Kalte Rache
Ihr Vater war immer ein Choleriker gewesen. Schade, dass dies ihre einzige Erinnerung an ihren Erzeuger war. Jahrelang hatte sie nicht daran gedacht. Doch jetzt und hier, als sie in ihrer alten Heimat, in der ehemals vertrauten Straße, vor dem mit Efeu überwucherten Eisengeflecht, dass früher einmal ein Zaun gewesen war stand, kam alles wieder hoch.
Verdrängte Erinnerungen an unsägliche tägliche Schimpforgien, Schläge und ungerechte Strafen. Was hatte sie nur schlimmes getan? Sie hatte immer nach Liebe, Verständnis und Zärtlichkeit gedürstet und beim Nachbarsjungen, mit dessen Familie ihr streitsüchtiger Vater natürlich wegen einer unbedeutenden Kleinigkeit verfeindet war, schließlich gefunden.
Denn diese für andere so selbstverständlichen Dinge gab es in ihrem Elternhaus nicht mehr seit ihre Mutter fluchtartig das Weite gesucht hatte.
Sie hatte ihre Tochter nicht mitgenommen, hatte sie dort gelassen in dieser Hölle. Das hatte sie der Frau, die sie geboren hatte, niemals verziehen. Damals war sie erst zehn Jahre alt gewesen als sich ihre kindlich heile Welt in ein Trümmerfeld verwandelt hatte. Verstanden hatte sie die Mutter nicht.
Sie wusste noch nicht, dass die Mutter sie mit sich nehmen wollte, doch der Vater hatte ihr gedroht sie, sich und das Kind zu töten, würde sie es wagen.
Sie könne verschwinden, sich zum Teufel scheren, aber das Kind würde bei ihm bleiben. Die ganze Wahrheit hatte sie erst nach Jahrzehnten erfahren.
Schweren Herzens hatte die Mutter das Haus verlassen nur mit einer Tasche in der Hand und den Kleidern an ihrem Leib und war nie mehr zurückgekehrt.
Als die Mutter fort war, begann ihr liebloses Martyrium. Der Vater schrie nunmehr nicht nur, er schlug sie auch, vor allem, wenn er betrunken war und das war er oft. Natürlich wegen Nichtigkeiten, wenn sie beim Abtrocknen einen Teller fallen ließ oder die Stube seiner Meinung nach nicht richtig gefegt war. Hilfe von den Menschen im Dorf?
Es waren die frühen Siebziger Jahre, damals mischte man sich nicht in interfamiliäre Verhältnisse ein. Der Mann war der Herr im Haus, niemand zweifelte sein Handeln an. Schließlich erzog man damals die Kinder noch „richtig“ mit drakonischen Strafen und Schlägen, nur zu ihrem Besten natürlich.
Selbst die Lehrer in der Schule dürften ohrfeigen und der Pfarrer auch, wenn man seinen Katechismus nicht konnte. Hilfe hatte sie hier von niemand zu erwarten, denn jeder im Dorf hatte ein verheimlichtes „Leichentuch“ im Schrank liegen.
Aber an Fronleichnam wurde die Monstranz auf den Schultern dieser „Ehrenmänner“ durch die Hauptstraße getragen und natürlich saß man jeden Sonntag pünktlich um 9:00 Uhr in der Kirche. Denn sonst hätten die Leute ja einen „wirklichen“ Grund gehabt, misstrauisch zu werden.
So war das damals. Man tuschelte nur hinter vorgehaltener Hand.
Da ihre Mutter schuldig geschieden war, hatte sie jedes Recht an ihrem Kind verwirkt. Sie, das Kind, verstummte immer mehr. Niemanden kümmerte es, den Lehrer nicht auch nicht den Pfarrer, dem sie jede Woche ihre Sünden beichten musste. Freunde hatte sie sonst keine. Sie galt als zurückgeblieben, ihr Reifeprozess sei verzögert, hatte man dem Vater erklärt. Alles nur, weil sie nie sprach, warum sollte sie auch, es interessierte ja doch niemand, was sie zu sagen hatte.
Nur der Nachbarjunge zeigte unverhohlenes Interesse an ihr als sie etwa 16 Jahre alt war. Er lächelte sie an und steckte ihr immer heimlich eine Zigarette zu. Für ihn schmückte sie ihr langes kupferrotes Haar mit einem smaragdgrünen Schleifchen. Irgendwann landeten sie auf Vaters Werkbank im Schuppen.
Als einige Monate später ihr schwangerer Bauch nicht mehr zu übersehen war, schöpfte der gestrenge Vater Verdacht. Seine Schläge waren schlimmer als sonst, denn diesmal trat er sie auch genau in ihre Mitte immer und immer wieder, solange bis sie in ihrem Blut lag und spürte, dass das Kind in ihr tot war. Er schimpfte sie eine Hure wie ihre Mutter und, dass sie sich „schleichen“ sollte zusammen mit ihrem Bankert.
Sie kroch blutend aus dem Haus über die Steintreppe in den Garten, lag auf dem Rasen bis besagter Nachbarsjunge sie fand und in ein Krankenhaus brachte. Sie überlebte schwerverletzt, doch ihr Kind war verloren. Sie floh aus dem Krankenhaus, sobald sie wieder laufen konnte und schlug sich in der Stadt mehr schlecht recht durch.
Solange bis sie entdeckte, dass die Männer reihenweise vor ihr auf die Knie gingen. Sie anhimmelten und ihr anboten, viel Geld für eine Stunde mit ihr zu zahlen.
Von nun an streifte sie ihre Opferrolle wie ein ein Kleid ab. Verkaufte sich, aber hoffte doch, einer möge sie wirklich jemals lieben. Sie verdiente sehr viel Geld mit ihrem schönen Körper und konnte bald sorglos leben.
Dann die Nachricht, dass ihr Vater sich endlich zu Tode getrunken hatte. Endlich frei!
Doch die anderen scheinheiligen Hyänen lebten noch im Dorf, die, die ihr nie geholfen hatten. Der Nachbarsjunge von damals war weit fort gezogen. Keiner mehr im Ort, der ihr noch etwas bedeutet hätte
So stand sie nun am ehemaligen Zaun und sah den Arbeitern zu, die das Haus renovierten und umbauten. Erst hatte sie es ja mit einer der zahlreichen Gasflaschen im Keller in die Luft sprengen wollen, aber nein, das wäre zu einfach gewesen.
Sie hatte eine viel bessere Idee. Sie lächelte sardonisch, schon sehr bald würden die Dorfbewohner ihre Stimme aus vollem Hals hören aus weit geöffneten Fenstern.
Das neue Freudenhaus in der Mitte des Dorfes zwischen dem ehemaligen Schulhaus und Kirche war der Aufreger des Jahres.