Über die Liebe
Die Liebe ist keine Erfindung der Neuzeit. Sie ist das, was uns seit Menschengedenken das Leben lebenswert macht und weckt Kräfte und Energien in uns jenseits dessen, was wir uns vorstellen können. Alles, was wir Menschen tun, tun wir um der Liebe willen – oder um ihr Fehlen auszugleichen …Hohe Jagd
Der Wasserdampf aus der Badestube quoll durch die Türritzen und wies ihm den Weg. Bardo djel Liores beugte den unter der Kapuze des dunklen Mantels verborgenen Kopf vor der niedrigen Tür. Zwei ausbalancierte Schritte später füllte er die Badestube mit seiner Präsenz und blickte auf die junge Frau, die ihn barfuß in einem schmucklosen Leinenkleid erwartete. Sie stand entspannt hinter dem Waschzuber, den Kopf mit den straff verknoteten blonden Haaren gesenkt. Als sie hörte, wie er die Tür hinter sich schloss, straffte sie sich und schaute ihm neugierig ins Gesicht. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff und dann sah Bardo, wie der Schock sie erstarren ließ.
Ein Bild tauchte in Mirellas Erinnerung auf. Wie damals stand sie als kleines Kind wieder auf dem brüchigen Felsen und sah auf ihr Zuhause hinab.
Banditen hatten das winzige Dorf überfallen, die Männer getötet und machten mit den Frauen das, was sie unter Spaß verstanden. Die Schreie der Gequälten und Geschändeten drangen bis zu ihr hinauf und sie sah erneut, wie das Schwert ihre Mutter in den Unterleib traf.
Wenig später, der vom Blut ihrer Mutter getränkte Straßendreck trocknete noch, als der Mann aus dem Wald trat. Die Söldner kreisten ihn ein, als hätten sie auf ihn gewartet und aus seiner scheinbaren Ruhe wurde innerhalb eines Augenblicks eine Explosion unglaublicher Wildheit. Er riss das Langschwert aus der Scheide hinter dem Rücken und nur wenige Minuten später war alles vorbei. Sie hatte seinen tobenden Zorn bis zu ihrem Felsen gespürt und nicht gewusst, wovor sie mehr Angst haben sollte - den zehn Banditen oder dem einen Mann, der sie abschlachtete, als wären sie Vieh.
Als sei das nichts gewesen, hatte er sie anschließend aus ihrem Versteck geholt und ihre Tränen getrocknet. Dann war er mit ihr davon geritten und brachte sie zu einem Freund. Nur sieben Worte hatte er in dieser Zeit gesprochen.
"Warte auf mich. Ich werde dich finden."
Jetzt, fünfzehn Jahre später, stand dieser Mann in ihrer Badestube und Mirella wusste immer noch nicht, ob seine Worte eine Drohung oder ein Versprechen gewesen waren.
Bardo schlug die Kapuze zurück und wieder blickte sie in ein Gesicht, das nicht die kleinste Regung zeigte. Augen wie aus blauem Eis über einem Mund, der kein Lächeln kannte, schauten sie für einen Moment nachdenklich an. Schließlich legte er wortlos seine Kleidung ab. Nackt, mit dem seltsam geformten Schwert in der Hand, ließ er sich in das heiße Wasser des Zubers sinken. Erst jetzt legte er die Waffe in Reichweite seiner Arme am Boden ab.
Während Mirella den sich mit geschlossenen Augen Entspannenden wusch, studierte sie sein faltenloses Gesicht. Hohe Wangenknochen und geschlitzte Augen zeigten den Fremdländer. Die nach unten gebogene Nase und das kantige Kinn strahlten zupackende Energie aus. Der Körper war kräftig und als er den Arm hob, bewegten sich seine Muskeln wie große Schlangen unter der straffen Haut.
