Entzaubert
Es begann an einem Samstagmorgen beim Frühstück. Ich saß bei einer Tasse Kaffee und einem Butterhörnchen auf meinem kleinen Balkon und las die Zeitung. Wie fast immer überflog ich die Kontaktanzeigen. Nicht, weil ich jemanden suchte - Nein, nur so aus Neugierde. Ein Text stach mir förmlich ins Auge:" Je cherche une Âme, qui pourra m`aider, je suis d`un Generation desenchantee" stand da und eine Mobilfunknummer. Eine Hilfe suchende Seele aus einer entzauberten Generation? Ein französischer Text in einer deutschen Zeitung? Nun diese Person wollte offensichtlich aus der Masse herausstechen und war entweder gebildet und suchte ein passendes Pendant, war ein Franzose, der einfach kein Deutsch konnte oder eine von der Liebe enttäuschte Seele, die es zu retten galt.
Meine Neugier war geweckt und ich überlegte kurz, ob wohl meine Schulfranzösischkenntnisse einem telefonischen Dialog standhalten könnten. Ich weiß auch nicht, einem Impuls folgend, nahm ich mein Handy und wählte die Nummer.
Es klingelte am anderen Ende - lange sehr lange. Ich wollte schon wieder auflegen, als sich eine sonore männliche Stimme meldete: " Hallo unbekanntes Wesen, kannst du mir helfen?" Im ersten Moment war ich etwas überfahren ob dieser direkten Ansprache, ich stotterte meine Begrüßung und endete mit dem Satz:" Eigentlich habe ich keine Ahnung, warum ich Ihre Nummer gewählt habe, etwas in Ihrer Anzeige hat mich berührt."
Am anderen Ende hörte ich ein Lächeln in der Stimme als er mir sagte, dass sein Name Viktor wäre und er mich gerne kennen lernen würde, am besten gleich am Mittag, vielleicht bei einem Glas Wein oder einem Kaffee in der Innenstadt?
Eigentlich ging mir das ein bisschen zu schnell, mein Verstand schüttelte sinnbildlich den Kopf, aber mein Bauchgefühl überstimmte ihn, "warum nicht, einverstanden, wo und wann?" Es war doch nur auf einen Kaffee, was könnte mir schon groß passieren? Er nannte mir ein Bistro in der Fußgängerzone, eine Zeit, eine rote Rose würde auf seinem Tisch liegen - als Erkennungszeichen- und fragte mich, ob ich mich weiblich kleiden könnte.
Weiblich kleiden? Bevor ich fragen konnte, was er damit meinte, hatte er schon aufgelegt.
Ich war prickelnd aufgeregt als ich mich dem Bistro näherte, superpünktlich und wie von dem Herrn gewünscht, weiblich gekleidet mit meinem rot/weiß getupften knielangen Sommerkleid und hohen Sandalen. Langsam schritt ich an den Tischen vorbei und sah dann die Rose auf einem Tisch liegen, eine blutrote Baccararose. Er saß mit dem Rücken zu mir, leicht ergraute raspelkurze Haare, leger mit einem eleganten Hemd, garantiert nicht von der Stange, und einer Designerjeans bekleidet.
Noch hätte ich einfach so vorbeigehen können, ich tat es nicht, sondern trat zu ihm an den Tisch. Er blickte zu mir auf, erhob sich und sah mich mit wunderschönen blauen Augen an. Er strahlte mich an und in diesem Moment erlebte ich, dass es Liebe auf den ersten Blick tatsächlich gab. Ein Blitz durchzuckte mich, ich fühlte, wie mein Herz in Flammen stand.
Der Rest des Tages ist schnell erzählt, ich war so hingerissen von ihm, seinen Worten und seiner zarten Berührung meiner Hände, dass ich förmlich an seinen Lippen hing. Wir aßen eine Kleinigkeit und gingen anschließend am romantischen Flussufer spazieren. Dabei erzählte er mir von seiner letzten unglücklichen Liebe, die sich das Leben genommen hatte. Ich war zutiefst erschüttert – wie konnte man nur einen so liebenswerten Menschen auf solche Art und Weise verlassen?
