Irgendwie hat es mich bei diesen acht Wörtern gepackt, und so will ich mich auch mal wieder in diesem verrückten, aber so 'fruchtbaren' Spiel versuchen - auch wenn ich darin nicht gerade sonderlich geübt bin und dieses rasche Schreiben nach bestimmten Vorgaben mir gar nicht liegt ...
K i n d e r l i e d
Die größte Ehre, die man einem Menschen antun kann: So viel Vertrauen zu ihm zu haben, dass man ehrlich zu ihm sein darf.
Es hat schon sehr früh angefangen, vermutlich bereits zu der Zeit, als ich noch ein Kleinkind war und gerade mal das Sprechen gelernt habe: Was auch immer meine Gefühle mir sagen, was ich gerne tun würde und was mir Spaß machen könnte, was mir und meinem innersten Wesen entspräche - es wird mir ausgeredet oder verboten. Oder mir werden Sätze gesagt wie: "Das darf man so gar nicht fühlen" oder "Das kann gar nicht sein" oder "So etwas tut man nicht."
Und dann natürlich noch der große Maulkorb, den wir sicher alle kennen - ich darf nicht sagen, was ich denke: "So etwas sagt man nicht!"
Schon ziemlich früh ist mir damals klar, dass ich zwar ständig dazu angehalten werde, immer ehrlich zu sein und niemals zu lügen, aber dass ich gleichzeitig zum Lügen erzogen werde. Wie soll man beides unter einen Hut bekommen? Eine Szene, an die ich mich heute noch erinnere, mag stellvertretend für unzählige andere, ähnliche Situationen sein, wie wir sie wohl alle kennen.
Es war so: Meine Eltern besuchen mit mir an diesem Tag mal wieder Tante Frieda. Aus Gründen, die ich bis heute nicht verstehe, können meine Eltern diese Frau nicht leiden. Ich dagegen hab absolut nichts gegen Tante Frieda, aber ich mag diese Besuche bei ihr nicht. Vielleicht, weil sie mal Lehrerin war und man das manchmal heute noch merkt? Oder weil die Atmosphäre dann immer von Heuchelei und Verlogenheit geprägt ist?
Warum wir sie trotzdem regelmäßig besuchen, weiß ich nicht - es gibt ja nicht mal was zu erben. Vermutlich muss die Form gewahrt, irgendeine idiotische Tradition gepflegt oder eine hirnrissige Konvention eingehalten werden. Und so übertreffen sich meine Eltern während der Fahrt zu Tante Frieda zwar auch dieses Mal an wüsten Beschimpfungen der alten Frau und ihres Kuchens und, wenn sie schon mal dabei sind, auch gleich des Kaffees und ihres dummen Geplappers und dann auch noch wegen ihrer Angewohnheit, jeden Tag Vitamine zu schlucken, um möglichst lange geistig jung zu bleiben. "Immer dieser erhobene Zeigefinger von ihr", knurrt mein Vater. "Alles weiß sie besser. Und dann bringt sie es fertig, einem auch noch die Pistole auf die Brust zu setzen, nur weil nicht jeder so viel gelesen hat wie sie!" Ich verstehe nicht mal ansatzweise, was er damit ausdrücken will, aber so ist er nun mal, mein Vater. Und meine Mutter zischt mit einem süffisanten Grinsen: "Und wie es in ihrer Wohnung aussieht! Sie sollte vielleicht mal weniger lesen und mehr putzen!" Sicherheitshalber werde ich auch dieses Mal mehrfach ermahnt, unbedingt mit einem freundlichen 'Ja' zu antworten, falls ich gefragt würde, ob dieser abscheuliche Kuchen schmecke, und ihr auch ansonsten niemals zu widersprechen. Als ich einzuwerfen wage, dass ich doch aber niemals lügen solle, werden mir kurzerhand Prügel, Hausarrest und Schlimmeres angedroht. Sonst ist es immer genau andersrum und muss ich mit Prügel und dergleichen rechnen, wenn ich mal lüge. Verwirrend ist das. Wie soll ich das verstehen, zumal ich noch ein Kind bin? Und so lerne ich eben, brav 'Ja' zu sagen, also zu lügen, wenn Tante Frieda fragt, ob mir denn der Kuchen schmecke, den sie extra für uns gebacken habe.
Als wir an besagtem Tag bei ihr eintreffen und zur allgemeinen Begrüßung mal wieder gelogen wird, dass sich die Balken hätten biegen müssen, begehe ich doch tatsächlich einen schweren Fehler. Die Tante bringt gerade zum Ausdruck, wie sehr sie sich freue, dass wir sie besuchen, und meine Eltern murmeln etwas von "Aber das tun wir doch gerne". Und ich im zarten Alter von sieben oder acht Jahren krähe fröhlich dazu: "Das ist doch gar nicht wahr! Eben im Auto habt ihr noch gesagt ...".
