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Nebelbilder

****ra Frau
2.916 Beiträge
Themenersteller 
Nebelbilder
Das welke Blatt knisterte unter seiner Schuhsohle, zerfiel zu kleinen Fragmenten und wurde vom kalten Novemberwind wie kleine Tabakkrümel davon geweht. Schwerfällig setzte er seine Füße voreinander und schlurfte in Richtung Parkbank.
Die Bank, auf der er mit Paul seit Jahrzehnten gesessen hatte. Sein Leid und seine Freude mit ihm teilte, hier unter der scheinbar uralten Kastanie. Ein kräftiger Ast beugte sich vorwitzig über die Bank und wirkte wie ein kleines Dach. Hier fanden sie stets Schatten im Sommer, wenn die Sonne brütende Hitze bereitete.
Im Herbst sahen sie zu, wenn die trockenen Kastanienblätter wie kleine Segler auf luftigen Wellen dahin trieben. Oft schlugen Paul und er die Kragen ihrer Mäntel nach oben, pusteten kondensierenden Atem in ihre klammen Hände, um sich ein wenig zu wärmen.

So lebendig wirkten diese Erinnerungen, Bilder die ihn wohl für die verbleibende Zeit seines Lebens begleiten würden. Ihm wurde warm ums Herz, als er Pauls Gesicht vor sich sah. Die von der Kälte gerötete Nasenspitze, tränenfeuchte Augen, wenn der Wind mal wieder allzu heftig blies. Im Sommer bekam er selbst stets einen Sonnenbrand, Paul hingegen tausende Sommersprossen auf der Nase, die ihm ein verschmitztes Aussehen schenkten. Nichts hätte die beiden davon abhalten können, sich auf ihrer Bank zu treffen.

Jetzt war er alleine. Seine schwachen Augen erfassten die Umrisse der Bank. Hier und da blätterte bereits Farbe ab und hinterließ einen fleckigen Teppich unter den geschwungenen Beinen der Bank, die in fein ausgearbeiteten Löwentatzen endeten. Leise seufzend drehte er sich um, lauschte seinen knackenden Knien während er sie beugte und nahm langsam Platz. Sein dicker Mantel knarzte leise in Schulterhöhe, als er seinen Kragen nach oben schlug.
‚Ach Paul, warum musstest du als erster gehen?’ dachte er wehmütig und senkte seine kalten Hände in den Schoß und betrachtete sie. Fleckig waren sie geworden. Welk die Haut, wie das Laub um ihn herum. Nur dass im nächsten Frühjahr wieder neues Grün an den erwachenden Bäumen wachsen würde. Er hingegen würde sich nie wieder verjüngen. Nie mehr blühen. Für ihn würde es immer Herbst bleiben. Auf ewig würde sein Verwelken andauern, bis der Winter, der eisige Schlaf ihn für immer zu sich holen würde. Langsam hob sich sein Blick von seinen Händen, über den Kiesweg hinüber zu dem kleinen Fluss, der scheinbar unverändert das Wasser durch sein Bett zu trieb. Grau und trostlos gurgelte das Wasser über die Steine, die das Ufer säumten.
Er dachte an das Blau des Himmels, das sich im Sommer auf der glitzernden Oberfläche des Flusses spiegelte. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht, erlosch jedoch schnell wieder durch den Gedanken, wie schnell sein eigener Sommer vergangen war.

Die oberen Knöpfe seines Mantels ließen sich mit klammen Fingern nur schwer öffnen, doch nach kurzer Zeit glitt seine Hand zur Innentasche und zog das Stück Papier ans Licht. Zerknittert und abgegriffen war das Foto von Paul und ihm. Paul war schon immer der Scherzbold gewesen, konnte so ansteckend lachen, dass niemand widerstehen konnte, der ihn lachen hörte und mindestens ein kleines Grinsen hervorbrachte.
Selbst jetzt noch wirkte dieser Zauber als er das Bild betrachtete. Anfang zwanzig waren sie damals gewesen. Paul, der ihm hinterrücks Hasenohren mittels zweier Finger am Hinterkopf verpasste, grinste ein werbe reifes Zahnpastalächeln.
Zitternd glitt sein Zeigefinger über das brüchige Papier, aber es blieb kalt, unbewegt. Wie Paul, der in diesem grinsenden Zustand gefangen war.
Das Leiden seines Sterbens lag damals noch in unendlicher Ferne. Wie gut, dass niemand weiß, auf welche Weise der Tod vorgesehen hatte, wie man das letzte Tor durchschreitet. Warum der Eine im seligen Schlummer hinüber glitt, Andere monatelang mit unerträglichen Schmerzen den Weg zurücklegen mussten. War der Tod neidisch? Auf die, die im Leben allzu glücklich waren? Denen alles gelang, die viel Gutes taten?

