Unbedachte Worte
Obwohl Steffi glücklich war wieder bei ihren Lieben sein zu können, entging ihr doch nicht, dass sich ihre Kinder während ihrer Abwesenheit sehr verändert hatten. Marie (10) und Eric (8) waren jetzt, im Vergleich zu der Zeit vor ihrer MS Diagnose, sehr ruhig und verschlossen. Auch das herzhafte Lachen, welches sie von ihnen kannte, war nicht mehr zu hören. Irgendwie war es sehr still geworden, denn die Kinder schlichen eher durchs Haus, anstatt sich wie Kinder in ihrem Alter zu benehmen.Nach einigen Tagen nahm sie die beiden zur Seite und versuchte zu ergründen, was mit ihnen los war. Sie ging mit ihnen ins Wohnzimmer, setzte sich auf das gemütliche Sofa und klopfte mit den Handflächen rechts und links neben sich darauf. Als die Kinder sich gesetzt hatten, begann sie: „Was ist eigentlich los mit euch? Ihr seid so still geworden und lacht gar nicht mehr.“ Keine Antwort. „Ist es, weil ich so lange weg war? Erst im Krankenhaus und dann noch die Reha?“ Wieder nichts. „Jetzt bin ich doch wieder da und alles ist gut.“ Schweigen. Steffi legte die Arme um ihre Kinder, zog sie nah an sich heran und drückte sie. „Also, was ist los? Ihr könnt über alles mit mir reden. Das wisst ihr doch.“ Wieder Schweigen.
Dann platzte es plötzlich aus Marie heraus, und dicke Kullertränchen liefen über ihre gerötete Wangen: „Wir wissen, dass du bald sterben musst, Mama!“ Steffi stockte der Atem. Hatte sie jetzt richtig gehört? „Aber Kind, wie kommst du denn darauf? Ich muss nicht sterben, zumindest jetzt noch nicht. Erst wenn ich alt bin. Dann sterbe ich, wie jeder andere Mensch auch.“
Marie war in Schluchzen ausgebrochen, zu keinem Satz fähig und drückte ihre Mutter ganz fest an sich. Als sie sich etwas beruhigt hatte und wieder in der Lage war zu sprechen, sagte Marie: „Das hat Papa gesagt!“ „Da hast du sicher etwas falsch verstanden, Marie!“ „Nein Mama. Als du im Krankenhaus warst, hat Papa mit dir telefoniert. Danach saß er auf dem Sofa und hat geweint. Als ich ihn fragte was los ist, sagte er, dass du ganz schlimm krank bist und bald sterben musst!“ „Ich habe so dolle Angst, Mama!“, kam von Eric mit Tränen erstickter Stimme. Steffi fehlten die Worte. Wie sollte sie darauf reagieren? Was hatte sich Ben nur dabei gedacht? Erst jetzt erkannte sie, dass auch ihr Mann mit der Diagnose MS in ein tiefes Loch gestürzt war.
„So, kommt mal her ihr beiden.“ Sie zog die Kinder nah zu sich heran. „Da hat der Papa nicht richtig nachgedacht, als er so was gesagt hat und er wusste es auch nicht besser, weil er Angst um mich hatte. MS ist eine ganz doofe Krankheit, die noch keiner so genau kennt. Der Papa also auch nicht. Ich werde ganz bestimmt nicht an der Krankheit sterben. Das verspreche ich euch. Es kann aber sein, dass ich irgendwann nicht mehr gut laufen kann und so einen schicken Rollstuhl bekomme, wie ihn Peter hat. Den kennt ihr doch. Der hat es gut und braucht nicht mehr zu laufen.“ Die Kinder grinsten, denn sie hatten Peter immer beneidet, weil er gefahren wurde.
„Was noch passieren kann ist, dass ich nicht mehr so gut sehen kann oder vielleicht gar nichts mehr sehe.“ „Auch nicht die Sesamstrasse, Mama?“, fragte Eric ganz interessiert. „Nein mein Schatz, die auch nicht. Aber ich kann sie ja noch hören. Das ist dann so, als wenn du dir die Märchenschallplatte anmachst. Die Geschichten kannst du ja auch nicht sehen.“ „Aber warum kannst du denn blind werden?“, will Marie wissen. „Nun, bei meiner Krankheit kommt es zu Entzündungen. Du weißt doch noch, wie du die Mandelentzündung hattest und nur noch krächzen konntest.“ „Das war klasse, Mama. Ich habe mich krankgelacht, wenn Marie versucht hat zu sprechen!“, warf Eric ein und grinste ganz breit. „Genauso ist es, wenn sich der Augennerv entzündet. Dann kann man auch ganz schlecht sehen!“, antwortete Steffi.
„Möchtet ihr sonst noch etwas wissen? Ihr braucht wirklich keine Angst zu haben, dass ich sterben muss. Ist jetzt alles wieder gut?“ Beide überlegten, waren sich dann aber einig, dass sie genug gehört hatten. Sie drückte die Kinder wieder an sich und sagte: „Ich hab euch lieb!“ „Wir dich auch, Mama. Ganz, ganz dolle!“
Luna 06/2013