Stolz und andere Gefühle
Teil 1: Richard und Ludwig„Sabine hat mich verlassen....“
In Richards Stimme hörte man Stolz und sein Gesicht strahlte, als er sich betont lässig in den weichen Sessel lümmelte.
„Wenn wundert es. Herr Neuhaus bleibt der Sohn seines Vaters? Es war eh erstaunlich, dass sie solange geblieben ist. Fast ein Jahr, nicht wahr? Manchmal dachte ich schon, aus euch könnte was werden – sie war nicht übel, ziemlich hübsch und sie war hartnäckig.“ Ludwig schaute Richard eindringlich in die Augen, um darin ein echtes Gefühl zu finden. Fehlanzeige – Richards Grinsen war undurchdringlich. Wie immer.
„In 5 Wochen wäre es nen Jahr. Verschwendete Zeit. Wir hätten uns schon viel früher trennen sollen. Ich bin nun mal wie ich bin ...“
„So so. Erzähl... - was ist passiert?“ Ludwig griff sich die Zigaretten vom Tisch und bot Richard eine an.
„Nix dolles! Sie hat die Sache mit Renata raus gefunden. Du weißt schon, die kleine, die ich am Samstag im Chez Konrad kennen gelernt hab. Ich hab die am Montag nochmal getroffen.“ Richard beugte sich vor, zog eine Kippe aus der Schachtel und kramte ein Feuerzeug aus der Hosentasche.
Ludwig ahnte, was passiert war: „Lass mich raten... Getroffen und gefickt?“
„Ja klar...“
Einen Moment meinte Ludwig, er hätte ein kurzes Zucken in Richards Mundwinkel gesehen bevor er das Feuerzeug mit leichtem Schwung über den Wohnzimmertisch in Ludwigs Richtung warf.
Ludwig nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch in Richtung Zimmerdecke. „Und? War die kleine Renata es wenigstens wert?“
„Nee. Wir waren total blau und jetzt ruft sie mich ständig an. Das nervt.“
„Und Sabine?“
„Was soll mit ihr sein? Die ruft nicht an...“
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Teil 2: Richard und Mama
„Sabine hat mich verlassen....“
Richard strich einen imaginären Krümel vom Küchentisch. „Genau genommen, haben wir uns getrennt.“ verbesserte er sich rasch. „Gibt es Kaffee?“
„Ach Richard! Wie schade! Du wolltest sie doch nächste Woche mitbringen. Ich hätte sie so gerne kennen gelernt. Ich dachte, es wäre endlich mal was Ernstes!“ Die Stimme seiner Mutter hing tadelnd in der Luft während sie eine Tasse für ihn auf den Tisch stellte und eingoss.
„Wir haben nicht gepasst. Sie hat zu sehr geklammert. Du weißt, dass ich das nicht will. Ich brauch meine Unabhängigkeit!“ Richard nahm einen Schluck vom wässrigen Kaffee und lächelte seine Mutter gewinnend an.
„Erzähl mir nichts! Du bist wie dein Vater. Der ist auch jedem Rock hinterher gestiegen. Was ich da mitgemacht hab, lassen sich die Frauen heute nicht mehr gefallen. Als der Ludwig geboren wurde und seine Mutter deinen Vater in die Geburtsurkunde eintragen lies, wollte ich sogar die Scheidung. Aber als alleinstehende Mutter hatte man es damals schwer und du solltest nicht ohne Vater aufwachsen. Das Gerede der Leute war so schon schlimm genug!“
„Geliebt hast du ihn trotzdem. Und ihr hattet später auch gute Zeiten.“
Seine Mutter hörte ihn nicht. Richard hatte es nur leise gemurmelt.
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Teil 3: Richard und Dr. Minowski
„Sabine hat mich verlassen....“
Dr. Minowski griff den Block vom Schreibtisch und lächelte Richard fast wohlwollend an. Richard holte tief Luft. „Sie hat vorgestern ein paar rote Haare auf den Tisch gelegt, hat nur „Schau mal, die lagen im Bett ...“ gesagt und ist gegangen. Seit dem geht sie nicht ans Handy.“
„Und wie fühlen Sie sich? Wie fühlen Sie sich diesmal?“ Dr. Minowski nahm seinem Kugelschreiber und schlug den Block auf.
„Wie ich mich fühle? Ich hab keine Ahnung. Sie war nicht mal wütend. Sie ist einfach gegangen.“
Dr. Minowski zog eine Augenbraue leicht hoch. „Das sollte ihnen doch eigentlich gefallen. Ihr Lieblingsargument. Keine Frau hält Sie aus. Sie können nicht treu sein. Eine klassische Beziehung ist nichts für Sie. Nun - Sie haben offensichtlich recht! Wie immer... - das ist doch toll. Finden Sie nicht?“
Die Luft im Raum war nicht zum aushalten. Die Klimaanlage surrte unnatürlich laut. Die Zeichnungen an den Wänden leuchteten zu grell. Eine von ihnen hing deutlich schief. Richard wendete seinen Kopf leicht ab, überflog die Titel der Bücher im Wandregal und griff wahllos eines raus. Grundformen der Angst von Fritz Riemann – überarbeitete Ausgabe. Er blätterte darin.
Dr. Minowskis Stimme hatte jetzt etwas weiches. „Ein interessantes Buch. Nehmen Sie es ruhig mit. Lesen sie es. Sie erkennen sich bestimmt. Sie erkennen ihre Freundin vielleicht auch.“
„Sie hören mir nicht zu! Sie ist meine Ex-Freundin! Ich muss sie nicht mehr erkennen. Ich dachte, sie hätte mich erkannt! Ich dachte, ich schaffe es diesmal! Ich mochte sie! Ich mochte das Gefühl! Vielleicht hab ich sie sogar etwas geliebt!! Sie ist weg!!! Und ich HABE Recht!!!! Ich hätte gleich nach dem ersten Streit Schluss machen sollen. Da war doch schon klar, dass es nichts werden kann.
„Der erste Streit? Sie meinen diese erste Affaire? Oder meinen Sie die danach? Wann war das doch gleich? Weihnachten?
Der Knall, als Richard das Buch hart auf die Tischkante schlug, schallte bis in den Flur.
Dr. Minowski blieb ruhig:„Sie sagten, Ihre "Ex" würde nicht ans Handy gehen – haben Sie angerufen? Haben Sie eine Nachricht auf der Sprachbox hinterlassen?“
„Nein – ich mach mich doch nicht zum Idioten...“
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Am nächsten Morgen ging Richard zum Bahnhof, setzte sich an Gleis 4 auf eine Bank und rauchte. Die Luft war feucht und alles war in einem leichten Dunst eingehüllt. Es wurde Herbst. In dem Zug, der um 8.17 einfuhr, saß Sabine. Der Wagon, in dem sie saß, hielt direkt vor seiner Bank. Sie konnte Richard sehen und er sah sie. Sie hatten einen Moment die gleichen Gedanken und das gleiche Gefühl.
Näher kamen sie sich nie wieder.