Nur ein Traum?
Andrea liegt in ihrem Bett und starrt die Tapete an der gegenüber liegenden Wand an. Sie ist jetzt Sechs und der Meinung, dass das Elfen- und Zwergen - Motiv darauf nicht mehr ihrem Alter entspricht. Sie teilt sich das Kinderzimmer mit ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder Paul, und die Tapete gab es schon, als Paul noch nicht geboren war. Sie ist noch nicht müde, aber Paul atmet gleichmäßig. Er ist im Land der Träume.
Morgen ist Heiligabend. Sie freut sich schon so lange darauf, aber Zahnschmerzen trüben ihre Vorfreude. Ihrer Mutter hat sie nichts von ihren Beschwerden gesagt, denn sie hat Angst vor dem Zahnarzt. Sie führt ihre kalte Hand an die heiße Wange, um sie etwas zu kühlen. Die Schmerzen lassen aber nicht nach. Der Zahn pocht unaufhörlich weiter.
Sie starrt auf die Kindertapete. Doch was ist das? Die bunte Tapete färbt sich grau, und zwei der Elfen lösen sich von dem Hintergrund und bewegen sich mit ihren noch rosa Flügelchen auf die Stromverteilerdose in der Nähe der Zimmertür zu. Langsam postieren sie sich rechts und links der Dose und beginnen sie zur Seite zu schieben. „Paul, siehst du das auch?“, haucht Andrea. Aber ihr Bruder schläft tief und fest. Sie setzt sich im Bett auf. Die Zahnschmerzen sind vergessen.
Als die kleinen Wesen den Dosendeckel vollständig zur Seite geschoben haben, drehen sie sich zu Andrea um und winken sie heran. „Komm, Andrea. Du musst mit uns gehen. Du bist der einzige Mensch, der uns noch helfen kann.“ Die Märchenwesen fliegen jetzt auf Andrea zu, und sie ist sehr erstaunt, dass sie immer größer werden. Nein, sie selbst wird kleiner! Der Raum kommt ihr jetzt riesig vor. „Komm mit uns!“ Sie greifen nach Andreas Händen und fliegen mit ihr zur Abzweigdose. „Hab keine Angst, kleines Menschenkind. Es kann dir nichts passieren.“ Mit diesen Worten bewegen sie sich auf das schwarze Loch in der Wand zu. Andrea verspürt keine Angst. Sie hat die Neugierde gepackt.
Auf dem Flug durch den langen schwarzen Gang, fragt sich Andrea wie das möglich ist. Aber sie findet keine Erklärung. Sie hofft, dass sie bald Licht sieht, auf das sie zufliegen können, aber diese Hoffnung wird enttäuscht. Am Ende des Ganges landen sie in einer Welt, die nur aus Grautönen besteht. Hier scheint ewige Nacht zu herrschen. Auch die Flügel der Elfen haben sich dunkel verfärbt. „Wo sind wir?“, fragt Andrea. „Was ist hier geschehen? Warum ist hier alles so düster!“ Sie sind auf grauem Gasen gelandet. „Wir sind in unserer Welt!“, antworten die kleinen Wesen wie aus einem Mund. „Früher war hier alles hell und bunt. Ein wirklich schönes Land. Aber seit einiger Zeit leben wir nur noch in diesen Grautönen, und es kommt keine Freude mehr auf. Wir haben schon lange kein Lachen mehr gehört. Siehst du das schwarze Schloss dort in der Ferne?“ Sie deuten auf einen hohen Berg, auf dessen Spitze sich ein dunkles Gebäude dem grauen Himmel entgegen streckt. „Dort wohnt der Weihnachtsmann, wenn er nicht am Nordpol beschäftigt ist. Er wacht über uns und unsere sonst so farbenfrohe Welt. Seit einiger Zeit allerdings wird unsere Welt immer dunkler, und wir wissen nicht mehr, was wir noch machen sollen. Er lässt niemanden zu sich. Nur du kannst uns die Farben und unser Lachen wieder bringen.“
Andrea sieht zu dem Berg hinüber, zu dessen Fuß sich dunkle Nebelschwaden dem Haus entgegen schlängeln. Sie fühlt freudige Erregung in sich aufsteigen. Sie soll endlich den Weihnachtsmann kennen lernen? Diesen freundlichen Mann, der keinem Kind etwas zu Leide tun würde? „Du musst alleine gehen. Wir dürfen dich nicht begleiten. Sonst erzürnen wir ihn noch mehr.“, sagt eine der Elfen. „Kein Problem!“, antwortet Andrea. „Er wird mir nichts tun!“ Mit festen Schritten bewegt Andrea sich durch die dunkle Welt. Sie sieht auf ihrem Weg keine Lebewesen. Alle scheinen sich aus Angst verkrochen zu haben.
