In Frank
Als sie wieder wach wurde, wusste sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Alles war dunkel. Sie wurde hin und her geschaukelt wie auf einem Schiff mit schwerem Seegang. Dazu passte ein pfeifender Wind, doch nur das Geräusch eines pfeifenden Windes, denn sie konnte ihn nicht spüren. Den Wind nicht, ihre eigene Hand nicht, ihren Körper nicht, ihr Gesicht nicht, nichts.„Hallo! Frank!“, rief sie.
Nichts. Ihre Stimme hallte in ihrem Inneren laut und deutlich, doch sie hörte – nichts. Keinen Ton. Keinen Laut. Nichts.
„Frank! Frank! Hörst du mich!“
Sie schrie, sie schrie so laut sie konnte, sie spürte das Anschwellen ihres Halses, das Blut das in ihren Kopf stieg, in ihrem Inneren hallte es, doch nach außen drang – nichts.
Jetzt war sie hellwach.
„Frank! Hörst du mich! Frank! Frank!“
Da wurde sie herumgeschleudert. Oben war unten, war überall, sie fiel und schrie, und fiel, und es dröhnte und grollte, haltlos, sie konnte nichts greifen, nichts, bis sie auf etwas Weichem landete, etwas Weichem und wieder hin und her geschaukelt wurde, hin und her, wie auf einem Schiff, wie auf einer Schaukel, hin und her.
Ich träume, dachte sie. Ganz bestimmt, träume ich. Ich will jetzt aufwachen, auf der Stelle aufwachen und in Franks Arme kriechen. Franks Arme sollen sich um mich legen, so wie ich meine Beine um ihn schlingen will, ganz nah will ich an ihn heranrobben, seine Haut auf meine Haut legen, reiben, ganz nah. Und er wird die Spinnweben wegmachen. Er wird leise lächeln, dieses leise, ironische Lächeln. Er wird sagen, was ist denn, was hast du denn, was ist denn los? Böse, böse schlimme Geister, schlimme, böse Geister, werde ich sagen. Ich werde verfolgt von bösen schlimmen Geistern. Komm her, komm her, hab keine Angst. Er.
Mit aller Kraft strengte sie sich an. Aufwachen!
Doch sie hörte nur das Geräusch, hin und her schaukelte sie das Geräusch, kein Wind und keine Maschine, ein Blasebalg, eine Luftpumpe, etwas Vertrautes, Tröstliches, hin und her schaukelte sie das Geräusch, hin und her.
„Frank! Frank!“, schrie sie und jetzt legte sich ein Grauen über sie, das echte Grauen. Das mit Sekundenkleber festgepappte Grauen, das unvermeidliche, nicht mehr abwendbare, das nichts mehr wie es vorher war Grauen. Das Grauen, von dem sie nur wusste, es ist unaussprechlich, es ist riesig, es ist ungewiss und sie war damit allein, ganz allein.
„Frank! Frank! Frank!“, ihre Stimme, ihr Hall trommelte, boxte, kämpfte um einen Ton, doch wurde verschluckt, vermüllt, sie musste, sie wollte, sie wurde, sie, Frank.
Wieder wurde sie herumgeschleudert. Unten, oben, sie fiel, sie schrie, sie konnte sich nirgends festhalten, wie in einem Strudel aus Wasser und Luft herumgewirbelt, doch sie landete wieder sanft, sanft und weich und hin und her, schaukelte sie wieder, hin und her.
Das ist Frank, dachte sie. Das ist Frank. Ihre Sinne mussten ihr einen Streich spielen, sie musste träumen, sie musste einfach. Doch ihr Herz pumpte, pumpte schnell und schneller. Sie versuchte irgendetwas zu sehen, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, irgendeine Kleinigkeit in all dem Dunkel.
Kleine, weiße Striche.
Zuerst glaubte sie es wäre nur Einbildung. Kleine, weiße, ganz, ganz feine Striche auf schwarzem Grund. Sie konzentrierte sich voll auf diese Striche, sie flackerten, durch das hin und her schaukeln, sie flackerten und schienen sich zu bewegen, kleine weiße Lichter auf schwarzem Grund. Doch langsam, ganz langsam wurde es heller. Sie sah kürzere und längere Striche, nach oben und nach unten gekräuselte Striche, kleine weiße Fussel, eine abgesteppte Naht, einen V-Ausschnitt. Franks T-Shirt! dachte sie. Das ist Franks T-Shirt!
