Dat jit et nur in Kölle*
„Och, jot mer doch us däm Wääch, ür Pänz“**, schrie der Herr Schmitz mit seinem Gehstock drohend, eher in kreischendem Falsett, als dass er freundlich darum gebeten hätte, ihm den Weg frei zu machen. Kinder konnte er nunmal nicht ausstehen. Sie waren ihm entweder zu laut oder zu dreist oder zu ungezogen oder zu verzogen. Sie machten alles kaputt, ließen ihre Spielsachen überall liegen, waren renitent und zollten ihm keinerlei Respekt. Eigentlich alles zusammen.
Für ihn war klar: die Welt wäre besser, gäbe es keine Kinder. Da brauchte es keine Diskussion. Da war er kompromisslos. Allerdings musste auch er einsehen, dass sich die Welt ohne Kinder in einer vertrackten Situation befände, da in diesem Falle in absehbarer Zeit einfach Schluss wäre mit der Menschheit. Wobei er überzeugt war, dass dies nicht geschehen würde, denn so lange die Menschen der Fleischeslust nachgaben, würde es auch Kinder geben. Aber darum, dies zu lösen, sollten sich andere kümmern – diesen Staffelstab würde er der nächsten Generation übergeben. Vorerst wäre er einfach nur zufrieden, wenn sie still wären und sich nicht bewegten.
Bei den Kindern war er gefürchtet, doch verteidigten sie ihr Dasein wacker und stellten sich ihm zusehends mutiger entgegen. Melissa, die kokette Kleine vom Bubenzer's Ernst-Willi seinem Sohn Ernst und der Susanne von der Drickesens Annemie, die schon in der vierten Generation das Büdchen beim Chlodwigplatz hat, diese Melissa war so etwas wie die Rädelsführerin der Kinder des Viertels, der "Veedelz-Kiz", wie sie sich selber nannten. Mit ihrem forschen Auftreten machte Melissa allen unmissverständlich klar, wo der Hammer hängt – und das trotz ihres Sprachfehlers. Sie konnte kein Z sprechen. S ging so gerade, aber Z oder SZ? Keine Chance. Die Logopädin hatte bereits alles Mögliche versucht, war aber inzwischen mit ihrem Latein am Ende und konnte nur noch die Hoffnung mit auf den Weg geben, dass es sich vielleicht noch auswachse.
Melissa war das relativ egal. Sie strotzte vor Selbstbewusstsein und Gerechtigkeitssinn. Ihr Sozialverhalten war beispielhaft und sie besaß ein großes Herz für alles, was kreucht und fleucht. Noch dazu war sie intelligent und zeigte strategisches Geschick. Daher käme niemals auch nur eines der Kinder (für sie: Veedel-Ki) auf die Idee, sie wegen ihres Sprachfehlers zu hänseln – im Gegenteil, die Kids verstanden immer, was sie sagen wollte und sie hielten zusammen wie eine Trutzburg.
Lustig hörte es sich ja schon an, wenn Melissa sagte: „mir sin de Veedel-Ki, de Pän vun dä Chlodwig-Poo, däm Bubener's Ernst sing Kleen un et Lui un uns Fründe, mir eijen et däm Werg. Un für alle, die nur Uswärt künne: Wir lassen uns das nicht gefallen. Der soll abischen mit seinem Rollator und dem dämlichen inken im Geseech.“
*
Diesmal gingen sie dem Alten nicht aus dem Weg, sondern blieben wie festgewachsen stehen. Das war Melissa's Plan: „mir stonn wie ene Muur un sage kinne Ton. Un dann jonn mer jede Veedelstund, wenn die Uhr schlächt, ene Schritt führ. Un dann sinn mer ens. “****
Etwas obskur war es schon, als abends immer noch die Kinder auf der einen Seite und der Schmitz auf der anderen Seite des Hofes standen und keiner auch nur einen Millimeter zur Seite wich. (Im Prinzip taten die Kinder genau das, was der Alte immer wollte... sie waren still und bewegte sich nicht.)
Inzwischen hatten sich Schaulustige, die Polizei sowie die Presse eingefunden, aber niemand schritt ein, denn es war ja nur stummer, gewaltfreier Protest. Um sie herum herrschte allerdings ausgelassene Volksfest-Stimmung. Annemie verkaufte Kaffee, Kölsch und ein Tablett mit „halvem Hahn“***** aus ihrem Kiosk und erzählte jedem ganz stolz, dass das Mädchen da vorne ihre Enkelin sei. Sie verkaufte dem Express die Exklusivrechte mit dem Titel „Veedelz-Kiz gegen Schmitz“ und der WDR stellte eine Dokumentation über den eigenverantwortlichen Widerstand im Viertel in Aussicht, den es nur in Köln gebe. Einige Anwohner holten Stühle aus ihren Wohnungen und vermieteten diese für 1 Euro pro Stunde an die Schaulustigen. Die Männer vom Stammtisch des Früh-im-Veedel nahmen Wetten entgegen, wer wohl zuerst schwächeln oder nachgeben würde, wer aufgeben würde, da er mal müsse und für oder gegen sonstige Eventualitäten.
Herr Schmitz lebte fortan sehr zurückgezogen und verstarb kurz danach fast unbemerkt. Aber wenige Tage nach seinem Tod stand plötzlich an der Stelle im Hof, an der er seinen Standpunkt verteidigt hatte, eine bronzene Statue mit einer Plakette, auf der stand: „Die Veedelz-Kiz danken däm Schmitz“, denn indirekt hatten sie ihm ja nun den bescheidenen Wohlstand zu verdanken, den sie nun hatten.
---
*das gibt es nur in Köln
**ach, geht mir doch aus dem Weg, ihr Kinder
***mir sin de Veedelz-Kiz, de Pänz vun dä Chlodwig-Pooz, dem Bubenzer's Ernst sing Kleen un et Luzie un us Fründe, mir zeijen et dem Zwerg... - Wir sind die Veedels-Kids, die Kinder vom Chlodwig-Tor, die Kleine vom Bubenzer's Ernst und die Luzie und unsere Freunde, wir zeigen es dem Zwerg. Und für alle, die nur Auswärts verstehen: Wir lassen uns das nicht gefallen. Der soll abzischen mit seinem Rollator und dem dämlichen Zinken im Gesicht.
** wir stehen wie eine Mauer und sagen keinen Ton. Und dann gehen wir jede Viertelstunde, wenn die Uhr schlägt, einen Schritt vor. Und dann sehen wir mal.
*****“halver Hahn“ ist ein Roggenbrötchen mit Gouda, Gurkenscheiben und ggf. Zwiebelringen