeugkoffer und haut an einigen Stellen mit voller Kraft gegen das Metall.
Das hab ich mir doch gedacht. Nicht schon wieder!
Sie schwingt sich auf ein Metallrohr und zieht sich weiter nach oben. Sie bückt
sich und zieht an einem Gegenstand, der sich in einem Zahnrad verkeilt hat. Das
Metallmonstrum wird von verschiedenen Fremdkörpern befreit: eine plattgedrückte Cola-Dose, ein zerrupfter Plastikweihnachtsbaum, ein Engel als
Weihnachtsbaumschmuck - erstaunlich unversehrt - sowie ein Laubbläser.
Das dürfte es gewesen sein. Dieses Mal! Lange geht das nicht mehr gut.
Genauso wie damals mit der Überschwemmung. Seit Ewigkeiten hab ich gesagt, die Rohre müssten mal langsam ausgetauscht werden. Aber hört jemand auf mich? Nein, natürlich nicht. Es heißt nur, Lucia motzt ja sowieso ständig rum, die müssen wir nicht so ernst nehmen. Aber als dann doch mal was passiert ist, sagen sie nur: „Hoppla. Das war nicht vorauszusehen.“ Typisch! Und als schon fast alles unter Wasser steht, fällt ihnen plötzlich ein, dass das Malheur eigentlich grad ganz gut passt und es wird irgendein Superheld ausgegraben, der gemütlich mit ein paar Tieren auf seinem Boot rumschippert, bis alles wieder abgelaufen ist.
Und hinterher verkaufen sie es noch als ihre eigene Idee!
Und jetzt das wieder. Sie wissen ja, dass ich es hinbekomme. Irgendwie bekomme ich es immer hin. Aber außer mir ist ja auch keiner da! Die anderen Spezialisten sind schon voll ausgelastet. Blondie will sich nicht die Finger schmutzig machen. Es könnte ja ein Staubkorn auf ihre Goldlöckchen fallen. Hinterher dankt es einem keiner. In den Jahresbericht soll es auch nicht. Weil keiner den Alten aufschrecken und ihm stecken will, dass sein ehemaliges Lieblingsprojekt gerade den Bach runtergeht. Dann heißt es nur wieder, er müsse nochmal seinen Sohn schicken, weil wir mal wieder versagt haben.
Das Zahnrad anzuschieben kostet ungeheure Kraft, aber es kommt nun knirschend und widerwillig in Gang. Ein lautes Hämmern ist jedesmal zu hören, wenn die Zacken von zwei Zahnrädern aufeinandertreffen. Die Abstände zwischen den Tönen werden kürzer, sie schiebt weiter. Rost und Staub rieseln von oben auf ihr Gewand. Sie schwitzt und schiebt, schneller und schneller. Sie haut noch einmal mit dem Hammer gegen ein Gewinde und das Zahnrad läuft, wie von selbst.
Besonders knirscht es immer zur gleichen Zeit: Am Jahresende. Wir Menschen glauben, dass es an uns liegt, doch die Jahreszeit, die kurzen Tage, der Stress, Traditionen ... Alles das ist nur ein Teil der Wahrheit, das, was unser begrenzter Verstand uns sehen lässt. Hier draußen, am Rande der Galaxie, sind die Abläufe des Universums schon ein wenig ausgeleiert, Zahnräder quietschen, Triebfedern machen schlapp.
Wenn das passiert, dann schlägt die Stunde einer besonderen Gattung von Engeln, einer Elitetruppe, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn es wirklich brenzlig wird. Beinharte Himmelswesen, denen die Apokalypse nur ein müdes Lächeln entlockt. Eine Spezialausbildung in Mechatronik, Installateurshandwerk, kosmischer Harmonik und ein unerschütterliches Gemüt sind die Kennzeichen dieser Engel. Hätte einer von ihnen während der Sintflut Bereitschaftsdienst gehabt, hätte er die Sache mit einem Wischmop aus der Welt geschafft, ohne mit der Wimper zu zucken. Wir sind sicher alle schon einem begegnet. Wäre kein Wunder, so oft wie es hier knirscht.
