Ferrari
Das hübsche kleine Mädchen mit den blonden Locken verließ das Schulgelände wie an jedem Schultag kurz nach 13 Uhr.
Sie war acht Jahre alt und besuchte die zweite Klasse der Grundschule in Königstein
„Tschüs, Sally,“ rief die Hausaufgabenbetreuerin hinter ihr her; aber das Kind war schon eilig und übermütig die 5 Stufen vor dem Eingang hinunter gehüpft.
Sie hatten zum Schluss der Betreuungsstunde noch „Reise nach Jerusalem“ gespielt. Sally mochte das Spiel überhaupt nicht. Die blöde Musik; Mareike hatte immer nur so Kinderlieder, nix Fetziges! Das doofe Gedränge um die Stühle und die Jungs schubsten sie wegen ihrer zaghaften Art immer gleich beiseite.
Deshalb war sie auch gleich am Anfang ausgeschieden und konnte sich schon auf den Schulschluss vorbereiten.
Heute machte sich allein auf den Heimweg. Das war für sie schon ein wenig aufregend, da entweder ihre Mutter sie abholte oder meist ihr bester Freund Jonas sie sonst begleitete. Der war seit einigen Tagen krank; Windpocken.
Und das mitten im Sommer.
Auch Mama konnte sie heute nicht abholen, da sie wegen eines dringenden Projektes bis 14 Uhr durcharbeiten musste.
Aber da war wieder dieser nette Mann, der öfter schon mit seinem total schicken Auto an der Ecke beim Aldi Markt gestanden hatte.
Der sah so hübsch aus, fast wie ihr Papa. Ein wenig auch wie Herr Herborn, der Sportlehrer der älteren Kinder, sportlich mit kurzem, dunklen, leicht gewellten Haar. Er war immer voll modern angezogen, so wie der Fußballspieler. Der mit dem Spice Girl, Victoria, von den beiden hatte sie oft in der Zeitung gelesen.
Und er zeigte ihr immer Puppen aus der Sesamstraße. Obwohl sie dafür doch schon ein bisschen groß war.
Gesprochen hatte er noch nichts.
Mama hatte ihr eingeschärft, sie soll mit Fremden nicht reden, deshalb ging sie auch immer schnell weiter.
Vor allem wenn Jonas dabei war. Aber der merkte ja gar nicht, dass der Mann dort stand. Er hatte nur das Auto ein paar Mal bewundernd angeschaut und sagte immer: „Da steht ja wieder der Ferrari.“.
Sie sah ihn schon von Weitem. Zuerst das tolle Auto, ganz flach, knallrot. Dann den Mann mit dem lieben Lächeln.
Heute hatte er ihre Lieblingspuppe dabei. Sie konnte es schon von Weitem erkennen, obwohl er das blaue pelzige Ding ein wenig versteckt hielt; das Krümelmonster. Neugierig näherte sie sich, schlug alle Warnungen in den Wind.
„Kommst Du mit mir? Ich habe alle Puppen bei mir zu Hause. Du hast sie doch schon alle gesehen!“ Durch den Singsang und die Weichheit seiner Stimme konnte er die Kleine vollends für sich einnehmen.
„Ja, Ernie und Bert, Kermit der Frosch, Miss Piggy, Bibo...“
„Ich habe noch viel mehr. Du kannst mit ihnen spielen. Und dann zeige ich dir noch schöne Fotos“
Der Mann blickte das Mädchen liebevoll an, in seinem Blick lag ein Ausdruck von Sanftheit. Vertrauensvoll stieg das Kind zu dem Mann ins Fahrzeug.
Es ging alles rasend schnell, ihr Abteilungsleiter hatte sie ruck-zuck zur Chefin der Sonderkommission Ferrari gekürt.
Liebgard Löffler klatschte in die Hände als sie in den Besprechungsraum stürmte.
„Also los, Leute, Startzeit für die Personenfahndung war 14.35 Uhr.
Die achtjährige Sally Erlhof ist seit heute Mittag gegen 14.30 Uhr vermisst.
Als ihre Mutter, Ilona Erlhof, nach Hause kam, war das Mädchen nicht dort.
Die Mutter hat sofort über Notruf die Kollegen von der Schutzpolizei in Kenntnis gesetzt, die haben das zum Glück sofort sehr ernst genommen.
Die Fahndungsmaßnahmen sind in vollem Gange.
Die Kleine ist sonst äußerst verlässlich, und geht mittags von der Grundschule in der Jahnstraße direkt nach Hause. Sie wohnt mit ihrer Mutter in einer Dreizimmerwohnung im Wohngebiet westlich der Limburger Straße in einem Mehrfamilienhaus. Ihr Freund Jonas Friedlinger, mit dem sie sonst den Heimweg antritt, wohnt gleich dort um die Ecke, war jedoch heute wegen Krankheit nicht bei ihr.
Wir haben Jonas kurz befragt, ob ihm in letzter Zeit auf dem Schulweg etwas aufgefallen ist.
Er sprach nur von einem tollen Auto, das da öfter gestanden haben soll, einem roten Ferrari. Von einer Person weiß er nichts.
Zuletzt wurde Sally beim Aldi-Parkplatz in der Klosterstraße von der Mutter eines Mitschülers gesehen, als sie mit einem Mann sprach.
Der Inhaber der Pizzeria Da Marco in der Adelheidstraße war zufällig vor Ort, als die Kollegen von der Fahndung in der Umgebung vom Aldi Leute befragten. Er hat den roten Ferrari auch schon öfter gesehen, kennt den Fahrer jedoch nicht.
