Gewissen
Schon eine Weile steht sie nackt vor dem hohen Spiegel in ihrem Schlafzimmer. Ihre prüfenden Blicke streichen über ihren Körper, suchen nach verräterischen Malen. Sie seufzst und schuldbewußte dunkle Augen starren sie an. Was hast du denn erwartet, du Schlampe, wie du dich fühlen würdest? Hoffentlich bist du jetzt glücklich!
So geht das schon den ganzen Tag! Ihr Gewissen ist der schlimmste aller Richter. Es quält sie ohne Unterlass mit Vorwürfen, fast schon glaubt sie, kleine Teufelshörner an ihrer Stirn erkennen zu können.
Unwillig schüttelt sie ihren Kopf, sie möchte sich verteidigen, sich rechtfertigen für ihre Tat, aber die innere Stimme verstummt nicht, lässt sie nicht zu Wort kommen, brüllt alle Versuche eines Einwurfs nieder.
Ihre Fäuste sind geballt, Zornesröte überzieht ihre Wangen und mit einem Fuß stampft sie heftig auf. Sie schreit mit stummen Lippen und voller Pein ihrem Spiegelbild entgegen: " Verdammt, ich tue das, damit es nicht endet! Ich will nicht kränken und verletzen, aber habe ich denn kein Recht auf ein bißchen Ich-Zeit? Seit über 20 Jahren bin ich für alle da - wo bleibe ich? Bin ich ein Niemand, nur ein Arbeitsroboter, der sein tägliches Programm absolvieren darf - ohne Recht auf Erfüllung meiner Bedürfnisse?"
Sie war schon immer in ihr, diese verhängnisvolle Neigung. Nur früher wußte sie sie nicht zu deuten. Anständige Mädchen tun so etwas nicht! Das machen doch nur Perverse! Sie wollte nie unangenehm auffallen, hielt sich lieber immer im Hintergrund.
Ihre Bedürfnisse mitzuteilen, traute sie sich nicht, denn es war gegen alles, was man sie gelehrt hatte - im streng religiösen Elternhaus, in der Schule und später auf der Arbeit.
Dafür hatten nicht Generationen von mutigen Frauen gekämpft, damit sie nun rückfällig wurde. Sie dürfte dieses Geschenk an ihre Generation doch nicht verraten. Tief in ihrem Innersten war sie davon überzeugt, nicht richtig zu "ticken". Sie sperrte ihre Gedanken in die hinterste Schublade einer großen abschließbaren Kommode in ihrem Gehirn und warf den Schlüssel dazu gedanklich weg.
Ihr Leben verlief in den vorbestimmten Bahnen. Heirat, Kinder, Berufsaufgabe mit vielen geweinten Tränen, Ehrenämtern in Kindergarten und Schule. Ihr Mann, ein lieber fürsorglicher, finanzierte die Familie und sie fügte sich in ihr Schicksal, erzog die Kinder, besorgte den Haushalt und vergaß darüber die Schublade und die Kommode in ihrem Verstand.
Irgendwann in der Mitte ihres Lebens fiel ihr ein Buch in die Hände, und mit einem Mal hatte sie bei der Lektüre das Gefühl, als würde sich ihr eine lang verschlossene Türe öffnen. Sie erkannte die, in ihr aufsteigenden, Gefühle wieder und alle bis dahin erfolgreich verbannten Gedanken waren mit einem Schlag wieder da.
Doch was nun? Diesmal ließen sich die Gedanken nicht wieder einsperren, inzwischen gab es das Internet und Recherce war gefahrlos möglich. Sie erkannte, dass es viele gab, die so wie sie dachten und fasste neuen Mut. In der Silvesternacht beichtete sie ihrem Mann alles, sozusagen als Vorsatz für das neue Jahr.
Ihr Mann fiel aus allen Wolken, wer war diese Frau und was hatte sie mit seiner bis dato braven und wunderbar angepassten Gefährtin gemacht?
Er sah es skeptisch und nach einigen halbherzigen Versuchen stellte er fest, dass dies weder seine Welt war noch jemals sein würde, dennoch ging er ihren Weg ein Stück mit, denn er wollte sie nicht verlieren.
Sie wurde mutiger und begann sich langsam in eine andere Frau zu verwandeln, nicht nur äußerlich auch von innen heraus. Sie wollte es endlich leben, aber war sie bereit, dafür den hohen Preis ihrer Treue zu zahlen? Sie kämpfte mit sich, verwarf den Gedanken und sehnte ihn doch gleichzeitig herbei.
Ihr Leben rückblickend betrachtet, entdeckte sie, dass sie immer ein Gefühl von etwas fehlendem gehabt hatte, sie hätte aber nicht präzise definieren können, was denn nun gefehlt hatte. Nun wußte sie, dass so in der Art, wie sie es wollte und brauchte, sie es von ihrem Partner nie bekommen würde.
Das machte sie unendlich traurig. Eine Weile widerstand sie der lockenden Versuchung. Doch der Leidensdruck wuchs und wuchs. Sie dachte, der innere Spagat zwischen "wollen" und "haben" würde sie zerreißen.
Heute nun hat sie sich auf einen dominanten Mann eingelassen - mit Haut und Haaren- im wahrsten Sinne des Wortes, hat ihre submissive Neigung ausleben dürfen. Sie hat ihre Ehe gebrochen mit diesem Mann.
Ihr Gewissen drischt mit schlimmeren Schlaginstrumenten auf ihre Seele ein, als ein Dominanter es je bei ihrem Körper tun würde. "Die Hölle tragen wir in uns selbst" oder so ähnlich lautet ein Spruch, dessen Verfasser ihr nicht einfällt.
Wie wahr!
Ihrer persönlichen Hölle kann sie nicht entkommen, ihrer Neigung auch nicht und zurück in ihr altes Leben - auch das ist unumkehrbar. Wird ihr Gewissen je Ruhe geben? Wie kann es sein, dass sie trotzallem nicht wirklich bereut, ihrer Neigung nachgegeben zu haben?
Ist es nicht so, dass sie nicht nur Täterin sondern auch gleichzeitig das Opfer ist?
Sie wird ihrem Mann eine weiterhin liebevolle Gefährtin sein, er wird auch in Zukunft nichts vermissen - und sie? Irgendwann wird sie es wieder leben und dadurch letztendlich zufriedener sein, so hofft sie.
Tatsächlich?
copyright Pourquoi_pasXX 10/2013
Hinweis:
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig!