Ein Wiedersehen, ein Wieder-Sehen und ein Nichtsehen
Wie ein Außerirdischer laufe ich durch diese Stadt, die einmal meine gewesen ist. Sieben Jahre lang. Vor so vielen Jahren.Außerirdisch – so komme ich mir gerade vor inmitten all dieser Wesen mit ihren bunt umrandeten schwarzen Löchern, die ununterbrochen bald hierhin, bald dorthin irrlichtern, manchmal an mir hängen bleiben. Augen nennen sie das und die schwarzen Löcher sind die Pupillen, die Öffnungen, durch welche die Bilder der Welt ihre Gedanken erreichen. Physiologisch gesehen sind es Ausstülpungen ihrer Gehirne. Wer einem Menschen in die Augen sieht, blickt also direkt in sein Gehirn. Warum verstehen sie einander dann so wenig?
Mit einem dieser Wesen habe ich mich hier getroffen. Eines der seltenen Exemplare, in dessen Gesellschaft ich mich wohl und verstanden fühle. Obwohl sie sagt, sie könne sich keinen Reim auf mich machen. Als ob es mir mit ihr anders ginge. Sie ist es, die mich oft mit einem Außerirdischen vergleicht und ist dabei selbst so speziell, dass sie von einem anderen Stern kommen könnte.
Gerade habe ich mich am Hauptbahnhof von ihr verabschiedet. Es war ein viel zu kurzes Wiedersehen und das Treffen in dieser Stadt hat Erinnerungen geweckt. Deshalb laufe ich jetzt durch das Meer aus Stein, lasse mich von der Strömung der Straßen tragen. Vorbei an Orten, an denen so vieles passiert ist, hinunter zum Fluss. Dort treffe ich auf die Erinnerung an die Erste, mit der ich mich damals so verstanden habe wie heute mit der Freundin vom andern Stern. Schön war sie und mindestens genauso schön war es mit ihr zu reden, mit ihr Zeit zu verbringen. Allerdings war ich damals noch nicht so weit, um zu begreifen, warum das genauso wichtig sein könnte, wie sie zu berühren.
Über den Holbeinsteg, die Sonne, die auf dem Wasser glitzert, macht den Weg zu einer blendenden, unwirklich schillernden Passage in eine andere Welt.
Dann am Ufer entlang. Eines der Museen dort ist der letzte Arbeitsplatz der Freundin aus meiner Vergangenheit, von dem ich weiß.
Mit jedem Schritt steigt meine Anspannung – wie wird sie jetzt aussehen, die schöne Frau mit den wachen, leuchtend-schwarzen Augen, deren Name Fröhlichkeit bedeutet und der so gut zu ihr passt? Passte? Könnte sie mir böse sein wegen irgend etwas? Habe ich sie enttäuscht? Womit?
Unerwachsene Gedanken, die mich immer noch viel zu oft zurückhalten. Irrelevantes schlechtes Gewissen aus nichtigen Gründen. Ich war nicht allein in dieser Freundschaft und so wie zum Finden gehören immer auch zwei dazu, sich zu verlieren. Das habe ich in den vergangenen Jahren gelernt. Deshalb traue ich mich, sie zu suchen und riskiere tatsächlich, sie zu treffen.
Bei Wiedersehen nach langer Zeit überwiegt jedes Mal die Freude. Natürlich hält diese Freude nicht immer, aber so ist das Leben. Auch das habe ich erst lernen müssen. Früher hatte ich Angst vor Wiedersehen, wenn zu viel Zeit ohne Kontakt vergangen war und deshalb sind aus manchen Bekannten keine Freunde geworden. Die Treffen sind nach und nach spärlicher geworden, die Verbindung schwächer. Wie ein Bach, der immer mehr von kleinen Steinen blockiert wird, bis der Lauf am Ende austrocknet, weil sich das Wasser einen anderen Weg suchen muss. Die Quelle aber ist nach wie vor lebendig. Weil Zuneigung nicht von alleine stirbt.
Es ist ein großes, lichtes Gebäude, mit weiträumig geöffneten Wänden, in dem ich nach ihr frage. Keiner kennt sie. Weder der Mann an der Garderobe, noch die Frau am Kiosk. Ich schaue mich um, spüre meinen Herzschlag, das Gewicht der Reisetasche an meiner Schulter. Geht sie vielleicht gerade durch einen der Räume, in die ich von hier aus sehen kann? Eine der Treppen hinauf? Herab? Kommt sie vielleicht gerade in die Eingangshalle?
Nur zwei der vielen Museumsbesucher lassen das Bild eines Mannes mit einer schwarzen Reisetasche in ihre Gedanken, der sich langsam umdreht und aus weit geöffneten Augen suchende Blicke in die Räume sendet. Nicht wegen der Kunstwerke, das fühlen sie und deshalb sehen sie mich an. Suchen sie? Wollen sie gefunden werden?
Sie kommt nicht.
Ich gehe.
Vor dem Gebäude liegt ein schöner, leuchtend bunt gefärbter Vogel. Eine Familie mit zwei Kindern steht um den Vogel herum. Er hat sich wohl an der im Sonnenlicht blendenden Glasfront das Genick gebrochen. Vielleicht schüttelt er sich im nächsten Moment und flattert benommen davon. Vielleicht bleibt er liegen. Schrödingers Vogel.
Ich sehe nicht zurück.
Über den Eisernen Steg, die Sonne im Rücken. Diesmal blendet sie nicht, dieser Weg ist klar und real. Vorbei an einem Mädchen, das »How many roads« von Bob Dylan singt. Zwei Jungs spielen Gitarre und Bongos dazu. Dann, vielleicht zwanzig Meter weiter, ein alter Mann, der mit unbeteiligtem Gesicht etwas trauriges auf einem Akkordeon spielt.
Der Gefühlsquirl in meinem Inneren kommt langsam zur Ruhe. Erinnerungen, Aufregung, Enttäuschung beginnen sich zu trennen und schichten sich wieder in der richtigen Abfolge übereinander. Es war immer möglich, dass sie nicht mehr dort arbeitet. Dass sie vielleicht nicht einmal mehr hier wohnt.
Zurück am Hauptbahnhof. Als ich in den Zug steige, fällt mir ein, dass sie geheiratet hat. Ich war auf der Hochzeit, habe ihr fünfzig Mark an das weiße Kleid geheftet.
Und mir fällt ein, dass ich nach dem Namen gefragt habe, unter dem ich sie vor ihrer Heirat kennengelernt habe.