Fluchtpunkte
Fluchtpunkte
(c) 2013 by TRB
Ich weiß es nicht mehr genau, aber es muss zwischen zwei und drei Uhr morgens gewesen sein. Ich war hundemüde. Claudia konnte, wenn sie in Fahrt war, unglaublich anstrengend sein. Da ich fast eine halbe Flasche Singleton verputzt hatte, und nicht eben erpicht darauf war, bei Claudia zu übernachten, tat ich das, was Soldaten immer machen, wenn sie in Bedrängnis gerieten. Sie machten ein dummes Gesicht, konstruierten einen Vorwand und verpissten sich.
Und jetzt saß ich müde, ausgelaugt und leer in der U 55. Ein fast leerer Waggon. Meine Gedanken kreisten um Claudia. Ich wollte nie eine Beziehung. Ich wollte weder heiraten noch mit irgendwem „fest“ zusammen sein. Ich konnte mich darauf einlassen, ein gutes Stück Weg gemeinsam zu gehen, aber dann in Freundschaft eigene Wege zu gehen. Ja, Claudia hatte Recht. Ich habe keine Freunde. Weder männliche noch weibliche. Ich habe… Nichts. Ich habe eine Zahnbürste, ein Auto, ein Bankkonto. Letzteres war mir schon zuviel. Es machte mich verfolgbar. Und das widerstrebte mir. Ich erinnerte mich an den Leitspruch des 14th Ranger- Bataillon in Fort Worth, Texas. „In God we trust, all others we track“
Und eines wollte ich ganz und gar nicht. Verfolgt werden. Vor allem nicht von Schicksen und meschuggenen Mischpoken aus der arabischen Welt. Nicht, dass wir uns missverstehen. Ich mag die Araber. Ich mag die Kultur dort. Ich mag ihren Machismo, ich mag ihre Geradlinigkeit und ich mag ihre Art, die Welt zu sehen. Die Jungs dort haben ein kleines Männchen / Weibchen – Problem, aber im Grunde sind sie vollkommen in Ordnung. Das gilt für die meisten Volksstämme.
Gut, Osama und seine Konsorten waren ein Sonderfall. Die waren imstande, aus daffke irgendwelche Scheiße in die Luft zu sprengen. Und das taten sie in vollster Überzeugung ihrer religiösen und intellektuellen Überlegenheit. Und wir Soldaten mussten auch noch dankbar sein. Nach 2001 wurde eine Liste herumgereicht für alle, die auch nur im entferntesten mit der Suicide- Religion in Kontakt kam. Bundeskanzleramt, Feldagenten, Fernspäher, Einzelkämpfer, Militärpolizisten und komplett alle, die im nahen und fernen Osten Dienst taten.
Wir nannten es die „Bomber-Liste“. 15 Punkte, an denen man einen Selbstmord- Attentäter erkennen konnte. Und diese Liste war Tacheles. Keine Diplomatie, keine political Correctness, keine Rücksicht auf ausländischen Tinnef. Klartext. Und genau das fiel mir jetzt, am 18.10.2013, zwischen zwei und drei Uhr morgens ein.
Zugestiegen war ich in Berlin Alexanderplatz, aussteigen wollte ich am Hauptbahnhof. Nun saß ich hier im Abteil, die Finsternis rauschte boshaft an mir vorbei, an Tausenden schlafender Menschen. An Besoffenen, arbeitenden, sich prügelnden, sich liebenden und an Verrückten. Ich saß in Fahrtrichtung Links mit dem Rücken zur Abteiltür. Das machte ich immer so. Immer eine feste Mauer im Rücken. Teil der Ausbildung. Ich hörte Oberfeldwebel Uhlig, Ausbilder der Einzelkämpfer in Bad Kissingen schreien: „Wir bewegen uns leise, wir bewegen uns schnell, denn wir bringen den Tod!“
Die Liste, die 2001 ausgegeben wurde, umfasste 15 Punkte. Und ich konnte den Gedanken nicht weglenken von der Liste. Im Abteil waren nur wenige Menschen. Rechts neben mir zwei Jugendliche. Jeans, wirre Haare, Lederjacken. Drillich- Umhängetaschen, die ein Format hatten, dass man einen Laptop darin tragen konnte. Sneakers. Sie gehörten zur Schikkoria. Dachten sie jedenfalls.