Sie musste doch ein wenig eingeschlafen sein. Eine riesige Erschütterung weckte sie, dann ein Herumwirbeln, einen kurzen Moment bekam sie keine Luft mehr, doch dann fand sie Halt, eine kleine Nische, eine kleine Höhle, ein kleines Nichts.
„Frank!“, schrie sie wieder. „Frank, hörst du mich?“, doch ihre Stimme ging unter in einem Rauschen, in einem salvenartigen Tropfen und Trommeln, sie hatte das Gefühl ihre Ohren platzen. Dann war Stille. Da ging das Schaukeln wieder los, kreisende schaukelnde Bewegungen, hin und her, sie wurde aus ihrer Nische geschleudert, fiel wieder, fiel und landete auf etwas weichem, glitschigen und das Geräusch ging wieder los, laut und prasselnd und betäubend. Und – wieder Ruhe, Ruhe und schaukeln vor und zurück, hin und her.
Dann hörte sie Frank. Frank sang. Er sang laut und gut.
Frechheit, dachte sie, Frank sagte doch immer, er singt nicht, er singt nie, warum singt er jetzt, während sie sich gleichzeitig eine blöde Kuh schimpfte. Das war nun wirklich nicht ihr größtes Problem. Was passierte hier, was konnte sie tun, warum.
Sie sah ein Licht und robbte auf die Lichtquelle zu. Dann begann das Ruckeln. Ruckeln und Wackeln wie mit einer Bohrmaschine, der Boden auf dem sie robbte vibrierte, das Geräusch ein gleichmäßiges Hämmern. Es gelang ihr weiter vor zu rutschen, ihr Kopf, ihr Kinn schlug immer wieder auf den Boden auf, sie biss die Zähne zusammen und sah hinaus. Genau in dem Moment spuckte Frank in ein weißes Waschbecken.
Ein Knall wie ein Peitschenschlag. Sie sah sein Gesicht, er öffnete den Wasserhahn, er spritzte Wasser in sein Gesicht, er schnappte sich ein Handtuch. Es wurde wieder dunkel, dunkel, schwarz, weg, ausgelöscht.
„Frank!“, schrie sie. „Frank!“
Es wurde wieder hell. Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare, sie sah wie er sein T-Shirt in die Hand nahm, das schwarze mit den weißen Fusseln, und dann sah sie nichts, wieder nichts, dunkel, schwarz und wieder hell und ihn und sein Gesicht und noch ein prüfender Blick, und sie wurde wieder herumgeschleudert.
Ein Glück, dachte sie, ein Glück, dass Sonntag ist. Heute ist doch Sonntag. Sonntag joggt er nicht, das würde sie nicht aushalten, wenn er jetzt seine Turnschuhe anziehen und losrennen würde. Das würde sie nicht aushalten.
Er bewegte sich nur spärlich, in allem lag eine Ruhe, Bestimmung, mit prüfendem Blick, mit bestimmten aber langsamen Bewegungen, stellte er seine Kamera auf, schraubte sein Objektiv an, trat zurück, prüfte die Einstellungen, schoss ein paar Bilder, schaute wieder durch die Kamera, justierte nach, schoss erneut, prüfte. Danach stellte er den Selbstauslöser ein und stellte sich ins Bild
.
Jetzt, dachte sie. Jetzt ist deine einzige Chance, vermassel sie nicht. Jetzt. Jetzt. Jetzt. Dieses Mal schrie sie nicht. Dieses Mal nutzte sie alles, alle Kraft in ihr, jede einzelne Pore, alles verschmolz mit ihm, und wie ein Mantra, Frankfrankfrankfrankfrank, und wie ein Ruf nach Freiheit, Frankfrankfrank und nochmal Frankfrankfrank.
Der Auslöser. Ein kleines, ein ganz kleines Geräusch. Nur ein Plopp.
„Caro? Caroline? Bist du hier?“
Ja, alles in ihr schrie, ja, ja, ich bin hier und ihr Herz klopfte bis in den Hals, hier bin ich, hier, egal wo das hier war, er hatte sie gehört, er hörte sie, er würde sie finden, er würde hier herausfinden, er würde einen Weg finden. Er.