Nebelbilder
Das welke Blatt knisterte unter seiner Schuhsohle, zerfiel zu kleinen Fragmenten und wurde vom kalten Novemberwind wie kleine Tabakkrümel davon geweht. Schwerfällig setzte er seine Füße voreinander und schlurfte in Richtung Parkbank. Die Bank, auf der er mit Paul seit Jahrzehnten gesessen hatte. Sein Leid und seine Freude mit ihm teilte, hier unter der scheinbar uralten Kastanie. Ein kräftiger Ast beugte sich vorwitzig über die Bank und wirkte wie ein kleines Dach. Hier fanden sie stets Schatten im Sommer, wenn die Sonne brütende Hitze bereitete.
Im Herbst sahen sie zu, wenn die trockenen Kastanienblätter wie kleine Segler auf luftigen Wellen dahin trieben. Oft schlugen Paul und er die Kragen ihrer Mäntel nach oben, pusteten kondensierenden Atem in ihre klammen Hände, um sich ein wenig zu wärmen.
So lebendig wirkten diese Erinnerungen, Bilder die ihn wohl für die verbleibende Zeit seines Lebens begleiten würden. Ihm wurde warm ums Herz, als er Pauls Gesicht vor sich sah. Die von der Kälte gerötete Nasenspitze, tränenfeuchte Augen, wenn der Wind mal wieder allzu heftig blies. Im Sommer bekam er selbst stets einen Sonnenbrand, Paul hingegen tausende Sommersprossen auf der Nase, die ihm ein verschmitztes Aussehen schenkten. Nichts hätte die beiden davon abhalten können, sich auf ihrer Bank zu treffen.
Jetzt war er alleine. Seine schwachen Augen erfassten die Umrisse der Bank. Hier und da blätterte bereits Farbe ab und hinterließ einen fleckigen Teppich unter den geschwungenen Beinen der Bank, die in fein ausgearbeiteten Löwentatzen endeten. Leise seufzend drehte er sich um, lauschte seinen knackenden Knien während er sie beugte und nahm langsam Platz. Sein dicker Mantel knarzte leise in Schulterhöhe, als er seinen Kragen nach oben schlug.
‚Ach Paul, warum musstest du als erster gehen?’ dachte er wehmütig und senkte seine kalten Hände in den Schoß und betrachtete sie. Fleckig waren sie geworden. Welk die Haut, wie das Laub um ihn herum. Nur dass im nächsten Frühjahr wieder neues Grün an den erwachenden Bäumen wachsen würde. Er hingegen würde sich nie wieder verjüngen. Nie mehr blühen. Für ihn würde es immer Herbst bleiben. Auf ewig würde sein Verwelken andauern, bis der Winter, der eisige Schlaf ihn für immer zu sich holen würde. Langsam hob sich sein Blick von seinen Händen, über den Kiesweg hinüber zu dem kleinen Fluss, der scheinbar unverändert das Wasser durch sein Bett zu trieb. Grau und trostlos gurgelte das Wasser über die Steine, die das Ufer säumten.
Er dachte an das Blau des Himmels, das sich im Sommer auf der glitzernden Oberfläche des Flusses spiegelte. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht, erlosch jedoch schnell wieder durch den Gedanken, wie schnell sein eigener Sommer vergangen war.
Die oberen Knöpfe seines Mantels ließen sich mit klammen Fingern nur schwer öffnen, doch nach kurzer Zeit glitt seine Hand zur Innentasche und zog das Stück Papier ans Licht. Zerknittert und abgegriffen war das Foto von Paul und ihm. Paul war schon immer der Scherzbold gewesen, konnte so ansteckend lachen, dass niemand widerstehen konnte, der ihn lachen hörte und mindestens ein kleines Grinsen hervorbrachte.
Selbst jetzt noch wirkte dieser Zauber als er das Bild betrachtete. Anfang zwanzig waren sie damals gewesen. Paul, der ihm hinterrücks Hasenohren mittels zweier Finger am Hinterkopf verpasste, grinste ein werbe reifes Zahnpastalächeln.
Zitternd glitt sein Zeigefinger über das brüchige Papier, aber es blieb kalt, unbewegt. Wie Paul, der in diesem grinsenden Zustand gefangen war.
Das Leiden seines Sterbens lag damals noch in unendlicher Ferne. Wie gut, dass niemand weiß, auf welche Weise der Tod vorgesehen hatte, wie man das letzte Tor durchschreitet. Warum der Eine im seligen Schlummer hinüber glitt, Andere monatelang mit unerträglichen Schmerzen den Weg zurücklegen mussten. War der Tod neidisch? Auf die, die im Leben allzu glücklich waren? Denen alles gelang, die viel Gutes taten?
Er blickte nach oben, in den grauen Himmel als erwartete er von dort eine Antwort. Doch wie immer auf seine Frage nach dem Warum, hüllte sich alles in Schweigen. Niemand würde wohl eine Antwort hierauf geben können.
Kalter Wind kam auf, zerrte an seinen dünnen Haaren, blies sie über seine kahlen Stellen. Ihm war es egal, wen interessierte noch gutes Aussehen. Er fror, seine Finger wurden noch steifer, als sie sowieso schon waren. Feste umklammerten sie das Papier, an dem der Wind trotzig zog. Das Bild bewegte sich und für einen kurzen Moment wirkte es, als würde Paul ihm zuzwinkern. Er spürte sein Herz pochen, wie es heftig gegen seine Rippen klopfte, Hitze in ihm aufstieg und er sogar errötete. Dieses Aufblühen hielt nur wenige Augenblicke an. Ebenso schnell erlosch es wieder und um ihn herum schien es noch eine Schattierung dunkler zu werden.
Langsam streckte er seinen linken Arm aus, wartete bis der Stoff des Ärmels nach oben gerutscht war, beugte ihn und blickte auf seine Armbanduhr. So lange saß er schon wieder hier? Es war kurz vor fünf Uhr, kein Wunder, dass es bereits dunkelte. In diesem Einheitsgrau war es schon schwer genug, überhaupt eine Tageszeit zu erkennen. Als er seinen Arm zurückzog, glitt der Stoff nicht zurück in seine Ausgangsposition. Daher pickte er mit der Hand, die das Foto hielt, nach dem Bund des Ärmels, um ihn umständlich nach unten zu ziehen. Ein erneuter, kräftiger Windstoß riss ihm diesmal erfolgreich das Foto aus den Fingern. Verdutzt über diesen plötzlichen Verlust blickte er dem davon trudelnden Stück Papier hinterher.
‚Paul’ flackerte ein verzweifelter Ruf in seinen Gedanken auf.
Er konnte nur noch zusehen, wie auch dieser Teil seines Lebens verschwand. Eine dicke Nebelwand verschluckte die zerknitterte Erinnerung. Mit vorgebeugtem Oberkörper erhob er sich, richtete seinen Mantel und lief auf den Nebel zu. Ein weiteres welkes Blatt zerbröselte unter seiner Schuhsohle, ein erneuter, müder Schritt brachte ihn näher an die feuchte Wand. Gierig schien der Nebel ihn zu verschlucken, seinen müden Körper zu umfangen. Er war verschwunden, hinterließ keine weiteren Spuren auf seinem Weg. Ein tanzender Luftwirbel trieb die Bruchstücke des zertretenen Laubes davon.
© Lys 07/13