Dumm gelaufen
Es hätte ein entspannter Sonntagabend werden können. Hätte, wenn ich nicht den Fehler gemacht hätte, den Hörer abzunehmen, ohne die Nummer zu checken. Erst dachte ich, jemand hätte sich verwählt, aber dann dämmerte mir, dass ich diese Schrebbelstimme kannte. Irgendwie klingt sie immer wie ein ausgehungertes Kaninchen auf Extasy.
Aber was sollte ich machen? Ich wartete also geduldig, bis zwischen all den Ähs und Ohs, den Ähms und Uffs und den gedrechselten Entschuldigungsphrasen eine winzige Lücke auftrat, und fragte dann, wohl wissend, dass eine kurze Frage keine kurze Antwort generieren wird, „was ist los, Anita?“
Irgendwas an meiner Betonung muss sie irritiert haben, denn es erfolgten erneute Ähms und Ohs, Ähs und Uffs, nur ohne die Entschuldigungsphrasen. Aber endlich, ich war kurz davor einfach aufzulegen, kam tatsächlich ein ganzer Satz. „Du, Sylvie, die Ev, also die macht doch Theater. Und letztens, da war sie so komisch und immer auf Probe. Und da dachte ich, geh ich doch besser mal hin und seh mir das an. Ich meine, sie achtet so wenig auf sich. Da muss doch jemand aufpassen.“
„Ja. Und?“
„Sie...“, am anderen Ende der Leitung hyperventilierte es, ein Kieksen in Diskant-Fis zerriss mir fast das Trommelfell, sank dann aber Gottlob zu einem zweigestrichenen C herab, um mir quasi flüsternd, „sie trug Puschen!“, ins Ohr zu kreischen.
„Ja. Ich weiß, Anita. Das gehört zu ihrer Rolle. Das nennt man Kostüm.“
Okay. Ich gebe es zu. Das war der Moment, als ich mich fragte, ob ich als Kind zu heiß gebadet worden war, dass ich derart dämliche Dialoge führe. Ich kam aber nicht dazu, diesen tiefenpsychologischen Gedanken weiterzuführen, denn es kreischte weiter, „das hat sie mir auch gesagt!“ Dann brach hemmungsloses Schluchzen aus.
Für einen Moment war ich irritiert. Sollte ich diesen Strohkopf auf Streichholzbeinen etwa falsch eingeschätzt haben? Sollte sie sich ernsthaft Sorgen um Ev machen? Aber auch diesem Gedankengang konnte ich leider nicht weiter nachhängen, denn es schnäuzte ganz furchtbar am anderen Ende der Leitung und plapperte dann munter weiter.
„Das ist doch keine Kunst. Wenn eine Frau im gesetzten Alter rosa Puschen zu einem grünen Abendkleid trägt. Und das Kleid hatte einen Schlitz bis zum Paradies, wenn du weißt, was ich meine. Absolut billig. Wie kann sie sowas nur tun?“
Okay. Diskussionen über den Zusammenhang zwischen Kostüm und Dramaturgie und die Nichtgleichsetzung von Schauspieler und Rolle waren hier nicht angebracht. Ich räusperte mich also theatralisch und senkte meine Stimme zu diesem gewinnenden Wispern herab, das ich immer benutze, wenn ich einem aufdringlichen Typen im Fußgängertunnel erkläre, dass er die Wahl hat zwischen Fersengeld oder gequetschten Eiern.
„Anita. Das mit dem Kleid. Das ist Erotik. Und die Puschen, die dienen der Orgasmusblockade, damit ihre Groupies nicht gleich die Bühne stürmen, um ihr das Kleid vom Leib zu reißen“. Ev, vergib mir, aber anders komme ich aus der Sache nicht raus!
„Davon hat sie mir gar nichts gesagt“, hauchte es erschrocken.
„Natürlich nicht, Anita.“ Ich packte noch eine Schippe Verschwörung oben drauf. „Es ist ja auch ein delikates Thema. Sie weiß doch, dass Du immer so misstrauisch bist, was ihre Internetaktivitäten angeht...“
Sie hing am Köder. „Ja, was sie immer von diesem Fratzebook erzählt...“ Sie erzählte von den Fratzen auf Facebook, aber im Moment ist das nicht so wichtig. Anita zu korrigieren ist ungefähr so erfolgsversprechend wie der Versuch, den Yeti mit einer Drahthaarbürste auf Chubaka umzustylen.
„Genau. Und nun stell dir vor, was los wäre, wenn diese Nullen vor lauter Geilheit nicht mehr an sich halten könnten und mit ihrem Überfall das Stück ruinieren würden...“
„Ich bin so froh, dass du mich und meine Ängste verstehst“, hauchte es, und ich vermeinte, eine Dunstglocke aus Tosca und Trockenschweiß, verbunden mit Knoblauchpillenodeur in der Nase zu haben. „Aber was machen wir denn nur?“
„Wir“, und ich betonte das „wir“ ganz besonders, „wir machen gar nichts. Ich zumindest nicht. Ev ist erwachsen. Sie weiß, was sie tut. Man kann niemand vor sich selbst schützen. Mal abgesehen davon, dass dafür in diesem Fall überhaupt kein Grund vorhanden ist. Ev hat das unter Kontrolle, glaub mir.“
„Wenn du es sagst, Sylvie.“ In der Stimme schwang eine Portion Hörigkeit mit. Nicht dass ich Hörigkeit goutiere, aber in diesem Fall fand ich sie hilfreich. „Es
ist nur so... da ist noch was...“
„Was denn?“
„Sie hat da jemand kennengelernt. Und der macht so... Schweinkram mit Musik.“
„Was macht er denn?“
„Muss ich das wirklich laut sagen?“
„Wenn du es nicht sagst, weiß ich doch nicht, was du meinst?!“
„Er macht Erbratschen-Musik.“
Einen Moment musste ich tatsächlich nachdenken. Aber dann fiel es mir wie Schuppen aus den Haaren. Ev hatte mir von diesem Typen und seinen Performances erzählt. „Du meinst, er macht Airbrush und Ev hat dir gesagt, er hantiert mit der Pistole mit der Eleganz, mit der Barschai den Bogen führte?“
„Ja, genau. Das ist doch Schweinkram.“
„Nein, Anita. Das ist Kunst.“
„Nun sei doch nicht so pimmelig!“
„Ich bin nicht pimmelig. Ich bin nicht mal pingelig. Ich möchte nur nicht, dass du Ev falsch einschätzt.“
„Ach. Du glaubst wohl, ich sei blöd.“ Da war es wieder, das Diskant-Fis.
Nein, Anita. Ich glaube nicht, dass du blöd bist. Ich weiß es.
Tuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuut.
Habe ich das laut gesagt?
© Sylvie2day, 23.02.2014