Der Zug fuhr sanft an. Ich beobachtete weiter, nachdem die Automatismen abliefen, die jeder von uns drauf hatte. Ausgänge zählen. Menschen zählen. Gegner einstufen. Fluchtwege festlegen. Gefahrenpotenzial ausloten. Chancen für den Ernstfall berechnen. Das alles ging von selbst. Sechs Personen. Ein Ausgang vorne links, einer vorne rechts. Zwei Notfall- Scheibenhämmer in der Mitte des Abteils. Hinter mir der Durchlass zum nächsten Abteil, acht Meter vor mir und 2 Sekunden der Durchgang zum vorderen Abteil.
Eine Sitzreihe vor mir sah ich eine Afro- Frisur, nur von hinten. In dem schwarzen, sich im Tunnel spiegelnden Licht sah ich einen jungen Mann, vielleicht 22, mit einem Laptop auf dem Schoß. Er schien ein Student zu sein. Hatte ein aufgeschlagenes Buch neben sich, das er ab und zu hochhielt, um etwas mit dem Laptop zu vergleichen. Er schien irgendeine chemische, physikalische oder mathematische Formeln auszubaldowern.
Ihm direkt gegenüber saß eine dicke Frau mit einem Kopftuch. Offensichtlich aus dem nahen Osten. Sie schlief. Hielt aber ihre große Tasche, offenbar ein Plagiat von Yves- Saint Laurent, krampfhaft fest. Ab und zu zuckten ihre Finger und die Tasche bewegte ich, als hätte sie ein Eigenleben. Ihre Hände waren narbig, faltig und sahen saus, als hätte sie eine Job bei den Ausbeutern der Reinigungsfirmen. Bestimmt war sie auf dem Heimweg, um dann, nach nur wenigen Stunden Schlaf, den nächsten Ausbeuter- Job anzusteuern.
Ganz hinten saß ein stämmiger Mann in einer Art Uniform. Vielleicht ein Security. Oder ein Wachmann. Oder ein Angehöriger der Stadtwerke. Er stierte aus dem Fenster, hatte offensichtlich geistig abgeschaltet.
Rechts vor mir saß eine junge Frau. Ihr Kopftuch machte es schwer, ihr Alter abzuschätzen. Ich siedelte sie irgendwo zwischen 25 und 30 an. Die Haut ihres Gesichtes, die gepflegten Augenbrauen, die Spannung der Haut über ihren Wangenknochen, all das ließ mich darauf schließen, dass sie nicht alt war. Aber sie erfüllte den ersten Punkt der Watch- List. Sie trug, der Jahreszeit vollkommen unangemessen, eine Jack- Wolfskin- Jacke, die ihre vier Nummern zu groß war. Bei den Selbstmord- Attentätern waren weite Bekleidungsstücke quasi Pflicht. Ein Gürtel aus mindestens 24 Stangen Dynamit oder C4 oder noch schlimmer: Semtex mussten sich verstecken lassen, das ging nur mit weiter Kleidung.
Aber allein die Jacke war noch kein Indiz. Ein zweites kam jedoch hinzu. Sie schwitzte stark. Semtex hat sein Gewicht, aber um es so effektiv zu machen, dass es so viel wie möglich Menschen mit in den Tod riss, brauchte es Hilfsmittel. Stahlkugeln aus Kugellagern, Schrapnelle, Metallteile. Sie wurden in die Abstände zwischen den Sprengladungen gebaut. Eine Druckwelle allein hatte schon seine Wirkung, aber mit Überschall fliegende Metallteile, dazu noch scharfkantig, richteten verheerende Verwüstungen an. Und das Metall war schwer. Die Attentäter schwitzten stark.
Damit waren schon zwei Kriterien von 15 erfüllt. Weite Kleidung und Schwitzen. Und wer zum Teufel schwitzt in einer klimatisierten U-Bahn?
Dazu kamen die Kriterien drei und vier. Hospitalismus und Gebete. Die schwitzende Frau schräg vor mir bewegte ihren Oberkörper Mantra- artig vor und zurück. Ich beobachtete ihre Lippen. Sie murmelte Gebete, wieder und wieder. Ihre Lippen bewegten sich in nicht enden wollender, stetig repetierender Manier. Dazu kam Punkt fünf. Das Tausend- Meter- Starren. Ihre grünen Augen starrten ans Ende der Galaxis wie mir schien. Sie war sich bestimmt bewusst, wo sie war, aber ihr Geist war am Ende der Zeit angelangt. Damit waren fünf von 15 Punkten erfüllt.
Eine Gänsehaut zog sich eiskalt von meiner Fontanelle bis zu meinem Hintern. Ich spürte Angst. All meine Ausbildung, meine Fähigkeiten, meine Instinkte und all mein Vermögen waren hier unten nutzlos. Zog die Frau den Zündstift, war ich innerhalb einer tausendstel Sekunde verdampft.
