Der letzte Schritt
Alfons sitzt in seinem abgedunkelten Wohnzimmer. Er hat die Jalousien fast immer geschlossen, denn es bereitet ihm keine Freude mehr in die Welt hinaus zu sehen – In die Welt, die sich seit seiner Geburt so stark verändert hat, in der er sich nicht mehr zurecht findet und die ihm nicht mehr gefällt. Hier, in seinem kleinen Reich, fühlt er sich halbwegs geborgen. Fast alle Möbel hatte er über die Jahrzehnte retten können. Kein neumodischer Firlefanz ist hier zu sehen. Allein die kleine silberne Kugel auf seinem Tisch zeigt ihm, dass sich sehr viel verändert hat. Sie ersetzt sein altes TV Gerät, welches er vor Jahren entsorgt hat, weil es die alten Sendemethoden nicht mehr gibt. Dafür gibt es jetzt diese hässliche Kugel, die ihm die neue Welt, wie von Geisterhand, in dreidimensionalen Bildern auf den Tisch zaubert. Was er dort allerdings sieht, gefällt ihm absolut nicht. Die Menschen haben es mit ihrem grenzenlosen Egoismus geschafft, Pflanzen und Tiere auszurotten. Das Grün, was jetzt zu sehen ist, ist Farbe, auf den Betonboden aufgemalt. Kein Vogel bereicht die Welt mit seinem Gesang, und die dicke Smogwolke, die sich über den Globus gezogen hat, lässt keinen Sonnenstrahl mehr hindurch. Die Menschen können draußen nur noch mit Maske atmen, da die Luft so hoch verunreinigt ist, dass schon ein Atemzug reicht, um seinem Leben ein Ende zu setzen. Nein, das ist nicht mehr seine Welt.
Leises Stimmengewirr dringt an seine Ohren. Was ist draußen los? Aufstände gibt es schon lange nicht mehr. Die neue Regierung hat die Bevölkerung im Griff, und die Milizen sorgen unnachgiebig für Ordnung. Alle halten sich an die neuen Regeln, und niemand wagte es sich aufzulehnen. Kein Wunder, bei den hohen unmenschlichen Strafen, die drohen, wenn man nicht nach deren Pfeife tanzt.
Manchmal wünscht sich Alfons, dass die Medizin nicht so weit ist, die Lebenslänge der Menschen drastisch zu erhöhen. Er selbst zählt nun schon 163 Jahre und es ist kein Ende abzusehen. Seit seine Elli nicht mehr bei ihm ist, wünscht er sich den Tod. Er will nicht mehr!
Langsam erhebt sich Alfons und öffnet die Jalousie. Helles Licht strahlt ihm entgegen. Geblendet schließt er kurz die alten Augen. „Eine Atombombe?“, schießt es ihm durch den Kopf. „Soll es nun endlich beendet werden?“
Als er die Augen wieder öffnet, sieht er, dass die Manschen mit ihren Atemmasken vor die Häuser getreten sind und in den Himmel starren. Alfons tut es ihnen gleich. Ungläubig erkennt er einen großen Riss in der dicken Smogglocke, und hindurch strahlt der helle Glanz der Sonne. Tränen laufen ihm über sein faltiges Gesicht. Den Feuerball hat er schon mehr als 40 Jahre nicht sehen können.
Jetzt weiß er, dass die Zeit gekommen ist. Er geht zur Haustür, öffnet sie
und tritt hinaus. Tief atmet er die verdreckte Luft ein, richtet seinen glücklichen Blick zum Himmel und weiß, dass es sich allein für diesen Moment gelohnt hat, so lange zu leben.
Seine letzten Worte sind: „Elli, ich komme!“
Luna 6/2013