Er blickte nach oben, in den grauen Himmel als erwartete er von dort eine Antwort. Doch wie immer auf seine Frage nach dem Warum, hüllte sich alles in Schweigen. Niemand würde wohl eine Antwort hierauf geben können.
Kalter Wind kam auf, zerrte an seinen dünnen Haaren, blies sie über seine kahlen Stellen. Ihm war es egal, wen interessierte noch gutes Aussehen. Er fror, seine Finger wurden noch steifer, als sie sowieso schon waren. Feste umklammerten sie das Papier, an dem der Wind trotzig zog. Das Bild bewegte sich und für einen kurzen Moment wirkte es, als würde Paul ihm zuzwinkern. Er spürte sein Herz pochen, wie es heftig gegen seine Rippen klopfte, Hitze in ihm aufstieg und er sogar errötete. Dieses Aufblühen hielt nur wenige Augenblicke an. Ebenso schnell erlosch es wieder und um ihn herum schien es noch eine Schattierung dunkler zu werden.

Langsam streckte er seinen linken Arm aus, wartete bis der Stoff des Ärmels nach oben gerutscht war, beugte ihn und blickte auf seine Armbanduhr. So lange saß er schon wieder hier? Es war kurz vor fünf Uhr, kein Wunder, dass es bereits dunkelte. In diesem Einheitsgrau war es schon schwer genug, überhaupt eine Tageszeit zu erkennen. Als er seinen Arm zurückzog, glitt der Stoff nicht zurück in seine Ausgangsposition. Daher pickte er mit der Hand, die das Foto hielt, nach dem Bund des Ärmels, um ihn umständlich nach unten zu ziehen. Ein erneuter, kräftiger Windstoß riss ihm diesmal erfolgreich das Foto aus den Fingern. Verdutzt über diesen plötzlichen Verlust blickte er dem davon trudelnden Stück Papier hinterher.
‚Paul’ flackerte ein verzweifelter Ruf in seinen Gedanken auf.
Er konnte nur noch zusehen, wie auch dieser Teil seines Lebens verschwand. Eine dicke Nebelwand verschluckte die zerknitterte Erinnerung. Mit vorgebeugtem Oberkörper erhob er sich, richtete seinen Mantel und lief auf den Nebel zu. Ein weiteres welkes Blatt zerbröselte unter seiner Schuhsohle, ein erneuter, müder Schritt brachte ihn näher an die feuchte Wand. Gierig schien der Nebel ihn zu verschlucken, seinen müden Körper zu umfangen. Er war verschwunden, hinterließ keine weiteren Spuren auf seinem Weg. Ein tanzender Luftwirbel trieb die Bruchstücke des zertretenen Laubes davon.

© Lys 07/13
Wow!
Du schaffst es mich sogar in dieser Hitze zum Frösteln zu bringen!
Traurig schön und kantig rund, wie und was Du mir da vor Augen und ins Herz zeichnest.

Chapeau!
Toll .......
werbe reifes

würde ich zusammen schreiben ...

Ich sah ihn sitzen - das Blatt wegfliegen und ihn danach im Nebel verschwinden sehen.

*bravo* Ev
**********Engel Frau
25.346 Beiträge
Gruppen-Mod 
Wundervoll - und mich ein wenig traurig machend.
Du beschreibst so schön die Stimmung in ihm und auch den Verlust um seinen Freund.
Ebenso wie auch diese Kleinigkeiten. Wie er den Arm bewegt, bis sich der Ärmel hochschiebt, damit er auf die Uhr schauen kann, zum Beispiel.
Schön! So sieht man den Film vor seinem inneren Auge. Und fühlt auch mit.

War der Tod neidisch? Auf die, die im Leben allzu glücklich waren? Denen alles gelang, die viel Gutes taten?
Das dachte ich auch schon oft...

