Edith und ich und das Geschrei
Neben all den stillen Dingen um uns, wurde es eines Tages auch lauter. Richtig laut. Eine Schreipatientin wurde aufgenommen. Eine alte Dame, die nicht am Leben teilhaben konnte, die eingesperrt war in ihrem Körper und in ihrem Kopf.Fixiert an einem Rollstuhl saß sie tagsüber mit stupidem Blick im Gemeinschaftsraum, vor sich einige Spielsachen für Kleinkinder auf dem Tisch. In unregelmäßigen Abständen zuckte es durch ihren fixierten Körper, sie bäumte sich auf und stieß anschwellende unendlich lange Schreie aus.
Abends lag sie in einem Zimmer zwei Türen weiter. Sie hatte ein Doppelzimmer für sich allein, was ihr aber wahrscheinlich ziemlich egal war und auch den anderen nicht wirklich half.
Sie schrie und schrie und schrie.
Laut schnaufend legte Edith ihr Strickzeug in den Schoß und blickte zu mir rüber. "Das ist unerträglich! Warum geben sie ihr nicht einfach mehr Schlafmittel?"
"Man kann die Frau doch nicht einfach immer nur sedieren bis zum Anschlag.." Ich grinste. "Sie ist hier, damit man einen Mittelweg findet. Einen Weg, dass sie wenigstens zeitweilig auch im Wachzustand erträglich ist."
"Wir haben hier alle Probleme! Ich zum Beispiel brauche dringend meine Ruhe, das Geschrei regt mich sehr auf und das ist nicht gut für mich...", schimpfte Edith. "Roman hat schon recht, wenn er sagt, dass sie wahrscheinlich vom Teufel besessen ist. Das Geschrei ist doch unchristlich..."
"Herrgott Edith! Du solltest nicht alles so ernst nehmen, was Roman sagt. Der Typ ist schizo...". Ich blickte kurz von meinem Buch auf und überlegte, was "unchristlich" wohl für mich bedeutet.
Roman war ein deutschstämmiger Russe mittleren Alters. Seit einem Burnout hörte er Stimmen. Da er auch ziemlich gläubig war, schloss er nicht aus, dass Gott zu ihm sprach. Er und Edith hatten hatten öfter gemeinsam in der Bibel gelesen und Edith wirkte danach immer sehr froh.
"Roman sagt, dass heute sogar Heilige als geisteskrank gelten würden", empörte sich Edith.
"Und das wohl zu Recht..." murmelte ich vor mich hin und blätterte eine Seite weiter.
Fast schon zornig kam es aus Ediths Kissenburg: "Nur weil du nicht an Gott glaubst, darfst du nicht alles schlecht machen, was er sagt. Er kann ganze Bibel-Seiten zitieren. Er ist ein guter Christ!"
Ich legte mein Buch beiseite und holte Luft. "Hör mal! Sag deinem guten Christen, dass ihm etwas mehr Nächstenliebe oder Mitleid stehen würde. Sie ist nicht besessen! Diese Frau wird nie wieder einen Satz reden können, sie wird nie wieder auch nur im Ansatz normal sein! Statt lästern, sollte er dankbar sein und ihre Hand halten - und du auch..."
Wieder hallte ein langer Schrei durch den Flur. Laut und schrill.
"Also ich geh mich jetzt beschweren!!!" Ich habe Edith selten so beschwingt, ja fast fröhlich, ihren Körper aus dem Bett hieven sehen. Sie griff Ihren Morgenmantel, richtete ihre Löckchen und stampfte energisch Richtung Tür.
Nachtrag: Roman wurde es später verboten, private Bibelstunden zu halten.