Wenn es wieder einmal so aussieht, als wäre der Kollaps unvermeidlich, als stünde der Untergang vor unserer Tür, können wir uns auf diese unerschütterlichen Wesen verlassen. Einer aus ihrer Mitte wird kommen, mit festem Schritt in die Tiefen unserer ins Wanken geratenen Welt hinabsteigen. Wir können darauf bauen, dass er mit klarem, durchdringendem Blick das Sandkorn im Getriebe erkennt. Er wird es mit sicherer Hand entfernen, die Störung tilgen, dem Räderwerk der Welt neuen Atem verschaffen.
Da steht er nun an der Bushaltestelle, seltsamerweise allein, obwohl nur ein
paar Straßen weiter das Stadtzentrum nur so wimmelt vor Menschen. Hinter der
Bushaltestelle ist ein Loch in der Wiese. Er könnte schwören, dass dieses Loch
noch nicht da gewesen ist, als er in die Stadt fuhr. Dabei war es mit rot-weißen
Plastik-Absperrungen gesichert und es sah wirklich tief aus. Ein ramponierter
Weihnachtsbaum aus Plastik liegt daneben, eine Cola-Dose. Er sieht noch einmal
genauer hin. Da liegt tatsächlich auch noch ein verbeulter Laubbläser.
Er hatte lange gewartet und es schien immer stiller zu werden, obwohl weiter
Autos an ihm vorbeifuhren. Und so langsam hatte er dieses beinah unheimliche
Gefühl einer Leere, nein, eines absoluten Stillstandes gehabt. Dann war da sowas
wie ein gewaltiger Ruck gewesen, ein Stoß, der die ganze Welt ... na ja,
zumindest die ganze Straße in der er stand, einen winzigen Augenblick
durchgerüttelt hatte.
Plötzlich taucht, wie aus dem Nichts, eine Frau auf, er könnte schwören, sie
kommt von der Wiese. Eine seltsame Gestalt, mit langen schwarzen Haaren, grobe Arbeitsstiefel mit Stahlkappen an den Füßen. Sie scheint irgendwie zu leuchten, aber das werden wohl nur die vom Schnee reflektierten Strahlen sein. Sie trägt einen Werkzeugkoffer, stellt sich neben ihn an die Bushaltestelle und ist in ein Telefongespräch vertieft. Unauffällig hört er zu:
„Ja, ich hab es geschafft, aber das geht nicht mehr lange gut. Ihr müsst euch
wirklich was überlegen. Nochmal eine Sintflut oder die Märtyrernummer, ist mir
egal ... Nee, ich hau mich lieber auf's Ohr ... meinetwegen ... frohe Weihnachten? ... ja, die hätte ich auch gerne mal.“
Ihr habts echt gut, ihr macht eure Weihnachtseinkäufe während ich euch mal
wieder den Arsch gerettet hab, denkt sie.
Wie jedes Jahr. Alle Jahre
wieder. Haha.
Als sie das Handy in ihrer Jacke verschwinden lässt, scheint sie zum ersten mal
zu bemerken, dass da noch jemand ist, außer ihr. Sie hebt eine Augenbraue und
sagt mit einem spöttischen Grinsen: "Guck nich so, Kleiner, sonst krichich
Angst. Wirklich."
Er beeilt sich, woanders hinzusehen und hebt das Paket ans Ohr. Die Uhr tickt
wieder. Aber das ist jetzt auch nicht mehr wichtig, Julia ist nicht am
Glühweinstand gewesen.
Er blickt auf. Drüben auf der anderen Straßenseite hält ein Taxi, jemand steigt
aus. Er sieht den Fahrer noch kurz mit der Hand winken und wegfahren. Die Person aus dem Taxi steht an der Straße und schaut nach links, dann nach rechts ... Julia!