Somit kam Punkt sechs der Liste zum tragen. Der Sprengstoff selbst. C4, Semtex und Derivate waren vollkommen harmlos. Man konnte auf sie schießen, sie anzünden, ins Feuer werfen, überfahren, anschreien oder in den Mixer packen. Es passierte rein gar nichts. Nur wenn ein elektrischer Impuls in die Masse geleitet wurde, ging das Zeug hoch. Das bedeutete aber auch, dass sie eine Stromquelle mit sich führen mussten. Eine AA, AAA, Monoblock oder 9V- Batterie reichte aber nicht, um zwei Dutzend Stäbe zu zünden. Es musste ein Batterie-Pack sein. Oder eine Motorrad- Batterie. Und die ließ sich nicht unter der Kleidung verstecken. Die Attentäter drapierten sie immer in Umhängetaschen, webten die Zündkabel in die Trageriemen ein und tarnten so die Batterien.
Die Frau schräg vor mir mit den wiegenden Bewegungen hatte eine olivgrüne Drillichtasche vor der Brust. Die Tasche lag auf ihrem Schoß. Selbstmord- Attentäter wollten kein Risiko eingehen. Sie hatten ständig und überall immer wenigstens eine Hand am Zünder. Immer. Am besten sogar alle zwei Hände. Die Frau hatte beide Hände in der Tasche.
Nun waren es schon acht Punkte. Acht von 15, das war mehr als 50%. Mir wurde kalt. Ich sah mir die anderen Leute an. Niemand außer mir schien das bemerkt zu haben.
„Berliner Rathaus“ schallte es aus den Lautsprechern und ich erschrak bis ins Mark. Mühsam beruhigte ich mich. Atemfrequenz senken. Herzschlag beruhigen. Ruhig. Ganz langsam, mein Alter.
Keiner der Leute im Waggon sah auch nur hoch. Und ich fragte mich, wohin die Frau wollte? Um diese Uhrzeit konnte sie nirgendwo schweren Schaden anrichten. Vielleicht am Hauptbahnhof. Aber das war total blödsinnig. Wenn sie gegen 8 Uhr morgens oder 17 Uhr ihr Überraschungsei zünden würde, könnte sie viel mehr Menschen töten. Wozu also? Ich verstand es nicht. Aber ich musste es verstehen. Für mich gab es nur zwei Möglichkeiten. Am Rathaus aussteigen oder mich der Situation stellen.
Der Zug hielt. Niemand stieg aus und niemand stieg ein. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Meine Militärzeit war lange vorüber. Und die folgenden Punkte der Liste konnte man nicht wirklich sehen. Testament. Rückzug in eine Art Gebetsburg, Vorbereitung auf das Märtyrertum.
Ich hatte eine Scheiß- Angst. Aber wenn ich die anderen sah, war ich der Einzige, der wusste, was los war und der etwas unternehmen könnte. Selbst wenn ich bereit war, zu sterben, wenn ich bereit war, die anderen fünf zu opfern, um Hunderte zu retten; wenn ich die Notbremse betätigte und die Sprengladung mitten im Tunnel hochging… wer sagte mir, dass nicht genau an dieser Stelle ein Wohnblock stand, der mit 50 Familien dem Erdboden gleichgemacht wurde?
Ich begann, die Linie 55 zu hassen. Der Zug wurde wiederum langsamer und aus den Lautsprechern kam die bekannte, weibliche Stimme: „Museumsinsel“
Wo in Dreiteufelsnamen wollte sie die Ladung zünden? Ich sah rechts oben an der Waggon- Wand einen Fahrplan. Die nächste Station war „Unter den Linden“. Dann kam das Brandenburger Tor. Und dann der Bundestag. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Die Koalitions- Sondierungen waren noch nicht zu Ende! Verdammt.
Wie ein Roboter stand ich auf. Näherte mich ruhig und zielstrebig der schwitzenden Frau.
„Darf ich mich setzen?“
Keine Antwort.
„Mein Name ist Tom. Ich bin Soldat. Verstehen Sie mich?“
Keine Antwort. Aber ich sah, dass sie keine Muslima war. Sie war Italienerin, Spanierin oder Portugiesin. Auf keinen Fall aus dem nahen Osten.
„Ich kann Ihnen helfen, wissen Sie?“
Keine Antwort. Nur das Tausend-Meter-Starren, wippende Bewegungen und das stete Gemurmel ihrer Gebete.
„Möchten sie nicht, dass ich Ihnen helfe?“
Sie sah mich an. Ein erster Erfolg. Ihr Blick kehrte aus der Unendlichkeit zurück.