Es dürfte allerdings nicht schwer sein, ihn ausfindig zu machen, da es sich um ein sehr markantes Fahrzeug handelt und zumindest Teile des Kennzeichens abgelesen wurden.
Es ist jetzt 15.05 Uhr. Wenn wir uns beeilen, können wir vielleicht noch Schlimmeres verhindern.“
Ihre Stirn krauste sich in tiefen Sorgenfalten. Durch diesen inkompetenten Idioten bei der Einsatzzentrale hatten sie wertvolle Minuten verloren.
Er hätte längst die Anfrage mit Fahrzeugtyp sowie den bekannten Kennzeichen-Fragmenten beim Kraftfahrtbundesamt in Flensburg durch die Datenbank rauschen lassen können.
Trotz verdeutlichter Dringlichkeit konnte das jetzt noch Stunden dauern.
Das Handy vibrierte in ihrer Handtasche und bis sie es herausgekramt hatte, ertönte vollvolumig ihr neuer Klingelton „La la la“... I'm covering my ears like a kid...sehr passend!
Sie erkannte die Nummer ihres Assistenten Sascha Herbrandt.
„Ja, was gibt’s, Sascha!“ schrie sie nahezu hysterisch in den Apparat.
„Libby, wir haben einen Treffer! Der Ferrari ist zugelassen auf Eike Schirmler in Bad Soden. 41 Jahre, geschieden, wohnt dort offenbar allein und hat auch seine Büroräume als Vermögensberater in dem Haus.
Ein Fahrzeug mit Zivilfahndern steht schon vor dem Anwesen.
Das SEK befindet sich bereits im Tiefflug auf dem Weg dorthin.
Vierfamilienhaus in einer ruhigen Nebenstraße. Der rote Ferrari steht vor einer der Garagen.“
„Ok, Sascha, fahr los, ich bin auch in wenigen Minuten dort!“
Als das SEK die Wohnung stürmte, fanden sie das hübsche kleine Mädchen friedlich auf dem Sofa sitzend vor, das blaue plüschige Krümelmonster an sich gedrückt.
Auf dem Couchtisch lag eine ganze Sammlung von Handpuppen mit Figuren der Sesamstraße.
Außerdem stand dort eine Porzellantasse mit einem Abbild des Krümelmonsters. Diese enthielt offenbar noch einen Rest von Kakao.
Sie blickte ein wenig erschreckt auf die wild aussehenden SEK-Leute und fing an zu weinen, als die Männer ihren Freund am Kragen packten und unsanft zu Boden brachten.
Einer der Beamten zischte hasserfüllt: „Du verdammter Kinderficker!“
Eike Schirmler begann zu schluchzen. Mit tränenerstickter Stimme stammelte er:
„Nein, bitte! Nein, ich halte sich doch nicht gefangen, wollte ihr nichts tun. Ich hätte sie auch bald nach Hause gebracht.“
„Halts Maul,“ schrie ihn der Leiter der Einsatzgruppe an, drückte ihn auf das Parkett und drehte ihm den Arm auf den Rücken, bis er schmerzerfüllt wimmerte.
Die einzige Frau der Gruppe nahm das Kind mit in einen Nebenraum.
Als Kriminalhaupkommissarin Liebgard Löffler in der Wohnung eintraf, saß der Mann zusammengesunken auf einem Sessel.
Sie belehrte ihn ordnungsgemäß: „Sie wissen, dass sie als Beschuldigter keine Aussage machen müssen und einen Anwalt hinzuziehen können. Sie werden jetzt erst einmal festgenommen wegen Entführung, Freiheitsberaubung und Verdachts des versuchten sexuellen Missbrauchs eines Kindes!"
„Beschuldigter! Sexueller Missbrauch? Nein! Ich hatte doch nichts Böses im Sinn. Ich kann es Ihnen doch sagen, auch ohne Anwalt.
Ich weiß, ich hätte sie nicht mitnehmen sollen. Aber seit ich sie das erste Mal zufällig auf meiner Fahrt durch Kronberg sah, war ich wie besessen!
So müsste unsere kleine Tochter Gwendolyne jetzt aussehen. Dieses süße Gesicht. Diese wunderschönen blonden Locken und die zierliche Figur.
Ich holte Gwendolyne aus dem Kindergarten ab, das ist jetzt fast drei Jahre her. Sie war gerade 6 Jahre alt und sollte zwei Monate später eingeschult werden. Ich hatte den Ferrari auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt. Sie wollte direkt dorthin laufen und riss sich von meiner Hand los, rannte auf die Straße, genau in ein fahrendes Auto hinein. Sie starb noch am Unfallort.
Meine Frau hat es mir nie verziehen und sich gleich nach der Beerdigung von mir getrennt.
Die Puppen habe ich behalten. Sie liebte das Krümelmonster auch ganz besonders.“
Seine Stimme war zum Schluss nur noch ein leises Hauchen.
Die Hauptkommissarin ging in den Nebenraum, wo die Beamtin des SEK neben dem Kind auf einem Stuhl saß.
Sally blinzelte Libby an, gähnte und fragte: „Bringt ihr mich jetzt endlich heim zu Mami. Die macht sich bestimmt schon große Sorgen und wird mit mir schimpfen. Ich bin so schrecklich müde.“
© roxane 12/2013