An Martin
Schon seit einiger Zeit war mir der junge Mann aufgefallen, der seit den letzten warmen Tagen des Sommers stets zur selben Zeit an der gleichen Stelle gegenüber meinem Küchenfenster auf der Straße saß. Eigentlich sah er nicht wirklich obdachlos aus. Sein Haar war nicht verfilzt und sein Gesicht nie schmutzig.
Gut an der Kleidung sah man es, die ihm viel zu groß war und wie ein Sack an ihm herunterhing. Auf seiner Isomatte, die auch schon bessere Zeiten gesehen hatte, saß er an einen alten Tornister gelehnt, in dem er wohl seine wenigen Habseligkeiten verstaut hatte. Ihn in einen Anzug gesteckt und er könnte glatt als Banker durchgehen. Ich fragte mich, warum er auf der Straße lebte und was ihn wohl dazu gebracht hatte, sein bisheriges anscheinend geordnetes Leben aufzugeben.
Er saß einfach nur da, bettelte nicht, sprach nicht und sein Blick ging in eine unbekannte Ferne. Mir fiel auf, dass er nie betrunken war. Aus diesem Grund gewöhnte ich mir an, ihm jeden Morgen, wenn ich zur Arbeit ging, ein paar Euros auf seine Matte zu legen. Dann - für einen kurzen Moment – verschwand die Leere in seinem Blick, er sah mich an und bedankte sich mit einer angenehmen Stimme.
Eines Morgens, es war schon Herbst und kühler, blickte ich Kaffee kochend aus dem Fenster. Er hatte sich gegen die Kälte des Morgens in eine alte Decke gehüllt, dieser Anblick dauerte mich und ich beschloss ihm einen heißen Kaffee und ein belegtes Brot vorbei zu bringen, denn noch nie hatte ich ihn einen Bissen essen sehen.
Sein dankbares Lächeln war fast überirdisch als er seine klammen Finger an der Tasse wärmte und so wurde es mein tägliches Ritual. Irgendwann begann er mehr als „Danke“ zu sagen. Ich stellte erfreut fest, dass hinter seiner Stirn ein blitzgescheiter Verstand saß. Unsere kleinen täglichen Wortspiele hatten für mich Suchtfaktor.
Ich fragte ihn, warum er nicht zur „Tafel“ ging, um sich dort Lebensmittel zu holen. Er antwortete, er brauche die vier Euro für das Asyl, in das er am Abend ging um zu duschen und mit viel Glück auf einem harten Feldbett zu schlafen. Mein Gewissen rührte sich, denn seit ich ihm täglich das Frühstück brachte, hatte ich meine Geldspenden eingestellt.
Es ging auf Weihnachten zu und an einem Wintermorgen fragte ich ihn, ob er mit mir zum Weihnachtsessen bei meinen Eltern käme. Sein Blick war ziemlich verdutzt, einen Moment dachte er nach, dann sah mich mit traurigem Blick an und meinte peinlich berührt: „ Das ist wirklich sehr nett von dir, aber ich bin keine gute Gesellschaft, außerdem habe ich Läuse!“
„Egal! Ich möchte gerne, dass mich begleitest. Du kannst heute Abend zu mir kommen, ich besorge ein Läusemittel in der Apotheke und bringe dir neue Kleidung mit. Du kannst auf meinem Sofa schlafen und morgen Mittag fahren wir zu meinen Eltern. Ich bitte dich, komm` mit, bitte?!“
Ich weiß ja auch nicht, was ich mir dabei dachte, einen wildfremden obdachlosen Mann in meine Wohnung zu bitten und ihn meinen Eltern zu präsentieren, war ich ein bisschen in diesen melancholischen Mann verliebt? Oder wollte ich ihn retten und wenn ja, vor was? Vor der Welt, vor ihm, vor seinen Erinnerungen? Ich wusste nur, dass er Martin hieß – das musste vorerst genügen.
Den Rehäugleinbettelblick hatte ich seit meiner Kindheit gut trainiert und er versagte selten bis nie. „Na schön, Felicitas“, meinte er resignierend „ du hast gewonnen, wie könnte ich ein solch tolles Angebot ablehnen, im Asyl erwarten mich nur stinkende alte Männer. Ich danke dir und das Läusemittel kannst du vergessen, ich sagte es nur, um dich abzuschrecken.“ Sein Lächeln war das schönste, das ich je gesehen hatte und ein warmes Hochgefühl breitete sich in mir aus.
