Annas Suche
Annas Füße schmerzen und der Tag hat noch gar nicht richtig begonnen. In der dicht gedrängten S-Bahn morgens in Berlin zu stehen gehört nicht zu ihrer Lieblingsbeschäftigung. Schon gar nicht, wenn ein nicht gerade dezenter Knoblauchgeruch sich unerlaubterweise in ihrer Nase breit macht. Und der dicke Mann hinter ihr bei jeder Unebenheit der Gleise und jeder ruckelnden Bewegung mit seinem Schritt an ihrem Hintern reibt. Daher trägt sie meist einen knielangen zugeschnürten Sommermantel. Über den Großraum Berlin hat sich noch nicht die Kuppel aus undurchdringlichem Glas gelegt, die nur zu gut jegliche Hitze und Schwüle in der Stadt zurückhält. Aber Anna schwitzt jetzt schon. Und die feinen Härchen, die sich aus ihrem Zopf im Nacken gelöst haben, kitzeln auf ihrer feuchten Haut. Endlich an ihrer Station angekommen, eilt sie die Treppe herunter und auf das 5 Sterne Hotel zu, in dem sie zur Zeit als Zimmermädchen arbeitet. Ihre Tragetasche mit dem langen Umhängegurt schlägt mit jedem Schritt gegen ihre Kniekehlen, aber da er nichts schweres oder hartes enthält, macht es ihr nichts aus. Sie zückt ihre Zugangskarte und huscht durch den Personaleingang. Vor der Wäschekammer stehen die rollbaren Wagen mit schmutziger Bettwäsche. Verstohlen blickte sie sich um und zerrt aus ihrer Umhängetasche ein großes, weißes Bettlaken hervor, welches sie in den Wäschewagen mit Schmutzwäsche wirft.
Erleichtert, legt sie ihre Sachen ab, greift sich einen Rollwagen und beginnt mit der Arbeit. Es gibt viel zu tun heute und sie arbeitet bis zur Mittagspause durch. Sie will vor der drückenden Mittagshitze so viel wie möglich geschafft haben, auch wenn es in dem Hotel nicht so heiß wird, wie in ihrer Dachgeschosswohnung, in der sie allein haust.
Immer wieder betritt sie eines der Hotelzimmer. Schnuppert ein wenig die Luft ein, begutachtet rasch den Grad der Unordnung. Jedesmal, ein Gefühl der Enttäuschung. Innere Leere.
"Diesmal nicht", murmelt sie vor sich hin. "Es muss aber heute eins kommen. Es muss einfach."
Immer mehr pocht ihr Herz beim Moment des Eintretens. Sie klopft an die Tür, wartet ein paar Augenblicke. Tür aufsperren, Badezimmer putzen, Staub wischen, staubsaugen, Vorräte an Seife, Schampoo usw. auffüllen, saubere Handtücher bereitlegen, Bett frisch beziehen. Und das immer wieder.
"Auch diesmal nichts. Bitte, bitte, bitte. Lass mich heute eins finden."
Der Entremetier Olaf hat ihr wie immer ein paar Leckerbissen bereitgestellt. Nur schade, dass er jedesmal, wenn sie versucht ein Gespräch anzufangen, rot wird und nur unzusammenhängendes stammelt. Wie üblich speist sie in einem der Hotelzimmer. Das ist zwar nicht erlaubt, aber sie ist sehr geschickt darin, keinen Verdacht auf sich zu lenken. Und der Blick aus dem Fenster entschädigt sie für die Plackerei des Tages. Sie hat sich nur schwer zu der Pause durchringen können, denn sie hat noch nicht das gefunden, was sie sucht. Aber der Hunger war bereits zu groß gewesen, um weiterzumachen. Auch wenn der andere Hunger sie auch plagt. Nervös und unruhig macht.
Das letzte Zimmer. Wieder klopft sie an, sperrt die Tür auf und betritt das geräumige Doppelzimmer. Da schlägt ihr ein recht penetranter Geruch nach pheromongetränkten menschlichen Ausdünstungen entgegen. Sie versucht, ruhig zu bleiben, und erinnert sich an ihre Routine: Badezimmer putzen, Staub wischen, ... Und dann, als letztes, der Griff nach der Bettdecke. Mit einem kräftigen Ruck, zerrt sie die Decke an das Fußende und legt das zerwühlte Laken frei, das sich an den Seiten bereits aus der Befestigung gelöst hat und zerknittert und mit noch sichtbaren feuchten Spuren da liegt. Ein schlichtes Überbleibsel Exzesse nächtlicher Lust. Ihr Herz schlägt schneller. Sie versucht ruhig zu bleiben, und einfach nur ihre Arbeit zu machen. Hastig löst sie das Laken und verstaut es in einer bereitgelegten Plastiktüte, die sie sehr fest zuknotet. Sie fühlt sich wie eine Diebin.
"Ich bringe es doch wieder zurück", versucht sie sich zu beruhigen.
Die restlichen Arbeitsschritte verrichtet sie rein mechanisch. Es ist nicht mehr viel zu tun und auf der Rückfahrt nach Hause in der S-Bahn freut sie sich auf ihr Zuhause.
Endlich daheim angelangt schließt sie alle Fenster in ihrer kleinen Dachgeschosswohnung. Es ist immer noch sehr warm. Sie löst ihr Haargummi und pellt sich aus der eng anliegenden Arbeitskleidung. Nur in Unterwäsche bekleidet löst sie den Knoten der Plastiktüte, nimmt das weiße, zerknitterte Bettlaken heraus und legt es auf ihr Bett. Sie zieht daran herum und und streicht es glatt, bis es zwar noch leicht zerknittert aber ansonsten tadellos auf ihrem Bett liegt. Mit einem Seufzer lässt sie sich auf das glatte Laken sinken, streckt sich auf dem Bauch aus und vergräbt ihre Nase in dem festen Leinenstoff. Ein immer noch sehr roher an sexuelle Lust erinnernder Geruch steigt ihr in die Nase. Sie spürt Hände auf ihrem Körper und hört ungezügelte Schreie während sie in eine weit entfernte Welt eintaucht. Eine Welt, in der es keine winzigen Einzimmerwohnungen in Dachgeschossen gibt, die sich im Sommer aufheizen. Keine monotone Arbeit und keine langweiligen S-Bahn Fahrten mit grauen Gesichtern.
Sehr lange liegt sie so auf dem Bett, bis der Geruch nur noch ganz entfernt wahrnehmbar ihre Sinne kitzelt und der Mond durch das kleine Dachgeschossfenster scheint.