Du hast mich heute Abend eiskalt erwischt und bist mir zuvorgekommen. *g* Denn ich wollte eine ähnliche Geschichte schreiben, versuchte sie schon den ganzen Abend in meinem Kopf zu formulieren.
Dadurch animiert, dass ich heute nachmittag mit meiner Freundin bei meiner Bank war, um ihr Vollmachten für meine Konten zu überschreiben, die bisher noch auf meine Mutter liefen. Und wir saßen beim Bäcker nebenan an einer Kreuzung mitten in diesem Dorf und tranken etwas.
Und ich schaute auf diese Kreuzung, die ich nach inzwischen fast einem Jahr wieder sah, wo ich schon als Kind unterwegs war, und ich sah den "Geist" meiner Mutter dort gehen. Wie sie gemütlich auf dem Weg spazierte, mit allen Leuten locker und fröhlich plauderte, da sie jeder kannte und mochte. Und wie sie sogar noch mit dem Rollator dort ging, weil sie diese täglichen Spaziergänge und den Kontakt zu diesen Menschen brauchte. Und ich vermisste sie in diesem Moment so sehr.
Und als ich es aussprach, wünschte ich mir eine Küche, in die ich dringend kurz mal gehen müsste...

Ich danke Dir für diese wundervolle und ergreifende Geschichte. Sie passt heute perfekt für mich.

*knutsch*
Gabi
eyes002
******ace Mann
15.955 Beiträge
Gruppen-Mod 
Respekt
ein sehr eingängiger Text und für mich sehr nachvollziehbar, was und warum alles an Paul erinnert.
War ich Anfangs noch angehaucht von dem Gedanken: "So also endet das warten auf Godot", so sehe ich am Ende nur einen traurigen, schwermütigen Mann, der ohne seine Erinnerungen auch bereits "drüben" wäre. Und der Verlust des Bildes bringt ihn einen Schritt weiter.
Ich glaube, durch deine tolle Geschichte werde ich Menschen, die auf Bänken sitzen, zukünftig anders betrachten. Ganz erstaunlich, was dir da gelungen ist!
Viel beigetragen hat der Umstand, dass du keine wertenden Elemente mit eingeflochten hast, das war wichtig, um sich ganz der Schwermut zu widmen, die ihn umfängt. Der Nebel und das bröckeln des Laubes versinnbildlicht am Schluss die Lebenssituation.

Was mich selbst vorgeführt hat ist der Umstand, dass, wenn man ganz tief in einer Geschichte steckt, meint, "vorauslesen" zu müssen. In Gedanken hatte ich den letzten Satz bereits im Kopf zu Ende, war dann aber überrascht. Ich las nämlich:
Ein tanzender Luftwirbel trieb die Bruchstücke des zertretenen Lebens davon.
Whoa... manchmal liest man, was man lesen will, was?
Insgesamt ganz hervorragend, tragisch und berührend, wa du da geschrieben hast. Bravo.

Tom
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Sehr schön ... du hast eine Sprache, die einen mitnimmt. *bravo*

*anbet*

Herta
Ganz toll geschrieben
der Verlust von allem, zuletzt von dem Foto, und die Jahreszeit passt auch...
*****har Paar
41.021 Beiträge
JOY-Team Gruppen-Mod 
Mal wieder Lysira in Hochform, wie ich sie kenne und liebe und seit jeher verdammt gerne lese ...

(Der Antaghar)
****ra Frau
2.916 Beiträge
Themenersteller 
Oh Ihr Lieben - ganz vielen Dank *g*

ich freue mich, dass es mir doch, trotz aller eigenen Zweifel, gelungen ist, das hervorzuzaubern, wie Tom es so passend beschrieben hatte:
Was mich selbst vorgeführt hat ist der Umstand, dass, wenn man ganz tief in einer Geschichte steckt, meint, "vorauslesen" zu müssen.

Das Eintauchen des Lesers in die Geschichte, der trotz all meiner Beschreibungen, sein eigenes Bild, seine eigenen Gefühle mitlaufen lässt.

@***el: Schreib Deine Geschichte doch bitte auch, denn ich bin sicher, sie wird ihren ganz eigenen Fluß haben.

@Ev: ja, ich denke, das Wort kann man zusammenschreiben, naja, hab auch beim (xten) erneuten Lesen noch so ein paar kleinere Patzer entdeckt *tuete*

nochmal ein dickes *danke*

Lys
Einfach nur traurig schön, wie das Leben ist.

Ich habe sie mehrmals gelesen, damit ich auch jedes einzelne Wort tief erfasse.

Sehr ergreifend geschrieben.

Luna *herz2*
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