Auf einer Bank ließen wir uns nieder, lachten und scherzten bis der Moment kam, als er mich mit diesem Blick ansah- gierige Leidenschaft und tiefes Verlangen. Sein Kuss raubte mir den Atem und mein eigener Wille löste sich unter seinen erst zarten, dann immer fordernden Berührungen auf. Er übernahm die Führung, ganz selbstverständlich, nahm meinen Körper und mein Wesen gefangen und legte mich - bildlich gesprochen- in Ketten.
Am Ende keuchten wir beide vor Verlangen und seine Hand verschwand unter meinem Rock und in meinem Höschen. Er fingerte mich bis kurz vor den Orgasmus und ich ließ es geschehen. Seine Lippen auf meinen und seine Hände an all meinen empfindlichen Stellen. Ich wollte ihn mit Haut und Haar. Vorbeikommende Spaziergänger schüttelten ihre Köpfe über unser teenagermäßiges Verhalten, aber es war uns egal.
Er legte meine Hand auf seinen ausgebeulten Schritt und meinte mit rauer Stimme:" Das ist deine Wirkung auf mich, am liebsten würde ich dich jetzt und hier f..., aber ich muss mich leider verabschieden. Ich muss noch mal ins Büro, ohne mich läuft es nicht!" Ja, sein Handy hatte ständig vor sich ihn gebrummt, ab und zu hatte er einen unwilligen Blick darauf geworfen. Schwankend erhob ich mich und war etwas verwirrt über sein Verhalten. Ich sollte es noch besser verstehen...
Die folgenden Tage mailten wir uns oder telefonierten kurz, denn er war immer auf dem Sprung. Wir verabredeten ein neues Treffen, diesmal mit dem Versprechen auf "mehr". Ich legte alle meine Termine um, nur um an diesem Tag schön und frei für ihn zu sein. Am Vorabend, wenige Stunden vor unserem Treffen, kam eine SMS von ihm, dass er leider absagen müsse. Sein Geschäftspartner in der Firma sei erkrankt und er müsse nun dessen Termine mit übernehmen. Es täte ihm so Leid. Ich war fassungslos, aber hatte Verständnis, so war das eben als Selbstständiger.
Wochenlang tat sich nicht viel, mal meldete er sich, dann wieder tagelang nicht. Meine Mails und meine Fragen blieben teils unbeantwortet, meine Anrufe gingen auf eine unpersönliche Mailbox. Es war so frustrierend! So schmerzhaft! So qualvoll! Ständig fragte ich mich, was er wohl gerade machte, ob er auch mal an mich dachte, stellte mir das "mehr" mit ihm vor.
Wenn er sich meldete, dann klang er abwechselnd so verheißungsvoll wie geschmolzene Schokolade oder dauergestresst.
Dieses ständige Auf und Ab zerrte an meinen Nerven. Im Beruf war ich fahrig, bei meinen Freunden einsilbig und bedrückt. Strich er Balsam auf meine Wunden, dann war ich himmelhoch jauchzend, hörte ich wieder tagelang nichts von ihm, dann war ich zu Tode betrübt- ich durchlebte ein immerwährendes Wechselbad der Gefühle. Mein Telefon trug ich immer bei mir, nur um ja keinen Anruf oder eine SMS von ihm zu verpassen und ich checkte alle paar Minuten meinen Mail-Account. Dieses Verhalten wurde zwanghaft mit der Zeit.
Meine Freundinnen wollten mein seltsames einsiedlerisches Verhalten nicht mehr dulden, unterzogen mich einem "peinlichen" Verhör - die Inquisition war nichts dagegen- und tadelten mich anschließend, weil ich mich so "dumm" benahm. "Gib` diesem Idiot den Laufpass, der verdient dich doch gar nicht!" und "Wie, da ist noch gar nichts gelaufen und du hängst trotzdem derart an ihm?" waren noch die freundlichsten Bemerkungen. Ich verstand es ja selbst nicht, was mich bei Viktor hielt. Mein Hang zur Selbstqual oder weil er es vermochte, mein Kopfkino in Gang zu setzen wie kaum ein Anderer? War es sein gutes Aussehen oder sein unwiderstehlicher jungenhafter Charme?
