"She bangs, she bangs ..."* - eine "Milljöh"-Studie
Vorsichtig betrete ich den abgedunkelten Raum - Licht, changierend von rot über gelb bis blau spiegelt sich auf nackter, schwitzender Haut, in der Mitte einer großen mit Kunstleder überzogenen "Spielwiese" ein Getümmel ineinander verknoteter Leiber. Ich ziehe meine Schuhe aus, betrete das Feld, breite das mitgebrachte Handtuch aus, lege mir ein Kissen in den Rücken, lehne mich an die Wand und beobachte das Geschehen. "She moves, she moves ..."
Zwei, drei Frauen - Bienenköniginnen gleich - geben sich den sie umschwärmenden Drohnen hin, eine kniet auf der Matte, bietet ihre Kehrseite einem hinter ihr knieenden Mann dar und lässt sich so begatten, ohne befruchtet zu werden. Ihr Stöhnen wird durch das Eindringen eines weiteren neben ihr knieenden Mannes in ihren Mund gedämpft, ihre Hand umschließt, massiert, bedient die Erregung eines Dritten auf der anderen Seite Sitzenden. Aufstöhnend ergießt sich der Erste in sie und nach einem klar strukturierten Rotationsprinzip rückt Nummer Zwei - der soeben noch mit dem Mund Verwöhnte - ins Zentrum ihrer Lust nach ... Ein halbes Dutzend anderer Männer umsteht in konzentrischen Kreisen das Geschehen - Gewehr bei Hand.
"She looks like a flower but she stings like a bee"
"Des wird wohl nix", herrscht die Queen of the Gang den gerade Aktiven an. "Der wird ja nicht mal richtig hart, da brauch ich was anderes" Diese Worte tönen in meinen Ohren nach Romantik pur.
Überhaupt vermittelt mir das Geschehen Eindrücke, die mich in ihrer grotesk-verzweifelten, bizarren Hässlichkeit an die Bilder von George Grosz vom Niedergang des Groß-Bürgertums in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts erinnern. Hier tummelt sich das Kleinbürgertum in immerwährenden letzten Zügen seiner sexuellen Dekadenz.
Leib umschlingt Leib, es wird geleckt, gelutscht, gefingert, gestoßen ... Bierbauch klatscht an voluminöses Gesäß, weitgeöffnete Höhlen schmatzen, saugen und tropfen, Ergüsse spritzen in hinterher achtlos liegengelassene Gummihüllen. Die Geräuschkulisse könnte als Tonspur Dantes "Inferno" unterlegt werden: hier ein Stöhnen, dort ein Aufschrei, das meerschweinchen-ähnliche Quieken einer Frau während ihres Orgasmus - für mich kein Ohrgasmus.
Nein, hier sehe ich nur selten schöne Menschen, ästhetische Vereinigungen, zärtliche Küsse, Vorspiel, Nachspiel - hier wird der Akt pur und im Akkord durchgezogen, das Wort Erotik wird kleingeschrieben - Mensch paart sich wie Tier und geht dann heim zu Frau, die zwischenzeitlich Haus und Herd und Kinder gehütet hat.
Die Aktion auf "den Matten" verläuft einer Wellenbewegung gleich: gegen acht Uhr treffen die ersten Gäste ein, ziehen sich um, essen eine Kleinigkeit vom Büffet, trinken, rauchen, schauen sich um - geredet wird wenig, wenn, sind es die Stammgäste, die sich untereinander über ihre geilen Erlebnisse am vergangenen Wochenende austauschen oder auch über die letzte Steuerprüfung.
"Cause she walks like she talks
and she talks like she walks"
Die Damen rücken ihre Dessous zurecht, setzen ihre Vorzüge ins Licht der Rampensäue, ziehen Lackleder über Speckrollen glatt und Netzstrumpf über Orangenhaut-delligen, wabbelnden Schenkeln. Die eine oder andere stakst unbeholfen auf ihren High Heels durch den Raum - einem Modell auf dem Catwalk gleich, um sich den anwesenden Herren zu präsentieren. Natürlich kann man sich die Frage stellen, ob dies überhaupt erforderlich ist - den meisten anwesenden Männern ist die Geilheit mit Neonbuchstaben auf die Stirn tätowiert: "Wo geht es hier zum nächsten Loch?"
Um neun Uhr wird zum Anpfiff geblasen, die Wanderung der Lemminge in Richtung der "Spielzimmer" setzt ein - Klappe, Action allerorten, da fliegen Schuhe zur Seite, T-Shirts werden förmlich von haarigen Leibern gerissen, und die Dessous der Damen weichen der unverhüllten, gnadenlosen Nacktheit. Auf den Gängen hektische Bewegung der Männer, die noch nicht haben und immer noch wollen. Eine halbe Stunde später ist die erste Runde vorbei, manche Männer wirken entspannter, gelöster, befriedigter - die, die noch nicht zum Zug gekommen sind, irren weiter von Raum zu Raum ... und Frauen fertigen sie im Eilverfahren ab.
Im SM-Raum zelebriert ein zutiefst verspießert aussehender Dom eine Session mit seiner verhuscht wirkenden Sub. Während ihr Herr und Meister auf schwarzem, edlen Tuch eine Kollektion Peitschen, Gerten, Flogger, Paddles ausbreitet, kettet sich das devote Ding in vorauseilendem Gehorsam selbst ans Kreuz. Ein letzter Blick, sie ist bereit, und er tritt heran und bearbeitet sie mit kurzen, leichten Schlägen. In der Abfolge werden diese heftiger, aber Subbie schweigt demütig. In der darauffolgenden Stunde werde ich Zeugin, wie er das gesamte mitgebrachte Gerät an ihr abarbeitet - verstehen werde ich dadurch die Faszination dieser Welt nicht.
Auf einem gynäkologischen Stuhl liegt eine weitere Frau mit verbundenen Augen - ohne Über"blick" darüber, wer sie benutzt und wen sie gebraucht zu ihrer Befriedigung. Das Prinzip dieses Abends ist Wahllosigkeit, und ich frage mich, ob man diese auch nur durch das Nicht-Sehen ertragen kann und will.
"She reminds me that a woman got one thing on her mind"
In ähnlicher Choreographie verlaufen Runde zwei und drei: gelegentlich ergeben sich Szenen, die auf wahre Begeisterung und Leidenschaft schließen lassen - eine halbe Stunde in die Geisterstunde der realen Pornographie hinein, endet der Spuk, die Gäste werden vom Clubbesitzer mit Wangen-Bussi verabschiedet, gehen zu ihren Autos und fahren weg, für den Moment befriedigt und für die Arbeitswelt wiederhergestellt und in ein paar Tagen wieder geil und willig und auf dem Weg zur nächsten Party.
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• Zitate aus:
im Original von Ricky Martin