Ein ganz normaler Tag
Vor dem Schaufenster blieb er stehen, er hoffte das sich seine Verfolgerin darin spiegeln würde, aber weder war er sich sicher ob es wirklich eine Frau war, noch war er sicher ob er wirklich verfolgt wurde. Eigentlich hatte der Tag gut angefangen: die Morgensonne hatte ihn sanft aus dem Schlaf geweckt und er war gut erholt aufgestanden, hatte geduscht und ausgiebig und gemütlich gefrühstückt. Das politische Sommerloch konnte auch die Weltpolitik nicht füllen und die Zeitungslektüre war dem entsprechend seicht. Er entschied sich auf die Arbeit zu laufen und freute sich schon auf den kurzen Spaziergang durch den Park. Mit dem blauen Himmel und der noch milden Morgensonne hatte sich die gute Laune scheinbar auf alle Menschen auf seinem Weg verteilt, so ziemlich jeder war am Lächeln und selbst als seine Gedanken Anita streiften, konnte ihm das nicht die gute Laune nehmen. Er kam im Büro an, durchquerte das weitläufige Foyer, nicht ohne so ziemlich jeden zu grüßen und wartete geduldig vor dem Aufzug, als er bemerkte, dass auch Anita gerade das Gebäude betreten hatte. Schlagartig hatte er das Gefühl von allen anwesenden mit Blicken penetriert zu werden, die gute Laune war schlagartig dahin. Er konnte hören wie sie den Pförtner am Empfang begrüßte, traute sich aber nicht zu ihr herüber zu schauen. Der Aufzug öffnete sich und er war dankbar der gefühlten Enge des Foyers zu entkommen. Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, atmete er kurz durch: es blieb nicht aus das sie sich über den Weg laufen würden, auch wenn sie nicht in derselben Firma arbeiteten, so doch immerhin im gleichen Gebäude. „Nie intim im Team! NEVER! FUCK! THE! COMPANY!“ hatte ihm nicht nur sein Mentor erklärt, der war aber der einzige der beide Warnungen so verband und beim englischen Satz jedes Wort mit einem Ausrufezeichen versah. Eine Warnung vor Beziehungen mit Frauen die im gleichen Gebäude arbeiten hatte niemand ausgesprochen. Er überlegte ob das gleiche Gebäude schon „das gleiche Team“ bedeutet, wurde aber von der sich öffnenden Fahrstuhltür abgelenkt.
Die Firma hatte im Gebäude fünf komplette Etagen angemietet, sein Büro lag im zwanzigsten Stockwerk, dem Obersten der angemieteten. An seinem Schreibtisch angekommen schaltete er seinen Rechner an und lies den Blick über die Stadt und das Umland schweifen. Der kurze Weg zur Teeküche war dann schon der zweite Rückschlag am Tag: jemand hatte seinen Tee verschüttet und er war auf der Pfütze ausgerutscht. Die Folge war ein riesiger, rötlicher Fleck auf der hellen Hose („Typisch“, hatte er gedacht, „Normalerweise trage ich fast nur schwarz und ausgerechnet wenn ich mal was Helles trage“) und ein taubes Gefühl im Knie, das seinen Sturz abgebremst hatte. Nachdem er sich am Kaffeeautomaten einen Milchkaffee gemacht hatte, humpelte er zu seinem Platz zurück. Das Betriebssystem war mittlerweile hochgefahren und blinkend wartete der Cursor auf die Eingabe seines Passwortes. Mittlerweile hatte er sich vom zweiten Schlag des Tages erholt und gab gut gelaunt sein Passwort ein.
