Die Geschichte des vergessenen Weihnachtsengels
Es ist dunkel. Nein. Man gewöhnt sich nicht daran. Ganz im Gegenteil. Es wird immer unerträglicher. Gerade, wenn man durch die Ritzen helle Lichtstreifen wahrnimmt. Ganz haarfeine Lichtstreifen. Auf die starre ich, und starre ich, stundenlang, bis sie verstummen, immer schwächer werden. Dann ist alles schwarz. Nur noch viel schlimmer. Dann ist Nacht.
Anfangs habe ich noch versucht die Nächte zu zählen. Ich habe versucht in den Lichtstreifen Figuren zu erkennen. Und ich habe geschrieen. Lange. Sehr lange, so lange, bis ich so heiser war, dass meine Stimme weg war, nur noch ein Krächzen. Gott sei Dank ist sie wieder gekommen, irgendwann war sie wieder da, ein Flüstern, doch da, und langsam habe ich sie wieder und wieder eingesetzt, doch darüber, über diesen ganzen Stress, wusste ich die Nächte nicht mehr genau. Ich hab sie einfach geschätzt. Fünfzig. Hundert. Zweihundert. Irgendwann wird das auch egal.
Doch ich bin nicht allein. Das nicht. Doch keiner redet mit mir. Ich habe es immer und immer wieder versucht. Entweder sind alle stumm, mundtot gemacht von diesem schwarzen Grauen – oder – oder sie wollen nicht mit mir reden. Sie wollen nicht, weil ich oben bin. Immer oben.
Einmal dachte ich schon: Jetzt! Jetzt ist es soweit! Endlich. Ich fühlte, wie ich hochgehoben wurde, ich, ich und die anderen, und mir wurde ganz leicht ums Herz. Ja, rief ich, ja, jetzt, ja.
Doch dann wurde ich fallengelassen, mit einem Knall fallengelassen. Auf die Seite gekippt. Achtlos weggeschubst.
Seitdem liege ich auf dem Bauch. Mein Gesicht wird von einer Trompete und von einer Zuckerstange gequetscht und eine Socke verschließt komplett meinen Mund.
Ich hab es versucht. Ich hab versucht zu schreien. Dabei habe ich die Socke nur noch weiter in meinen Mund gedrückt. Für einen Moment dachte ich: jetzt muss ich würgen. Würgen und. Dann habe ich langsam, ganz langsam geatmet. Mich wieder beruhigt. Soweit das eben möglich ist.
Denn so richtig beruhigen kann ich mich nicht! Ich liege nicht mehr oben. Ich bin irgendwie nach unten gerutscht. Ich wüsste zu gern, wer auf mir liegt, doch ich kann mich nicht umdrehen. Ich stecke fest. Ich fühle etwas Kaltes, Hartes, Raues, und es ist schwer. Obwohl ich die hellen Ritzen nicht mehr sehen kann, es ist verrückt, aber ich fühle sie noch. Ich fühle wie das Licht hereinkommt, hereinkommen will, ein süßes Versprechen. Wann. Wann ist es endlich soweit.
Ich wache auf. Es schaukelt und wackelt ganz fürchterlich. Mir ist schlecht. Ich rutsche, ich rutsche tiefer und weiter, doch auf einmal bin ich die Socke los. Ich schreie.
„Ruhe!“, die tiefe Stimme neben mir lässt mich verstummen. Es ist der alte Mann.
„Hörst du mich?“, frage ich noch, da bricht das Licht herein, mit brutaler Gewalt, so hell, es blendet mich, ich kann nichts mehr sehen. Gar nichts mehr. Es tut weh. Fürchterlich weh.
„Dieses Mal…“.
Das ist ihre Stimme! Ja. Jetzt. Jetzt ist es soweit! Ihre Stimme, die höre ich aus tausenden Stimmen heraus. Ja. Jetzt, ist es soweit. Ich freue mich. Ich freue mich so, dass Tränen über mein Gesicht laufen.
„Dieses Mal“, sagt sie „dürft ihr den Baum schmücken.“
Wie? Was? Wen meint sie damit? Meint sie diese zwei Rabauken, diese schreienden blöden Bälger? Meint sie diese kleinen Ungeheuer, die jedes Jahr Nusswurfgeschosse nach mir werfen, die jedes Jahr versuchen mich abzuschiessen? Ich reisse die Augen auf und jetzt laufen Tränes des Schmerzes, Tränen des Zorns über mein Gesicht.
„Nein!“, schreie ich. „Nein, die doch nicht!“
Und dann beginnt ein noch größerer Alptraum. Mein Herz klopft wie verrückt. Ich werde durchgerüttelt. Ich höre den alten Mann stöhnen, als er achtlos beiseite gekippt wird. Neben mir platzt eine Kugel. Ich schließe schnell die Augen, ein kleiner Splitter steckt in meinem Gesicht. Ungestüme Hände packen und reißen, zerren und schütteln.
„Wie machen wir es?“, fragt das Ungeheuer, mit der zarten Stimme, das Ungeheuer, das nicht ganz so schlimm ist.
„Egal, Hauptsache schnell. Und bunt. Die Autos da, und die Schlitten, die find ich cool, die hängen wir hin.“
Neben mir und unter mir, über mir, packen diese Hände zu, ich höre Kichern und Lachen, doch es gellt in meinen Ohren. So doch nicht! So gehört das doch nicht! Die Zuckerstangen haben doch dort nichts verloren. Außerdem fängt man doch oben an! Ich! Ich bin oben!
Ich versuche es. Ich versuche es wirklich. Ich versuche mich zu beruhigen. Gut. Gut, denke ich. Sie fangen halt unten an. Sie sind kleiner. Sie fangen unten an. Oben kommt am Schluß. Das Beste kommt immer am Schluß. Leerer und leerer wird der Platz neben mir. Selbst die verbeulte Trompete wird herausgeholt. Ich rutsche. Tiefer und tiefer rutsche ich nach unten. Es riecht nach altem Papier.
„Schön“, sagt sie.
Da ist sie wieder. Ihre Stimme ist Musik, ist Hoffnung, ist Freude. Jetzt. Jetzt wird sie es merken. Sie wird den Fehler merken. Sie wird mich herausholen. Sie wird mich herausholen und ganz oben, ganz oben wird sie mich stellen, ich werde sie alle, alle übertrumpfen. Mein Herz klopft wie verrückt.
„Das habt ihr sehr schön gemacht.“
Und dann wird es dunkel. Ganz schlimm dunkel. Das helle warme Licht, weg. Ausgesperrt. Der Käfig zugemacht. Mir bleibt das Herz stehen. Ich fühle wie ich kurz hochgehoben werde. Und dann höre ich eine Tür quietschen. Und dann werde ich ins Freie geschoben. Es ist fürchterlich kalt. Ich schlottere und bibbere. Ich versuche unter die Papierreste zu kriechen. Ich kann mich jetzt etwas bewegen. Doch sie wärmen mich nicht.
Sie haben mich vergessen! Mich und den alten Mann, den ich leise stöhnen höre. Vergessen. Ich höre Besteck über Porzellan schleifen, gedämpfte Musik, das Stöhnen des alten Mannes, das leiser und leiser wird. Mein eigner Herzschlag. Langsamer und langsamer. Mir ist kalt. Unerträglich kalt.