Dann wieder, wenn sich mein Selbsterhaltungstrieb gegen meine Gefühlsduselei durchsetzte und ich soweit war, den Kontakt zu beenden, weil ich des Wartens auf ihn so müde war, überschüttete er mich mit Aufmerksamkeiten. Er schickte mir rote Rosen und streichelte meine gequälte Seele mit sehr erregenden Fantasien - was er alles mit mir machen würde, wenn wir uns wieder sähen, wie lustvoll es sein würde, auch durch das lange Warten- wie sehr er es bedaure, derartig eingespannt zu sein und das es bald besser werden würde.
Bald- immer dieses Wort - Hoffnung und Qual gleichermaßen.
Ein neues Treffen - Freude- Erwartung- Absage! Diesmal war er angeblich krank. Ich schrieb ihm eine lange Mail und kündigte an, mich von ihm zu trennen, wenn er das nächste Treffen auch platzen lassen würde. Neuer Termin- verhaltene, weil misstrauische Freude- ängstliches Erwarten -banges Hoffen -Absage ("Süße tut mir so Leid, aber hier türmt sich die Arbeit..., ich kann mich leider nicht freimachen, du weißt doch, wie das mit der Selbständigkeit ist....")!
"Je cherche une Âme, qui pourra m`aider...", dieser Text in der Zeitung, die ich heute früh beim Frühstück las - sein Text. Meine Welt stürzte in sich zusammen. Meine Tränen liefen heiß über meine Wangen und mein Körper wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Dieser elende Mistkerl, er hatte nur mit mir gespielt, mit meinen Gefühlen, mich manipuliert und mein Herz zwischen seinen manikürten Händen entzwei gebrochen. Ich war innerlich wie erstarrt als ich zum Telefon neben meiner Kaffeetasse griff und meine Freundin anrief, um sie um einen Gefallen zu bitten.
Ich kleidete mich weiblich, mein "kleines Schwarzes" und meine High Heels, frisierte und schminkte mich sorgfältig. Bevor ich meine Wohnung verließ, holte ich das große Fleischmesser aus der Küchenschublade, steckte es in meine Handtasche und ging zu dem Treffpunkt, den mir meine Freundin gesimst hatte. Ich sah ihn schon von weitem, wie er erwartungsvoll und voller Vorfreude bei einem Glas Weißwein mit der obligatorischen Rose neben sich, auf seine Verabredung wartete. Ganz langsam näherte ich mich und erst als ich direkt vor ihm stand, registrierte er mich voller Entsetzen.
Das Fleischmesser hatte eine sehr gute Klinge. Es war ja auch teuer genug gewesen, eines von diesen scharfen japanischen Messern, und es lag wirklich gut in der Hand. Bevor Viktor sich versah, steckte es in seinem Herzen. Ungläubiges Erstaunen lag in seinem Blick. Ich zog es aus seinem Körper und rammte es, noch benetzt von seinem Herzblut, mit entschlossener Heftigkeit in das meinige. Endlich waren wir vereint - durch unser Blut.
Mit meinem letzten Blick und unter dem Geschrei der Gäste sah ich seine wunderschönen blauen Augen brechen.
Ich beendete meine Aussage vor dem Gericht, setzte mich und sah schuldbewusst zu Boden. Welche Strafe würde mich erwarten? Viktor hatte seine Aussage bereits getätigt und sah vorwurfsvoll von seiner Bank zu mir herüber. Zeugen konnten leider nicht vernommen werden, da sie noch unter den Lebenden weilten. So war es nun an dem höchsten Richter und seinen Beisitzern über das Ausmaß meiner Schuld zu entscheiden.
copyright Pourquoi_pasXX 01.11.13
Inspiriert von Kate Ryan Titel: „Desenchantee“ und den Ärzten Titel: „Nur ein Kuss“