Das Dorf der Edlen
Die letzten 100 Jahre war das Dorf kaum gewachsen. Alles war so, wie es schon immer war. Jeder kannte sich von Kindheit an. Man heiratete das Nachbarskind, das zumeist auch eine Cousine ersten oder zweiten Grades war.Die Bewohner wurden sich über die Zeit immer ähnlicher in Aussehen und Meinung. Die Meinung wurde in Schule und Kirche geformt und über die Generationen weitergegeben. So war das schon immer, so blieb es.
Aber die Zeit außerhalb dieser kleinen Gemeinde hatte Schritte nach vorn getan.
Die ersten "Zugereisten" kauften leerstehende Häuser im Ort. Sie kamen aus der Stadt. Sie sahen anders aus und hatten andere Meinungen.
Die Frauen hatten kurzes Haar statt der traditionell geflochtenen Zöpfe. Ja selbst die Mädchen trugen die Haare kurz.
Die Männer arbeiteten in der Stadt (keiner verstand genau was) und die Jungs lasen unanständige Bücher (unanständig wurde zwar nur vermutet, aber sie lasen, statt Fußball zu spielen oder zu raufen).
Der Unmut in der Gemeinde wuchs. Die Kleider der kurzhaarigen Mädchen waren zu bunt und den neuen Jungs fehlte der Gemeinschaftssinn für die Schulmannschaft.
Ein Junge machte einem älteren Dorf-Mädchen den Hof. Gerüchte machten unter den Alteingesessenen die Runde. Die beiden verlobten sich und verließen den Ort ein Jahr später.
Dennoch: die Zugereisten fassten Fuß im Ort. Ein Metzger eröffnete einen neuen Laden am Marktplatz, seine Tochter heiratete kurz darauf den Sohn des Bürgermeisters. Der alte Dorfarzt verkaufte seine kleine Praxis an einen zugereisten Mediziner und setzte sich zur Ruhe. Eine zugereiste Familie eröffnete einen kleinen Buchladen, hatte aber wohl nicht bedacht, dass es in jedem Haushalt bereits seit Generationen einige Bücher gab. Nur die Zugereisten kauften dort.
In der sonntäglichen Predigt stand nun häufiger das Thema "alte Werte" im Mittelpunkt und auch in der Schule besann man sich auf Mundartgedichte aus alter Zeit.
Wer einen Zugereisten als Nachbarn hatte, schimpfte über fremdländische Gerüche oder über neue Rosensorten, die nicht ins Gesamtbild der Straße passten. Seit Generationen wuchs Ginster in den Vorgärten.
Weitere Familien kamen, bauten neue Häuser am Rande des Dorfs und lästerten über den Dialekt und das mausblonde Haar der Dörfler. Man blieben nun unter sich.
Der neue Arzt registrierte im Laufe der Zeit eine erhöhte Zahl an Fehlgeburten und Fehlbildungen bei Neugeborenen. Bei Schulkindern mehrten sich Befunde von Schwachsinn.
Es wundert kaum, dass dem Arzt die Patienten ausblieben. Man bekam Bedenken eine ähnliche Diagnose für die eigenen Kinder zu erhalten. Die steigenden Inzestschäden waren den Dörflern unverständlich, früher hatte es solche Befunde nie gegeben.
17 Jahre nachdem er die Praxis übernommen hatte, brannte das kleine alte Fachwerkhaus des Arztes bis auf die Grundmauern nieder.
In der gleichen Nacht, nur wenige Stunden zuvor, hatte die uneheliche Tochter der Pfarrei-Haushälterin ihre dritte Fehlgeburt gehabt. Sie wäre verblutet, hätte ihre Mutter nicht den Arzt gerufen.
Den Vater des verstorbenen Kindes wollte das junge Mädchen auch dieses Mal nicht nennen.