„Maestoso“ entsprach zwar nicht den Richtlinien, die die IT-Abteilung ausgegeben hatte, aber er nutzte einen Pool von fünf verschiedenen Passwörtern und wollte das nicht mit einer nicht aussprechbaren und kryptischen Zeichenkombination ersetzen. Leicht erstaunt registrierte er das sein Passwort nicht angenommen wurde. Er vertippte sich sehr selten, kontrollierte die Feststelltaste und versuchte es nochmal, wieder ohne Erfolg. „Ich glaube ich gehe wieder nach Hause und lege mich ins Bett“, murmelte er in den nicht vorhandenen Bart. Nach dem vierten Versuch umschloss er die Tastatur mit beiden Händen, hob sie etwa 50 cm hoch um sie dann auf den Tisch fallen zu lassen. Nach kurzem Durchatmen versuchte er es noch einmal, wieder ohne Erfolg. „Hallo, komm bitte in mein Büro, wir müssen reden.“
Unbemerkt war sein Chef ins Büro gekommen und obwohl er eigentlich auch die Tür im Blick hatte. Er sah nach oben, schaute wieder kurz auf den Rechner und dann fragend zurück zu seinem Chef: „Ich kann mich nicht einloggen!“ Ohne zu reagieren verließ sein Vorgesetzter sein Büro und ihm blieb nichts anderes übrig als ihm zu folgen. Er spürte einen Knoten in seinem Hals, das war definitiv kein gutes Zeichen. Standesgemäß hatte der Firmeninhaber eines der Eckbüros mit einem riesigen Schreibtisch. Weder bot er ihm einen Sitzplatz an noch verschwendete er Zeit mit übertriebener Höflichkeit. „Unsere Wege trennen sich. Oliver wird dich in dein Büro begleiten, du kannst deine persönlichen Sachen aus dem Schreibtisch holen und dann gehen. Du bist ab sofort freigestellt.“ „Wieso? Ich verstehen nicht?“ „Die Agentur deiner Kleinen hat uns einen deiner Kunden weg geschnappt. Außerdem gibt es Gerede über dein Verhalten Frauen gegenüber. Solches Verhalten will und kann ich nicht dulden.“
In ihm kochte die Wut hoch: „Welcher Kunde soll das sein? Außerdem habe …“ „Es gibt nichts mehr zu besprechen. Hallo Oliver, gehst du bitte wie besprochen vor? Danke.“ Der Chef wandte seinen Blick auf die Briefmappe, öffnete sie, fing an den ersten Brief zu lesen und würdigte ihm keines Blickes mehr. Wortlos ging er zu seinem Schreibtisch, Oliver stellte ihm einen kleinen Karton auf den Tisch. „Das wirkt hier wie die Persiflage auf eine Kündigung wie in einem amerikanischen Film.“ Oliver zog es vor ihm nicht zu antworten. Seine persönlichen Sachen hatte er in der obersten Schublade und der Inhalt war schnell im Karton verstaut. Die beiden Bilder seiner Neffen, die auf dem seinem Schreibtisch standen, legte er vorsichtig auf die anderen Sachen und ging zum Aufzug, wieder von Oliver begleitet als ob er ein Verbrecher sei.
Die Aufzugtür öffnete sich, er ging herein, drehte sich um und setzte an sich von Oliver zu verabschieden, der sah ihn aber gar nicht an, also schloss er seinen Mund und war dankbar als sich die Türen schlossen. „Zumindest kann es heute nicht noch weiter abwärts gehen“, sagte er zu sich selber. Just in dem Moment bewegte sich der Lift nach unten. Im Erdgeschoss angekommen wollte er aus dem Fahrstuhl stürmen und lief direkt in Anita hinein. Sie schaute ihn kühl an und obwohl sie fast zwanzig Zentimeter kleiner als er war, hatte er den Eindruck das sie ihn von oben herab anschaute. Er wusste nicht wie sie das machte, es faszinierte ihn, aber speziell jetzt war es für ihn unerträglich. Er stürmte aus dem Gebäude, stolperte und wieder fing sein Knie einen schlimmeren Sturz ab, der Inhalt seines Kartons verteilte sich unter dem vor dem Eingang stehenden Auto. Er richtete sich auf und stellte verbittert fest, dass diesmal die Hose gerissen war.
Nachdem er die Bilder und die anderen Kleinigkeiten wieder im Karton verstaut hatte, machte er sich auf den Weg, zunächst hatte er überlegt ziellos durch die Gegend zu wandern, entschied sich dann aber doch für den direkten Weg zu seiner Wohnung. Er hörte das Klacken von Schuhen auf dem Bürgersteig und hatte das Gefühl, dass die Schritte ihn verfolgten. Als er sich umdrehte konnte er sie aber nicht mehr hören und auch keiner der Passanten zuordnen die er sah. Er machte sich wieder auf den Weg und auch der Rhythmus der Schuhe war wieder zu hören. Eine Frau, vermutete er, möglicherweise aber auch ein Mann, er hatte in der Firma auch einige Kollegen deren Schritte sich auch so anhörten als ob eine Frau laufen würde. Er blickte in den Schaufenster, hörte immer noch die Schritte und konnte sie einer attraktiven Frau in einem langen, dunkelblauen Kleid zuordnen. „Definitiv kein Supermodel, aber hübsch und nicht zu dick“, dachte er, fragte sich aber gleichzeitig ob er sie kannte und wieso sie ihn verfolgte.