„Nein“
Kein Dialekt. Kein ausländischer Einschlag, keine Klangfarbe, die darauf hindeutete, dass sie die war, von der ich dachte, dass sie es sein müsste.
„Sie müssen das nicht tun“ sagte ich ruhig und ohne nervös zu wirken. Ich bemerkte jedoch, dass ihre rechte Hand sich anspannte. Siedend heiß lief es mir den Rücken herunter. Vielleicht hatte ich einen Fehler gemacht.
„Doch. Ich kann nicht anders“
„Das stimmt nicht. Es gibt immer einen Ausweg, wissen Sie? Tun sie mir einen persönlichen Gefallen?“
Keine Antwort.
„Bitte. Es ist wichtig. Ich muss ihre Hände sehen. Bitte“
Sie sah mich an. Mit ihren grünen, jetzt vollkommen auf mich fokussierten Augen sah sie mich an. Ich versuchte, meine Absicht nicht offensichtlich werden zu lassen. Wenn sie nämlich ihre Hände aus der Tasche zog, musste sie den Zünder loslassen. Das wäre meine Chance. Theoretisch. Aber immer noch tausendfach besser, als hätte sie den Finger am Zünder.
Langsam zog sie ihre linke Hand aus der Tasche. Kein Nagellack. Schlanke Finger, beinahe filigran, wie die einer Lehrerin oder Beamtin. Die Nägel gepflegt, die Nagelhaut sorgfältig bearbeitet. Das war keine Terroristin! Wer mit dem Ende rechnet, dem ist das egal.
„Brandenburger Tor“ schallte es aus den Lautsprechern. Niemand stieg ein, niemand stieg aus. Dann ruckte der Zug kurz und beschleunigte wieder.
„Zeigen sie mir auch die Rechte, bitte“
„Nein“
„Bitte. Ich müsste sie sonst angreifen. Und damit wäre ihr Ziel nicht erreicht oder etwa nicht?“
„Sie irren sich“
„Ich glaube nicht. Bitte. Sie haben nichts zu verlieren. Ziehen sie ihre Hand aus der Tasche. Geben sie auf. Alles, was nun geschieht ist nicht das, was sie wollen. Stimmts?“
Sie sah mich an. Aus grünen, klaren Augen, in denen die Erkenntnis schimmerte. Und eine Entscheidung.
Sie zog langsam die Hand aus der Tasche. Sehr langsam. Und zu meiner vollkommenen Überraschung hatte sie keinen Zünder in der verkrampften Hand, sondern einen schweren Revolver. Smith&Wesson 629, Kaliber .357 Magnum, 2,5 Zoll langer Lauf.
Und er war auf mich gerichtet. Das Fatale bei Revolvern mit kurzem Lauf war, dass man durch den Lauf hindurch die Geschoss - Spitze sehen konnte. Man kann sagen, dass man einen unmittelbaren Bezug zum Problem hat. Sie hatte Teilmantel- Flachkopf- Geschosse geladen. Eine Weichblei- Spitze, die von einer Kupferlegierung ummantelt war, die man Tombak nannte. Prallte das Geschoss auf einen Körper, drückte sich das Blei in den Metallmantel, pilzte ihn auf und verdoppelte den Einschuss- Kanal. Verheerende Wirkung war die Folge. Das Geschoss verdrängte die Gewebe- Flüssigkeit, die sich mit Schallgeschwindigkeit durch sämtliche körpereigene Kanäle zog und verursachte Druckschäden im gesamten Metabolismus. Das aufpilzende Metall zerriss Gewebe, Knochen und Adern. Eine furchtbare Munition. Und jetzt zielte sie genau auf meinen Bauch.
„Ich bin nicht ihr Feind. Wissen sie das?“
Keine Antwort.
„Sie müssen damit aufhören“ sagte ich mit Nachdruck „hier und jetzt. Es ist vorbei und wenn sie nachdenken, wissen sie das auch“
Keine Antwort. Ich sah sie an. Ich sah Verzweiflung. Ich sah Trauer. Ich sah Hoffnungslosigkeit. Das war keine Terroristin.
Dann hob sich der Revolver. Ich dachte: „Aus. Das wars. Feierabend“
Aber sie hob den Revolver weiter und weiter. Sie legte sich die Waffe unters Kinn, ohne dass ich das Mindeste dagegen tun konnte. Ohne zu zögern drückte sie ab und schoss sich den Kopf weg.
„Reichtag“ kam es aus den Lautsprechern und der Zug hielt. Er würde nicht wieder anfahren. Jedenfalls nicht die nächsten Stunden.