Bücher des Schicksals
Mit leisen Schritten bewegt er sich durch den riesigen Raum, der keinen Anfang und auch kein Ende zu haben scheint. In der Luft liegt der schwere Duft von altem Leder und verstaubtem Papier. Sein Blick geht an den großen Regalreihen entlang, zwischen denen er sich bewegt. In ihnen werden die Bücher aufbewahrt, um die er sich zu kümmern hat.Wie lange er schon hier ist, weiß er nicht – auch nicht, wie er hierher kam. Auch wer ihm seinen Namen gegeben hat ist ihm unbekannt. Er weiß nur, dass er sich schon sehr, sehr lange in diesem großen Raum befindet und dass er Kadri heißt. Kadri bedeutet Schicksal, das hat er herausbekommen, als er in den Büchern gelesen hat, aber mehr konnte er auch nicht erfahren. Er verspürt nie Hunger oder Müdigkeit und er ist damit zufrieden, dass er seine Bücher hat. Mehr braucht er nicht.
Kadri hat seinen rechten Arm etwas ausgestreckt und streicht mit den Fingern der Hand leicht, ja fast liebevoll, über die Bücher. Jedes von ihnen ist in schwarzes Leder gebunden und auf dem Buchrücken sind in goldene Lettern Namen zu lesen.
Manchmal stehen einige der Bücher etwa 3 Zentimeter vor. Das ist das Zeichen für ihn sie gänzlich heraus zu ziehen und neu einzusortieren. Einige Meter vor ihm bewegt sich ein Buch wie von Geisterhand. Erleichtert stellt Kadri fest, dass es sich um ein sehr dickes Exemplar handelt. Er zieht es aus dem Regal heraus, sieht auf die letzte Seite und erkannt, dass es sich um das heutige Datum handelt. Wie sollte es auch anders sein? Noch nie hat sich ein falsches Buch bewegt. Kadri blättert auf die erste Seite, rechnet kurz nach und stellt fest, dass das Leben 93 Jahre gedauert hat. „Dies sind die guten Bücher!“, denkt er. Die ganz Dünnen bereiten ihm Probleme, machen ihn traurig.
Täglich findet er hunderte von neuen Büchern auf seinem Schreibtisch. Alle sind bis zur letzten Seite beschrieben. Der Tag an dem sie bei ihm ankommen ist der Moment der Geburt. Alle folgenden Seiten beschreiben, wie das einzelne Leben verlaufen wird. Manchmal kommt es allerdings vor, dass ein Menschenkind das Schicksal austricksen will. Das konnte Kadri schon mehrmals nachlesen.
Aber dem Schicksal kann man nicht entkommen.
Luna 3/2013