Doch bevor ich den Satz beenden kann, bin ich um eine schallende Ohrfeige reicher und werde von meiner Mutter energisch zur Seite gezerrt. "Wenn du noch einmal sowas sagst", keift sie mich flüsternd an - und ich frag mich noch heute, wie man gleichzeitig flüstern und keifen kann, aber sie beherrscht das damals wunderbar -, "dann schlägt Papa dich grün und blau! Also hör auf, uns immer nur auf der Nase rum zu tanzen und halt bloß die Klappe!"
*
Nun ja, was hätte ich damals machen sollen? Ich hab dann eben aus Angst, für meine Ehrlichkeit doch immer wieder nur bestraft und verletzt zu werden, künftig darauf verzichtet, ehrlich zu sein, und hab das Lügen ebenso eifrig gelernt wie das Heucheln und das Schöntun und all das, mit dem man anderen Honig ums Maul schmiert ...
Auch ansonsten musste ich weiterhin in meinem Leben stets so sein, wie meine Eltern und viele andere es sich vorgestellt haben. Und so hab ich mit etwa zehn oder elf Jahren mal in Anlehnung an entsprechende Aussagen meiner Eltern und anderer Erwachsenen wie im Rausch ein kleines "Gedicht" geschrieben und ihm eine einfache, kindliche Melodie verpasst, also ein völlig harmloses Kinderlied daraus gemacht. Und bis heute erinnere ich mich an zwei Zeilen aus diesem Lied:
"So wie ich bin, darf ich nicht sein,
denn dafür bin ich viel zu klein."
Natürlich hab ich mich auch sonst immer so verhalten müssen, wie es andere wollten. Zum Beispiel die Kindergärtnerinnen, die Lehrerinnen und Lehrer, Freundinnen und Freunde - eben die anderen. Und immer wieder das Gleiche: Ich durfte nicht sagen, was ich dachte. Warum nur?
Ich konnte grübeln, so viel und so lange ich wollte - ich kam niemals hinter das Geheimnis. In anderen Situationen wurde mir dann wiederum regelrecht eingeprügelt, dass ich auf jeden Fall unbedingt nichts anderes sagen dürfe als die Wahrheit.
Irgendwann kamen die ersten "Partnerinnen" und wollten natürlich ebenfalls, dass ich so bin, wie sie es gerne hätten. Und dass ich ihnen selbstverständlich nach dem Mund rede. Einfach mal frei und ungezwungen das sagen, was ich denke? Nie im Leben! Es führte immer nur zu tagelangem Schweigen und anderen Bestrafungsaktionen oder gar zur Trennung. Selbst wenn ich um meine ehrliche Meinung gebeten wurde, zum Beispiel zu ihrer Figur, zu einer ihrer Freundinnen oder zu einem bestimmten Kleidungsstück - kaum hab ich sie geäußert, wurde mir eine Szene gemacht.
Auch an der Uni und im Berufsleben war es immer das Gleiche: Andere sagten mir, wie ich zu sein habe, damit ich gut ankomme und Erfolg habe und keinen Ärger bekomme. Und auch dort durfte ich niemals sagen, was ich dachte, oder so reden, wie mir nun mal der Schnabel gewachsen war. Alle schwärmten und träumten von Ehrlichkeit, aber wenn ich mal ehrlich war, kam es unweigerlich zu Katastrophen.
Und nun bin ich im reifen Alter hier im Joyclub gelandet. Und was muss ich überall lesen: So, wie ich bin, darf ich auch hier nicht sein.
Ja, es ist so: Ich darf auch hier nicht kundtun, was ich denke. Ich darf mich nicht so äußern, wie ich es am liebsten würde. Frei von der Leber weg einfach mal ganz ungezwungen, frei heraus und ehrlich zum Ausdruck bringen, was mich bewegt? Das geht gar nicht. So zu schreiben, wie ich mich gerade fühle, oder genau das posten, was ich wirklich denke, das darf ich auf gar keinen Fall. Angeblich könnte sich dann jemand verletzt oder gekränkt oder beleidigt fühlen, und darauf hat man hier gefälligst Rücksicht zu nehmen.
Nun ist es aber so, dass ich mich nur dann so richtig wohl fühle, wenn ich unter Menschen bin, bei denen ich einfach mal so sein darf, wie ich bin. Und wenn wir alle mal ganz ehrlich sind: Geht's uns nicht allen so? Wünschen wir uns nicht alle eine Umgebung, in der wir so reden dürfen, wie uns gerade zumute ist? Wo wir jederzeit sagen können, was wir denken und fühlen, ohne dafür gleich kritisiert, angegriffen oder ausgegrenzt zu werden? Wo wir uns so äußern dürfen, wie uns gerade zumute ist? Hier darf man das jedenfalls nicht.
Werde ich jemals groß genug sein, um so sein zu dürfen, wie ich bin?
