Muse, komm und küss mich
Wie so oft in den letzten Wochen sitzt Bine an ihrem Schreibtisch. Ein weißes Blatt Papier liegt vor ihr, und sie überlegt, worüber sie schreiben könnte. Der Verlag sitzt ihr im Nacken. Sie muss ihren Vertrag erfüllen. Der Druck ist enorm. Warum hat sie sich nur darauf eingelassen? Heute kann sie es nicht mehr verstehen, aber damals hörte es sich sehr verlockend an. Das erste Buch flutschte nur so aus ihrer Feder. Dass sie sich mit der Fortsetzung so verdammt schwer tut, ahnte sie damals nicht.Sie hat ihren rechten Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt, und mit ihren Zähnen kaut sie gedankenverloren auf dem hinteren Ende ihres Bleistifts herum. Ihr Blick geht aus dem Fenster. Worüber soll sie schreiben? Über das dunkle Wetter da draußen? Über den Schwarm Wildgänse, der gerade Richtung Süden vorbei fliegt? Über eine kleine Maus, die den morgendlichen Wahnsinn einer Kleinfamilie beobachtet (zwinker)? Ihr fällt einfach nichts Gescheites ein.
Ihr Blick löst sich vom herbstlichen Wetter vor der Glasscheibe, und sie sieht zur Wanduhr. hinüber. Das regelmäßige Tick - Tack macht sie wahnsinnig. „Das kann doch nicht sein!“, denkt Bine. „Jetzt sitze ich schon wieder über eine Stunde hier, und noch kein einziges Wort hat sich auf das leere Blatt verirrt.“ Resignierend schüttelt sie ihre blonde Mähne. Einzelne Strähnen fallen dabei über ihr Gesicht. Wütend schiebt sie die Ausreißer hinter die Ohren und erhebt sich. „Erstmal einen starken Kaffee! Vielleicht kommt mir dann eine Idee.“ Bine kocht Wasser auf, bereitet den Filter vor und wartet darauf, dass sich der Wasserkocher ausschaltet. „Vielleicht sollte ich über das Leben einer Kaffeebohne schreiben. Von der Reife, über die lange Seereise aus Südamerika, das Mahlen und letztendlich das Sterben in kochend heißem Wasser.“, überlegt sie und schüttelt abermals den Kopf. „Bin ich denn jetzt bekloppt? Überhaupt über einen solchen Mist nachzudenken?“
Sie nimmt ihren vollen Kaffeebecher und geht zum Schreibtisch zurück. Nachdem sie sich gesetzt hat, hält sie den Becher zwischen den Fingerspitzen beider Hände, stützt ihre Ellenbogen auf die harte Holzplatte und beginnt leicht in das dunkle Gebräu zu pusten. Dabei wandert ihr Blick wieder aus dem Fenster.
Unerwartet bemerkt sie ein leichtes Kratzen am linken Knie. Bine schaut hinab und sieht ihre kleine Chihuahuahündin, die sie erwartungsvoll ansieht. „Na Kira, willst du mich etwas aufmuntern? Wo ist denn dein Kumpel? Hat er keine Lust mit dir zu spielen?“ Wie aufs Stichwort erscheint jetzt auch der kleine Rüde, legt sich vor ihre Füße und schaut erwartungsvoll zu ihr auf. Bine stellt den Becher ab und streichelt beide Hunde liebevoll. „Ihr merkt auch, dass es mir nicht gut geht. Ja, ihr seid zwei süße Mäuse. So, und jetzt lauft schön und spielt. Bine muss noch arbeiten.“ Beide Hunde gehen gemächlich zu ihren Körbchen, in denen sie zuvor ihr Spielzeug verteilt haben. Bine schaut ihnen etwas beim Spielen zu. Dann geht ihr Blick wieder zum herbstlichen Treiben außerhalb ihrer Wohnung, und sie sagt: „Warum eigentlich nicht?“, nimmt den Stift und beginnt über ihre Hunde zu schreiben, mit denen sie schon so manch lustiges Erlebnis hatte.
Dabei denkt sie: „Die Muse muss ein Hund sein!“
Luna 10/2013