Dann steht sie vor einem großen Tor, welches nicht verschlossen ist. Sie drückt es auf und betritt das alte Gemäuer. Auch hier gibt es keine hellen Farben. Es herrscht ein düsteres Grau in Grau. Sie geht durch den langen Gang, der vor ihr liegt und bleibt vor einer geschlossenen Tür stehen, hinter der lautes Gejammer zu hören ist.
Als sie sie öffnet, sieht sie den Weihnachtsmann in einem großen Sessel sitzen. Er hält sich seine rechte Wange. Er hat nicht mitbekommen, dass ein Menschkind bei ihm ist. „Oh je, oh je. Wie soll man das aushalten? Es tut so weh!“, jammert er. Andrea tritt an ihn heran. „Was ist mit dir, lieber Weihnachtsmann? Morgen ist Heiligabend. Du müsstest am Nordpol sein und dich auf deine Reise vorbereiten. Stattdessen sitzt du hier und jammerst. Und die Märchenwelt hast du auch ganz dunkel gemacht. Es gibt keine Farben mehr, außer grau und schwarz. Alle sind verängstigt.“ Langsam schaut der alte Mann auf. „Was willst du hier, Mädchen? Weihnachten fällt dieses Jahr aus!“, brummt er. „Ich hab so entsetzliche Zahnschmerzen!“ „Aber dann musst du doch nur zum Zahnarzt gehen, und alles ist wieder gut.“ „Nein, ich habe so furchtbare Angst!“ „Ach, Weihnachtsmann. Ich hatte gestern auch Angst vor dem Zahnarzt und hab darum niemanden etwas von meinen Schmerzen erzählt. Ich kann dich also gut verstehen. Aber wenn du mir jetzt versprichst dir helfen zu lassen, werde ich morgen auch meinen Zahn reparieren lassen. Du darfst die Kinder dieser Welt nicht enttäuschen“ Der Mann sieht das Mädchen an. „Das ist sehr erwachsen von dir. Wenn ein so kleines Mädchen zum Zahnarzt gehen kann, dann kann es für mich auch kein Problem sein.“ Er erhebt sich. „Warte hier. Ich bin gleich wieder da.“
Andrea setzt sich in den Sessel des Weihnachtsmanns. Er ist so bequem, dass ihr bald die Augen zufallen. Als sie sie wieder öffnet, liegt sie in ihrem Bett, und ein Blick zur Wand zeigt ihr, dass die Verteilerdose wieder geschlossen ist, und die Motive auf der Tapete wieder bunt sind. Sie springt auf und rennt in die Küche, wo ihre Mutter das Frühstück zubereitet. „Mama schnell, wir müssen zum Zahnarzt!“, ruft sie. „Der Weihnachtsmann hat Wort gehalten!“ Die Mutter versteht rein gar nichts, als ihre Tochter versucht ihr die Geschehnisse der Nacht zu erklären. Sie versteht nur, dass ihr Kind Zahnschmerzen hat.
Am Abend, als Andrea ihre Geschenke unter dem Tannenbaum öffnet, fällt ihr eine kleine Karte auf. Sie nimmt sie zur Hand uns liest:
Liebe Andrea, ich danke dir, dass du Weihnachten gerettet und das Märchenland wieder bunt gemacht hast. Ich hoffe du hast dich auch an dein Verspechen gehalten. Der Weihnachtsmann
War es doch kein Traum?