Tag der Entscheidung
Himmel – ich traue meinen Augen nicht! Eine Schneise der Verwüstung liegt vor mir. Meine Wohnung, meine schöne gepflegte Wohnung - ein Trümmerfeld. Durcheinander aller Orten, zerbrochene Gläser, schmutziges Geschirr, eingetretene Pizza- und Pastareste auf meinem hellen Nepal-Teppich, leere Bier- und Wodkaflaschen unter dem Esstisch und unter den Sesseln sowie äußerst merkwürdige Flecken auf meiner schwarzen Ledercouch.
Meine schönen Orchideen – sie waren vor diesem Wochenende eine Pracht, liegen traurig auf dem Boden, sind vergangen und erstickt unter Kissenbergen. Aber der Clou, das heilige Erbstück meiner Tante, die alte Tiffany-Lampe mit dem Bronzefuß liegt traurig am Boden. Sprünge überziehen das bunte Glas wie ein Spinnennetz.
War ich zunächst sprachlos entsetzt und dann unendlich traurig, bin ich jetzt rasend vor Zorn. Laut brüllend frage ich mich, warum ich meinem Erstgeborenen erlaubte, seine Volljährigkeit ausgerechnet hier zu zelebrieren.
Ich muss einfach gegen meinen Frust anschreien sonst platze ich auf der Stelle. Wo steckt dieses Bürschchen? Ich rufe nach ihm, keine Antwort, blanke Stille schlägt mir entgegen.
Mach dir keine Sorgen, Ma! und
Wir passen schon auf! waren seine Worte.
Du kennst doch meine Freunde, alles liebe Kerle! und
Aber selbstverständlich wirst du die Wohnung so vorfinden, wie du sie verlassen hast!
Also soo habe ich die Wohnung nicht verlassen! Alles war tipp topp in Ordnung. Wie immer, wenn ich aus dem Haus gehe.
Ja, ich weiß! Selbstschuld, ich habe mich von seinem gewinnenden Lächeln und seinen Beteuerungen blenden lassen, habe meine Bauchschmerzen über sein Ansinnen ignoriert. Dachte, ich könnte mich auf ihn verlassen und auf die anderen.
Das hast du jetzt davon! schelte ich mich selbst. Auf wen bin ich jetzt wütender? Auf ihn oder auf mich? Unterdrückte und unerwünschte Gefühle brechen sich durch die gesprungene Schale meines Egos und zerbröseln meine Ansprüche an mich selbst.
Du hast versagt! schreit es mir entgegen.
Warum wollte ich damals vor 18 Jahren nochmal unbedingt Kinder? Ich hatte so einen guten Job. Das Wunder der Geburt erleben? Diese kleinen süßen Engelchen lieben und sie zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft erziehen?! Welchen Bärendienst habe ich damit mir selbst und der Gesellschaft erwiesen? Was habe ich da nur herangezüchtet?
Die Erkenntnis, dass ich Chaoten geboren und an meiner Brust genährt habe, denen nichts heilig ist, die kein Versprechen halten, die keinen Anstand und kein Schamgefühl besitzen, erleuchtet mich schmerzhaft.
Versagerin!
So viele Jahre der Erziehungsarbeit einfach passé, als hätte es sie nicht gegeben. Dafür habe ich meinen Beruf aufgegeben?
So viele Kämpfe um die Vorherrschaft, so viele Tränen, weil die Kinder einen wegen der strikten Einhaltung der angedrohten Konsequenzen hassten, so viele Ermahnungen das „Bitte“ und das „Danke“ nicht zu vergessen und keine Lügen zu erzählen.
So viel Mühe, dass sie immer auf dem rechten Weg blieben und nicht von Drogen oder strafbaren Handlungen aus dem Tritt gerieten. Alles umsonst!
Ich habe ihnen meine besten Jahre geopfert – für was? Zerstörte Wohnung und zerstörte Hoffnung.
Ich sinke herunter in die Hocke, glücklicherweise mit der stützenden Wand in meinem Rücken, und ergebe mich meiner Verzweiflung.
Mein Mann rüttelt mich wach, schaut mich besorgt an und fragt, warum ich so heftig weine.
Es sei drei Uhr morgens….
Ich bin für einen Moment orientierungslos und registriere, dass ich nicht in meinem Bett liege und nicht heulend in meinem zerstörten Wohnzimmer sitze. Ich befinde mich in einem Hotelzimmer und das Kissen ist nass von meinen bitteren Tränen.
So langsam dämmert es mir. Wir haben freiwillig das Feld geräumt und verbringen die Nacht der Nächte außer Haus. Ist ja auch uncool, wenn die Eltern bei so einem Event wie der Volljährigkeit anwesend sind.
Es ist ja auch nicht so, dass wir irgendetwas damit zu tun hätten…
Ich berichte von meinem Alptraum und mein Mann lacht mich aus. Sein Gemüt ist bemerkenswert sonnig, schon immer war er der lockerere von uns beiden. Das liebe ich so an ihm, seinen unerschütterlichen Optimismus, der vielleicht auch davon kommt, dass er von den erzieherischen Dramen zu Hause meist nicht mitbekommen hat, weil er außerhalb das Geld verdient hat.
Du wirst sehen, wir können uns auf sie verlassen! meint er
Wir haben unsere Kinder gut erzogen! und zieht mich zuversichtlich in seine Arme. Kurze Zeit später schläft er den Schlaf des Weisen und Gerechten.
An Schlaf ist für mich nicht mehr zu denken. Zu tief sitzt die Furcht vor dem, was uns zu Hause erwarten wird. Es ist wie früher das bange Warten auf das Zeugnis – der Prüfstein meiner erzieherischen Arbeit von 18 Jahren.
Nun, in wenigen Stunden werden wir wissen, wer von uns beiden falsch liegt – ich hoffe sehr, dass ich es bin!