Ruhe!
Endlich geschafft! Marie tritt aus dem Eingangsportal in die schon recht frische Herbstluft. Wieder ist ein anstrengender Spätdienst im örtlichen Krankenhaus geschafft. Es wird immer schlimmer. Das Personal ist drastisch gekürzt und somit die anfallende Arbeit kaum noch zu bewältigen. Sie arbeitet auf einer chirurgischen Station. 32 Patienten, davon heute allein sieben Frischoperierte, drei Zugänge und die normale Routine. Und das mit nur einem Praktikanten an ihrer Seite. Die Arbeit wird immer mehr und das Personal immer weniger.Ihre Füße schmerzen. Sie möchte einfach nur noch nach Hause, sich in die heiße Badewanne legen und danach schlafen, damit sie für den morgigen Wahnsinn wieder fit ist.
Daheim angekommen geht die Arbeit jedoch weiter. Erwin liegt ausgestreckt auf dem Sofa. Er hatte einen anstrengenden Tag. Die pubertierenden Kinder sind bei Freunden, und in der Küche türmt sich schmutziges Geschirr. Sie haucht ihrem Mann einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und macht sich daran das Chaos in der Küche zu beseitigen. „War wohl nichts mit Badewanne und Entspannung!“, denkt sie. „Wenn ich hier fertig bin, ist es zu spät!“ Leichte Wut steigt in ihr auf. „Ich möchte nur einmal erleben, dass sie auch mal was im Haushalt machen. Aber darauf werde ich wohl lange warten können. Irgendetwas habe ich falsch gemacht.“
Nach getaner Arbeit, wirft sich noch einen Blick ins Wohnzimmer. Der Fernseher läuft, und Erwin liegt schnarchend auf dem Sofa. Sie breitet fürsorglich eine Decke über ihm aus, geht ins Bad und anschließend ins Schlafzimmer, macht sich bettfertig und kuschelt sich in die weiche Daunendecke. „Schlafen! Endlich schlafen!“, denkt sie und ist im nächsten Moment in die ersehnte Traumwelt entglitten.
Wenig später wird sie durch ein Poltern geweckt. Ihr Blick geht zum Digitalwecker. „Eine halbe Stunde. Ich hab nur eine halbe Stunde geschlafen.“, denkt Marie. „Warum muss Erwin immer so laut sein, wenn er ins Bett kommt?“ „Bist du noch wach, Marie?“, hört sie ihren Mann fragen. „Jetzt schon.“, antwortet sie genervt, dreht sich auf die andere Seite, ihm abgewandt, und versucht wieder einzuschlafen. Sie hört das gleichmäßige Atmen Erwins. „Wie schafft er das nur? Hinlegen und einschlafen geht bei ihm im selben Moment.“
Er atmet durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Marie horcht auf jedes Geräusch, welches dabei entsteht. Ein leises Zischen beim Einatmen und ein leichtes Gurgeln beim Ausatmen. „Nein, bitte nicht auch das noch!“, denkt sie. „Ich will schlafen!“ Sie kann sich von den entstehenden Geräuschen jedoch nicht lösen und versucht im gleichen Rhythmus zu atmen. Ein und aus, und ein und aus. Nach kurzer Zeit wird ihr schwindelig. Es ist nicht ihr Rhythmus.
Wenige Minuten später gesellt sich ein neues Geräusch dazu. Es ist ein leises Klacken, das beim Einatmen entsteht. Sie dreht sich Erwin zu und zupft leicht an seinem Kopfkissen. Der Krach klingt ab, als er nach Luft schnappt. Marie dreht sich wieder auf die andere Seite und ist erleichtert. Ruhe! Endlich Ruhe!
Kurz bevor sie einschläft hört sie: Rrrrrrrrr, Klack. Rrrrrrrrrr, Klack. Dann gesellt sich ein unüberhörbares Püh dazu. Rrrrrrrrr, Klack, Püh! Sie setzt sich auf, schüttelt Erwin energisch an der Schulter. „Erwin, dreh dich bitte auf die andere Seite. Du machst wieder Geräusche!“
Ruhe! Endlich Ruhe! Marie legt sich wieder hin, zieht ihr Seitenschläferkissen zwischen die Beine und schließt die Augen. „Ich bin müde! So verdammt müde!“
Rrrrrrrrr, Klack, Püh! „Nein bitte nicht!“ Sie zieht die Decke über den Kopf. Rrrrrrrr, Klack, Püh! Es ist etwas gedämpft, aber immer noch hörbar. Tränen schießen ihr in die Augen. „Ich will schlafen! Bitte, bitte! Einfach nur schlafen!“ Marie pfeift – Ruhe! Rrrrrrrrr, Klack, Püh! Sie verspürt Mordgelüste. Sie hält ihm die Nase zu. Erwin schnappt laut nach Luft – danach Ruhe!
Und wieder: Rrrrrrrr, Klack, PühE Es geht in ein lautes Schnarchen über. Wieder rüttelt sie an seiner Schulter. „Erwin, wach auf! Du schnarchst!“ Keine Reaktion! „Wach auf, Erwin!“, schreit sie jetzt schrill. „Ich kann nicht schlafen!“ Wieder keine Reaktion. „Hör auf zu atmen. Ich kann es nicht mehr ertragen!“ Maries Stimme überschlägt sich. „Mmm, was ist los? Lass mich schlafen. Ich muss morgen früh raus!“, murmelt Erwin vor sich hin. Marie ist kurz vorm Durchdrehen.
Bevor sie irgendwelche Dummheiten begeht, steht sie auf, rafft ihr Bettzeug zusammen und verlässt den Raum. Tränen laufen über ihr Gesicht. Was jetzt? Ins Wohnzimmer kann sie nicht. Dort schlafen die Hunde. Da bekommt sie auch keine Ruhe. Es bleibt ihr nur die überdachte Terrasse mit der Gartenliege. Hier hat sie schon so manche Nacht verbracht und über getrennte Schlafzimmer nachgedacht.
Gegen Morgen schläft sie endlich ein und träumt von wirren Mordgelüsten!
Luna 10/2013