Einmal im Jahr
Es ist Mitternacht und ich liege neben dir. Spüre deine Wärme, höre deine gleichmäßigen ruhigen Atemzüge, sehe in dein engelsgleiches Gesicht. Tief und fest schläfst du nun und ich habe dich ganz für mich alleine. Ein tiefer Frieden erfüllt mich so an deine Seite gekuschelt, warum nur kann ich dieses Gefühl nicht immer haben, sondern nur einmal im Jahr?Ich denke zurück an unsere Zeit, die schon im Kindergartensandkasten begann...damals hast du meine Sandspielsachen gegen einen Buben verteidigt, der doppelt so breit und groß war wie du, es kostete dich einen Milchzahn.
Seit damals habe ich dich geliebt - und du mich. Du mochtest es aber nicht, wenn andere mit mir spielen wollten, du wurdest immer böse und ignoriertes mich tagelang, das tat mir unendlich weh, so hörte ich auf, mit anderen zu spielen.
Später in der Schule saßen wir nebeneinander in einer Bank, du halfst mir in Mathe und Physik, ich hörte dich Vokabeln ab.
Unsere Eltern waren begeistert, dass wir so gut harmonierten und so unzertrennlich waren. Den anderen Jungs ging ich lieber aus dem Weg, seit du dich mit dem einen, der es gewagt hatte, mich zu fragen, ob wir ins Kino gehen könnten, auf dem Schulhof geprügelt hattest. Er musste mit 5 Stichen an der Schläfe genäht werden und du wurdest für drei Tage suspendiert.
In diesen drei Tagen lebte ich auf, lachte und unterhielt mich mit den anderen in meiner Klasse. Das war schön zu erleben, dass auch andere mich mochten. Es war vorbei, als du wieder kamst.
Natürlich machten wir den Tanzkurs und den Abschlussball zusammen, niemand aus unserer Umgebung traute sich auch nur in meine Nähe. Nach dem Abitur studierten wir in derselben Stadt an derselben Universität nur in verschiedenen Fächern und zogen zusammen in eine winzige 2 Zimmerwohnung, großzügig von unseren Eltern finanziert.
Du hast mich gut und liebevoll behandelt, solange ich ganz dir gehörte. Du plantest bereits unsere Hochzeit nach dem Studium.
Alles war gut bis Henrik in mein Leben trat.
Er kam im meinem letzten Semester als Gastprofessor. Er kam, sah und eroberte mich im Sturm. Die Stunden in seinem Büro, das er immer sorgfältig hinter uns abschloss, waren erfüllt von ungekannter Leidenschaft und Freiheit.
Er erweiterte mein Wissen nicht nur in Philosophie sondern auch in Dingen der Biologie. Ich musste reichlich Ausreden erfinden, warum ich schon wieder länger bleiben musste.
Das Leben war ein Traum, ich wollte nie mehr aufwachen.
Und doch kam dieser Moment an einem Tag im November. Es war schon dunkel und neblig als du in Henriks Büro hereinstürmtest mit der gezogenen Waffe in der Hand. "Ich wusste es!" schriest du, als du ihn und mich in eindeutiger Position erblicktest.
Warum nur, Henrik, hattest du dieses Mal nicht die Tür verriegelt?
Es endete mit Henrik und mir.
Dein Prozess vor dem Landesgericht dauerte nicht lange und du wurdest aufgrund deiner zwanghaften Störungen oder so ähnlich in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen.
"Wach auf mein Liebster, ich bin es- deine geliebte Alicia, ich bin bei dir und werde es für immer sein, wach auf und sieh` mich an", locke ich dich.
Du öffnest deine Augen, siehst mich an und erstarrst. Dann bewegen sich deine Pupillen, rasen wie Kometen in deinen Augäpfeln umher. Dein Blick ist aufgepeitscht und wild. Dein Gesicht verzerrt sich zu einer hässlichen Fratze.
Deine Hand schlägt nach mir und ein unmenschlicher Schrei entweicht deinen Lippen.
Dein Schlag geht durch meinen Leib hindurch und trifft die Matratze, nun ist es an mir, dich kalt anzulächeln:" Mein Geliebter, warum schlägst du nach mir, freust du dich nicht, mich zu wieder zusehen nach so langer Zeit? Mein Liebe, mein Leben, mein Gebieter und mein Tod! Schau in mein Gesicht und bekenne, was du getan hast!"
Deine Schreie hallen durch die Stille der Flure, sofort eilen Pfleger herbei, die dich, wild um dich schlagend und wie ein gehetztes Tier brüllend, gekonnt an das Bettgestell fesseln und dir eine Spritze geben. Du wirst zwar äußerlich ruhiger, aber in dir brennt es - wie jedes Jahr.
"Jedes Jahr, einmal, das Gleiche mit ihm", seufzt der eine Pfleger "jedes Jahr zu Halloween flippt er völlig aus, warum weiß keiner...stammelt etwas von dem Geist seiner Freundin, der er aus Eifersucht ins Gesicht geschossen hat, der ihn heimsucht. So ein Unsinn, der ist wirklich völlig verrückt, so geht das schon seit Jahren!"
Es ist kurz vor ein Uhr am Morgen, meine Zeit neigt sich dem Ende, ich schaue noch einmal zurück auf die brennenden Kürbislaternen an den Türen, dann kehre ich zurück in mein dunkles kaltes Reich bis zum nächsten Jahr - zur Nacht der Geister.
copyright Pourquoi_pasXX 10/2013