Ihr Blick glitt zu seinem linken Oberarm. Damals hatte ein brutaler Schwerthieb, der seine Deckung durchbrach, den Muskel verletzt, doch Mirella suchte die Narbe vergeblich. Täuschte sie ihre Erinnerung? Dann sah sie die Hände, an denen jedem kleinen Finger das letzte Glied fehlte - und sie wurde steif.
„Nun, kleines Mädchen, sag mir, weißt du meinen Namen noch?“ Die leise, mit noch immer geschlossenen Augen gestellte Frage und die ruhige, tiefe Stimme trafen sie wie ein Schlag und ihr knickten die Beine ein. Blitzschnell fing Bardo sie auf und der Blick, mit dem er die junge Frau in seinem Arm jetzt ansah, war nicht der eines Fremden. Doch nur für einen kurzen Moment, dann legte er den in seinen starken Armen so leichten Körper auf dem Bett neben dem Waschzuber ab. Ihr fehlte nichts und sie kam bereits wieder zu sich.
Bardo reinigte sich allein zuende, während die Augen des jungen Mädchens keine Sekunde von ihm ließen. Als er den Waschzuber verließ und seine Bekleidung anzog, dachte Mirella an eine Welle, die über einen Teich läuft. Keine Bewegung war überflüssig und kein Muskelzucken zu kräftig. Katzengleich glitt Bardo durch den Raum und wendete dabei weder ihr noch dem Eingang der Badestube den Rücken zu.
An der Tür blickte er kurz zu ihr zurück und ein Frösteln schüttelte ihren Körper. Sie hatte das Glück in den Augen der Männer gelesen, die auf ihr lagen. Sie wusste die Qual im Gesicht eines Sterbenden zu deuten und kannte jeden Zustand zwischen diesen beiden, doch einen solchen Ausdruck hatte sie nur einmal gesehen. Wie damals, stand in seinem Gesicht eine unvorstellbare Gleichgültigkeit. Der Blick der aus Stein gemeißelten Sphinx konnte nicht kälter sein.
Und doch – für einen winzigen Moment war da etwas, was da nicht hinein gehörte. Ein winziges Zucken in seinem Gesicht, bereits im Entstehen wieder erstickt. Doch als sie noch einmal hinsah, war da nur noch die Maske aus Eis. Die Tür schloss sich hinter ihm und die Badestube schien wieder größer und heller zu werden. Bardo djel Liores war fort, der Mann, den die Bergbewohner "kaltes Herz" nannten und der seine Geschichte mit Blut schrieb.
Doch etwas von ihm blieb zurück, in ihr …
Zehn Schritte weiter und nur Sekunden später öffnete Bardo die Tür seines Zimmers. Ohne den Kopf zu bewegen, erfassten seine Augen in Sekunden alles Wesentliche. Ein Bett, ein Hocker, ein Tisch – und alle drei verdienten ihren Namen nicht. In dem fensterlosen Raum roch es nach einer Mischung aus schalem Bier, billiger Liebe und Erbrochenem. Als hätte er Augen im Hinterkopf, fing seine Hand die in seinem Rücken zufallende Tür in dem Moment auf, als sie gegen das Holz des Rahmens prallen wollte und ließ sie geräuschlos einrasten.
Das Knarren der Dielen unter seinen Füßen schreckte vier katzengroße Ratten auf, die fluchtartig das Weite suchten. In einem Augenblick noch an der Tür stehend, lag Bardo im nächsten bereits auf dem Bett. Der Strohsack unter ihm wimmelte von Wanzen, die auf ein Festmahl warteten, aber nur Sekunden später flüchteten auch sie ganz gegen ihre Natur auf dem Weg der Ratten aus der Umgebung des liegenden Menschen. Den Umhang noch am Körper, wenn auch geöffnet, die Hände links und rechts neben sich, lag Bardo mit dem Rücken auf dem Bett. Keine Müdigkeit zeichnete sein Gesicht, nur ein Ausdruck tiefer Entspannung.