Am Abend betrat er etwas verschämt meine Wohnung. Während er duschte, bereitete ich ein leichtes Abendessen zu. Die Schmetterlinge in meinem Bauch stoben auf, als er frisch gewaschen und in den neuen Sachen in meine Küche trat. Was für ein Bild von einem Mann! In meinem Geist plante ich sein künftiges Leben, nach Weihnachten würde ich einen alten Freund anrufen, der eine eigene Firma besaß, der hätte doch bestimmt einen Job für so einen intelligenten Menschen, vorerst könnte er hier bei mir wohnen, dann würde ich ihm bei der Wohnungssuche helfen…
Ein Ploppen riss mich aus meinen Gedanken. Er hatte die Weinflasche geöffnet und hielt mir ein Glas Rotwein hin. Beim Essen fragte ich ihn endlich, wieso er auf der Straße leben würde. Sein Blick trübte sich und war mit einem Mal ganz in sich gekehrt. Ich biss auf meine Lippen - verdammte Neugierde!
„Ich war Soldat in Afghanistan, war voller Enthusiasmus, denn wir waren bei einem Dorf eingesetzt und halfen den Leutchen dort einen Brunnen zu bauen. Erst waren sie misstrauisch, doch dann tauten sie allmählich auf. Richtig herzlich wurden sie, als sie sahen, dass wir ihnen nur helfen wollten und, dass wir ihre Sitten und Gebräuche achteten. Wir begannen auch mit Unterstützung einer Hilfsorganisation eine kleine Schule für die Mädchen aufzubauen, das hat wohl einigen Taliban nicht gepasst. Denn eines Tages wurden wir mit Granaten und Maschinengewehren von ihnen angegriffen. Ich sah meine Kameraden sterben und unzählige Dorfbewohner, die uns helfen wollten.
Kinder, Frauen, Alte … alle in ihrem Blut… in diesen elenden Mauern, die uns an der Flucht hinderten, aber uns nicht schützten. Einige von diesen verblendeten Monstern habe ich in die Hölle geschickt.
Ich bin der Einzige, der schwer verwundet überlebt hat, seitdem ertrage ich keine einengenden Mauern mehr um mich herum, will keinen Kontakt mehr aufbauen, zu Menschen, die ich doch verlieren werde. Ich büße für meine Sünden. Für alle, denen ich das Leben bei dem Einsatz genommen habe und für alle, die ich nicht beschützen konnte.“
Er beendete seine Rede, sah zu Boden. Ich schluckte schwer, stand auf, nahm in meine Arme, küsste ihn tröstend.
Zuerst blieb er passiv, doch dann riss er mich an sich, drückte und küsste mich wieder – fast verzweifelt in seiner Bitte nach Vergebung und völlig ausgehungert nach Gefühl und Zuwendung. Es endete wie es enden musste- in meinem Schlafzimmer während unser restliches Essen kalt wurde.
An ihn gekuschelt nuschelte ich noch bevor ich einschlief: „ Ich freue mich so auf morgen, das feiern mit den Eltern, den Baum und, dass du mitkommst…“
Am Morgen erwachte ich und er war fort. Furcht sprang mich an und ich eilte durch die Wohnung, suchte ihn. Sein Platz auf der Straße gegenüber meinem Küchenfenster war leer. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel: „ Ich danke dir so sehr für alles, was du für mich getan hast, aber ich kann nicht bleiben. Ich ertrage keine Mauern mehr um mich, auch keine gut gemeinten…ertrage deine Liebe und Fürsorge nicht, denn auch sie bindet mich und hält mich gefangen. Lebe wohl und lass` dein Herz geöffnet. Für alle, die es mehr verdienen als ich. Martin“
Lähmende Leere und eine verwundetet Seele – hatte ich tatsächlich gedacht, ich könnte ihn retten? Ich ging ins Asyl und fragte nach ihm. Dort hatte man ihn nicht gesehen, er sei auch immer nur ganz kurz zum Duschen und zum Kleiderwechsel dort gewesen erklärte mir der Leiter. Auch am Bahnhof fand ich ihn nicht. So fuhr ich alleine zu meinen Eltern und ließ mich in meiner Trauer von ihnen trösten.
Lieber Martin, ich wünsche dir so sehr einen Menschen, der auch dich auffängt!