Bücher des Schicksals (Zweiter Versuch)
Vielleicht beantwortet euch das einige Fragen, die beim ersten Versuch auftauchten Mit leisen Schritten bewegt er sich durch den riesigen Raum, der keinen Anfang und auch kein Ende zu haben scheint. In der Luft liegt der schwere Duft von altem Leder und verstaubtem Papier. Sein Blick geht an den großen Regalreihen entlang, zwischen denen er sich bewegt. In ihnen werden die Bücher aufbewahrt, um die er sich zu kümmern hat.
Wie lange er schon hier ist, weiß er nicht – auch nicht, wie er hierher kam. Auch wer ihm seinen Namen gegeben hat ist ihm unbekannt. Er weiß nur, dass er sich schon sehr, sehr lange in diesem großen Raum befindet und dass er Kadri heißt. Kadri bedeutet Schicksal, das hat er herausbekommen, als er in den Büchern gelesen hat, aber mehr konnte er auch nicht erfahren. Er verspürt nie Hunger oder Müdigkeit und er ist damit zufrieden, dass er seine Bücher hat. Mehr braucht er nicht. Kadri weiß auch nicht was er ist. Er sieht zwar aus wie die Menschen dort unten auf dem Planeten, den sie Erde nennen, aber er ist nicht wie sie, denn er wird nicht älter.
Vor vielen tausend Jahren befand er sich einfach in diesem riesigen Raum mit den noch niedrigen Regalen. Er kann sich noch sehr gut an die ersten beiden Bücher erinnern, die plötzlich auf dem Massivholzschreibtisch lagen. Auf der einen Ausgabe stand in goldener Schrift Adam und auf der anderen Eva geschrieben. Nach und nach kamen immer mehr Bücher dazu. Kadri wusste genau, wie er sie in die Regale zu stellen hatte. Er begann auf dem untersten Regelboden auf der linken Seite. War nach einiger Zeit ein Buch umzuräumen, sortierte er es im oberen Regelboden ein, auch von links beginnend. Damals reichte es, wenn er sich dabei etwas streckte. Heute braucht er eine sehr lange Leiter, um die oberen Regale zu erreichen, denn es wurden immer mehr Exemplare und die Regale wuchsen unaufhörlich in die Höhe.
Kadri hat seinen rechten Arm etwas ausgestreckt und streicht mit den Fingern der Hand leicht, ja fast liebevoll, über die Bücher. Jedes von ihnen ist in schwarzes Leder gebunden und auf dem Buchrücken sind in goldene Lettern gedruckt die Namen zu lesen.
An manchen Tagen nimmt er sich die Zeit und liest in den Büchern. Es gibt lange, spannende Geschichten, aber auch welche, in denen nur einige Seiten beschrieben sind. Zu Beginn gab es auf der ersten und auf der letzten Seite noch keine Zahlen. Das begann erst, als ein Mensch Namens Jesus geboren wurde. Was so Besonderes an ihm war, konnte er in Jesus Buch nachlesen, aber Kadri verstand es nicht. Er sollte der Sohn von Gott sein, aber ein Buch mit diesem Namen konnte er, so sehr er auch suchte, nicht finden.
Manchmal stehen einige der Bücher etwa 3 Zentimeter vor. Das ist das Zeichen für ihn sie gänzlich heraus zu ziehen und neu einzusortieren. Einige Meter vor ihm bewegt sich ein Buch wie von Geisterhand. Erleichtert stellt Kadri fest, dass es sich um ein sehr dickes Exemplar handelt. Er zieht es aus dem Regal heraus, sieht auf die letzte Seite und erkennt, dass es sich um das heutige Datum handelt. Wie sollte es auch anders sein? Noch nie hat sich ein falsches Buch bewegt. Kadri blättert auf die erste Seite, rechnet kurz nach und stellt fest, dass das Leben dieses Menschen 93 Jahre gedauert hat. „Dies ist ein gutes Buch!“, denkt er.
Die ganz Dünnen bereiten ihm Probleme, machen ihn traurig. Von Zeit zu Zeit landen Bücher auf seinem Schreibtisch, die nur wenige Seiten haben, manchmal sogar nur eine oder eine halbe. Hier hat das Schicksal bestimmt, dass diese Menschen nur sehr kurz auf der Erde verweilen dürfen. Die Gründe kennt Kadri nicht, aber er würde schon gerne wissen, warum manche Menschen ein erfülltes Leben haben dürfen und andere noch nicht einmal die Chance habe ihr Leben überhaupt zu beginnen.
Täglich findet er hunderte von neuen Büchern auf seinem Schreibtisch. Alle sind bis zur letzten Seite beschrieben. Der Tag an dem sie bei ihm ankommen ist der Moment der Geburt. Alle folgenden Seiten beschreiben, wie das einzelne Leben verlaufen wird. Manchmal kommt es allerdings vor, dass ein Menschenkind das Schicksal austricksen will. Das konnte Kadri schon mehrfach nachlesen. Erst gestern hatte er so einen Fall. Es mussten drei Bücher mit dem gleichen Nachnamen in die oberen Regale einsortiert werden – zwei Dicke und ein sehr Dünnes. Neugierig hat er die letzten Seiten gelesen. Die Drei hatten einen Urlaub in Ägypten geplant. Das Schicksal hatte vorgesehen, dass alle Drei bei Anschlägen ums Leben kommen. Kurz vor der Abreise haben sie sich jedoch entschieden, wegen der bestehenden Unruhen in diesem Land, umzubuchen. Die neue Reise startete erst zwei Tage nach dem eigentlich geplanten Urlaubsstart. Auf dem Weg zum Flughafen starben alle Drei in ihrem Auto und das genau zu dem Zeitpunkt, als sie ursprünglich in Kairo sterben sollten. Seinem Schicksal kann man nicht entkommen.
In anderen Büchern hat Kadri von der Apocalypse gelesen, dem Ende der Menschheit. Gebannt hat er auf diese Termine gewartet, aber nichts passierte. Was wäre dann auch aus ihm geworden? Gibt es keine neuen Bücher mehr, dann wäre vermutlich auch seine Existenz nicht mehr notwendig. Was hält das Schicksal dann für ihn bereit?
Luna 3/2013