Im Schankraum unter ihm war es schon lange still geworden und so hätte auch ein Mensch mit schlechterem Gehör als Bardo das leise Knarren einer Treppenstufe vernommen. Es wusste, dass es ein Fehler gewesen war, den fetten Wirt mit einem Goldstück zu bezahlen. Sanft, fast zärtlich fasste seine Hand jetzt den Griff des neben ihm liegenden Schwertes und sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln – wie ein Mann, der auf den besuch seiner Geliebten wartete.
Die Tür sprang mit lautem Krachen aus dem Rahmen. Drei Männer stürmten an sein Bett und in einen Handlungsablauf hinein, den Bardo bereits Sekunden vorher im Kopf durchlaufen hatte.
In einem Moment noch entspannt auf dem Strohsack liegend, im nächsten aber schon mit einer peitschenartigen Bewegung aus dem Handgelenk heraus dem ersten Gegner den dolchbewehrten Arm vom Körper trennen, war nur die Sache eines Augenblicks. Bardo gab der rasiermesserscharfen Klinge noch mehr Druck und sie durchschnitt in der gleichen Bewegung das lederne Wams und das dahinter liegende Brustbein des Angreifers.
Sein alter Meister hätte an dem Schwung, mit dem Bardo das Chang Dao Tempo aufnehmen ließ bis zum Moment des Auftreffens mit höchster Geschwindigkeit und Kraft im Arm des Gegners nichts auszusetzen gehabt. Noch während der Mann fiel, katapultierte Bardo sich aus dem Bett. Wie ein Dolch stießen seine zu einem “V” gespreizten Fingern der linken Hand in die Augen des zweiten Angreifers und zerquetschten sie und die dünnen Knochen dahinter.
Noch ehe der als Letzter ins Zimmer gekommene Angreifer überhaupt begriff, zertrümmerte Bardo ihm mit dem Hieb seiner stahlharten Handkante den Kehlkopf mit einer Wucht, die auch die dahinter liegende Speise- und Luftröhre zertrümmerte.
Nur Augenblicke später blickte Bardo vom Eingang des Zimmers auf die drei in ihrem Blut liegenden Männer zurück. Sein Atem ging noch immer ruhig und sein Puls war nicht viel schneller als der eines Schlafenden. Auf seinem Gesicht erschien wieder das todverheißende Lächeln und weder die Diele vor seinem Zimmer noch die letzte Treppenstufe knarrten, als Bardo sich auf den Weg machte, den Wirt auf seine letzte Reise zu schicken. Durch dessen Gastraum und auf dessen Geheiß mussten die Männer gekommen sein. Doch nicht deswegen würde das Sterben des fetten Mannes hinter der Theke lange und schmerzvoll sein.
Fünfzehn Jahre zuvor hatte Bardo einem Freund alles, was ihm auf dieser Welt blieb, anvertraut mit der Bitte, es gut zu bewahren. Heute schenkte der Freund Bier aus in der übelsten Spelunke der Stadt und alte Versprechen interessierten ihn nicht. Er hatte Bardo im Schankraum nicht erkannt, denn wenn er je damit gerechnet hätte, dass Bardo zurückkehrte, hätte er einen alten Mann erwartet. Nun, das Leben ging manchmal seltsame Wege. Die Jagd nach Liebe ist hohe Jagd und wer ihr dient, wird verwandelt.
Während Bardo lautlos die letzte Treppenstufe zum Schankraum nahm, stahl sich zum ersten Mal seit langer Zeit ein menschliches Lächeln auf sein Sphinxgesicht. Nur noch kurze Zeit, dann würde er diese Treppe wieder hinaufsteigen, denn im Badezimmer wartete eine junge Frau auf ihn. Das hatte sie schon ihr ganzes junges Leben lang getan, ohne es zu wissen. Nach fünfzehn Jahren würde er das Wort hören, dass ihn am Leben gehalten und ihn wie ein Leuchtfeuer den Weg durch die Hölle seines Lebens hatte finden lassen:
„Vater…“
(C) RHCSo 2010