*
Um noch mal auf Tante Frieda zurück zu kommen: Als ich neunzehn Jahre alt war, hab ich sie eines Tages allein besucht, vorher extra ein paar Gänseblümchen gepflückt, die sie so sehr liebte, und mich dann ziemlich lange mit ihr unterhalten:
Es ist ein erstaunliches Gespräch, denn sie wirkt an diesem Tag ganz anders auf mich als damals, als ich noch ein Kind war. Und so sage ich ihr dann auch ehrlich, dass der Kuchen damals jedes Mal einfach nur scheußlich war.
Lange blickt sie mich daraufhin schweigend an, schüttelt schließlich den Kopf und fragt, warum wir ihr das eigentlich niemals gesagt haben. Sie habe uns geglaubt, dass er wunderbar schmecke und - obwohl sie ihn eigentlich selbst eher schrecklich fand - extra für uns jedes Mal genau diesen Kuchen gebacken, um uns damit eine Freude zu bereiten. Wir hätten sie ja sogar immer wieder darin bestärkt, weil er uns doch angeblich wunderbar schmecke. "Hab mir also jedes Mal umsonst die Mühe gemacht, nur weil ihr mich angelogen habt?", fragt sie mich traurig. Und ich nicke nachdenklich.
Und sie, ausgerechnet die alte Tante Frieda, die wenige Wochen nach diesem Gespräch trotz all ihrer Vitamine leider völlig überraschend gestorben ist und die ich an diesem Tag zum letzten Mal gesehen habe, sie umarmt mich auf einmal und bedankt sich dafür, dass ich so ehrlich zu ihr bin. Dann putzt sie sich die Nase und sagt: "Weißt du, mein Junge, wär mir lieber gewesen, ihr hättet gesagt, dass der Kuchen nicht schmeckt. So fühle ich mich einfach nur verarscht."
"Naja", antworte ich, "es ist vielleicht etwas hart ausgedrückt, wie du das siehst, aber es trifft schon den Kern der Sache. Aber ich wollte wenigstens immer die Wahrheit sagen, doch ich durfte nicht."
"Kann ich mir vorstellen", brummt sie, "kenn ja deine Eltern. Harmoniesüchtig und feige. Angst vor Konflikten. Sogar vor Konflikten mit einer alten Frau."
"Ich weiß nicht so recht, Tante Frieda. Vielleicht haben sie es ja auch nur gut gemeint und wollten dich einfach nur nicht kränken?"
Sie sieht mir in die Augen und fragt: "Sag mal, Junge, weißt du eigentlich, was Kränken wirklich ist?"
"Klar. Warum fragst du?"
"Schon mal dran gedacht, dass deine Eltern mir gegenüber sehr respektlos sind und mich gerade deswegen gekränkt haben?"
Ich räuspere mich und weiß nicht so recht, worauf sie hinaus will und was ich darauf antworten soll, doch sie erlöst mich und sagt etwas, das mich bis heute beschäftigt: "Respektlos ist es, andere Menschen für so schwach oder so blöd zu halten, dass man glaubt, sie schonen zu müssen, dass man ihnen nicht zutraut, auch mal Ehrlichkeit auszuhalten oder die Wahrheit zu ertragen. Denk mal drüber nach, mein Junge, ob man den anderen wirklich ernst nimmt, achtet und respektiert, wenn man ihn für zu schwach oder zu blöd dafür hält. Oder ob man den anderen damit nicht kleiner macht? Mich kränkt es jedenfalls, dass sie mich nicht ernst genug nehmen, um ehrlich zu mir zu sein."
So viel redet Tante Frieda selten, gerade auch in Anbetracht des Umstandes, dass sie ja eine alte Frau ist und somit eigentlich eine Quasselstrippe sein müsste. Also muss das Thema sie doch mehr aufwühlen, als ich gedachte habe. "Das leuchtet mir ein", antworte ich verwirrt. "Da könnte wirklich was dran sein."
"Bin ja nun wirklich nicht mehr die Jüngste und vielleicht schon etwas senil, mein Junge. Meine Eieruhr ... äh ... ich meine natürlich meine Sanduhr ist wohl schon fast abgelaufen. Aber eines weiß ich immer noch: Es gibt keine größere Wertschätzung für einen Menschen als die, immer ehrlich zu ihm zu sein, auch dann, wenn es für ihn mal unangenehm ist oder wenn es eine unbequeme Wahrheit ist. Die besten Freunde in meinem Leben waren immer diejenigen, die wirklich aufrichtig und ehrlich zu mir waren - durch sie hab ich am meisten gelernt. Auch wenn es mal weh getan hat. Wie denkst du darüber?"
Doch ich antworte auch darauf nicht.
Wir reden dann noch über dies und das, ein paar völlig belanglose Dinge, bis ich mich herzlich von ihr verabschiede. Über diese Frage von ihr denke ich auch heute noch immer wieder mal nach. Doch jedes Mal, wenn ich daran denke, fällt mir dieses blöde Kinderlied ein und ich frag mich, was das wohl damit zu tun haben könnte ...
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(Copyright by Antaghar im November2013)