Wie alles begann
Ein Abend wie jeder andere. Ich lag im Bett und bemerkte wie meine Gedanken flüssiger, ungreifbarer wurden, die Knoten blockierter Gedanken lösten sich, der uralte Grimoire sank auf meine Brust – jeden Moment würde ich einschlafen. Da klopfte es am Fenster. An meinem Schlafzimmerfenster. Im fünften Stock. Ich stand auf, tappte schläfrig zum Fenster, zog die Vorhänge zur Seite, starrte nach draußen, winkte lustlos zurück, zog die Vorhänge zu und ging wieder ins Bett.
Es klopfte. Geradezu penetrant diesmal und es machte den Eindruck, als wollte er nicht so schnell wieder aufhören. Also wieder zum Fenster, Vorhänge auf. Diesmal kippte ich das Fenster. Sofort spürte ich wie kalte Luft in den so schön geheizten Raum eindrang.
»Bonne nuit, mon cher! Freust du disch gar nischt, misch zu sehön?«
»Spar dir den Akzent für deine Grufti-Fans, Lucien. Du bist seit über hundert Jahren in Deutschland und als ich dich kennengelernt habe, hast du sogar geschwäbelt.«
Draußen, auf dem Fensterbrett saß Lucien, mein ehemaliger Chef und zeitweiliger Freund. Lucien Henri Comte du Derche-sur-Fauteuil, um genau zu sein. Ein fast dreihundert Jahre alter Vampir aus Lyon.
»Spaßbremse. Willst du mich nicht reinbitten?«
Stimmt ja, ich war umgezogen, in diese Wohnung konnte er also nicht einfach eintreten. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf auf die Seite.
»Überleg ich mir noch. Was willst du?«
»Dich besuchen, mon ami. Muss man denn für alles einen Grund haben?« Seine Augen schienen zu leuchten, er fixierte mich mit seinem Blick.
»Lass das, du weißt, dass das bei uns nicht funktioniert.«
»Merde.«
Er sah ins Zimmer, seine Blicke glitten über die Bücher, die Stapel aus vollgeschriebenen Seiten. »Hast dein Problemchen also immer noch nicht im Griff.«
»Hmpf. Was willst du? Und sags schnell, es wird kalt.«
»Ich könnte dich wärmen …«
»Du bist tot, Lucien.«
»Untot. Soviel Zeit muss sein.«
»Jajaja. Hör mal, als wir uns kennengelernt haben, war Hochsommer, da war es sogar irgendwie cool, dass du keine Körpertemperatur hast. Jetzt ist Winter, Lucien.
Winter. Das weiße Zeug da draußen ist Schnee. Es ist scheißkalt. Komm zum Punkt – Was willst du?«
»Öööhm … Ich habe mein Handy verloren.«
»Kauf dir ein neues. Gute Nacht.«
Ich klappte das Fenster zu, hatte schon die Vorhänge in der Hand, als er rief: »Deine Nummer war drauf!«
Ich verdrehte die Augen und öffnete das Fenster.
»Komm rein.«
Elegant, geradezu maestoso in seinem jahrhundertelang einstudierten Pathos, ganz der Vampir, ließ er sich von der Fensterbank gleiten. Und schon stand er vor mir. Ich war nicht mehr daran gewöhnt, wie schnell Vampire sein konnten.
»Und? Wie hast du deine Kontaktliste diesmal sortiert? Nach Blutgruppen? Gut im Bett?«
»Du warst der Erste auf der Liste.«
»Ich habe B positiv … das heißt …«
»Es sind auch die Nummern von Lestat und Elvis drauf. Und von Vlad.«
»Von Vlad? Vlad Ţepeş? Vlad dem Pfähler?
Graf Dracula?«
»Klar, warum nicht? Jeder hat seine Nummer. Er ist langweilig.«
»Du meinst
ihm ist langweilig – immerhin hat er dir seine Nummer gegeben.«
»Blödmann. Nein,
er ist langweilig. Warum bräuchte er sonst so viele Leute, die er anrufen kann? Weißt du, er erzählt seit 1477 immer die selben Geschichten. Wie er gegen die Türken gekämpft hat, die Story, wie er nach London umziehen wollte …«
»Ich kenn die Geschichte.«
»Siehste? Sogar du.«
»Hast du die PIN-Abfrage beim Einschalten aktiviert?«
»Die was?«
»Du bist so ein Idiot, Lucien. Aber jetzt weiß ich, warum du dein Handy wiederhaben willst. Vlad wäre not amused.«
»Ach wo, der freut sich über jeden, dem er ne Klinke ans Ohr labern kann.«
»Warum hast du mich dann aus dem Bett geholt, Mann?!«
»Äääh … ich glaube, eine Vampirjägerin namens Anita hat es gefunden.«
• * *
Wie erwartet, klingelte bald das Handy und nicht lange darauf traf ich mich mit Anita. Lucien hatte Recht, sie war eine Vampirjägerin. Wenige Stunden vor dem Treffen hatte ich in der Videoüberwachung des Cafes (das Passwort des Servers lautete tatsächlich »Passwort«) gesehen, dass sie einem Kellner eine Flasche gegeben hatte. Ich vermutete Weihwasser. Und tatsächlich legte sie eine geradezu lächerliche Szene hin, spielte aus einem Grund, den ich nicht verstand, die Getäuschte, schüttete mir den mit dem Weihwasser zubereiteten Caffe Latte über mein dunkelblaues Jackett und zog irritiert ab, als nichts weiter passierte.
• * *
Lucien war außer sich. »Wie konntest du sie einfach laufen lassen?« schrie er mich an.
»Was hätte ich denn tun sollen, nachdem sie mir so eine Szene gemacht hat? Ihr hinterherlaufen und ›Anita, ich liebe dich‹ schreien?«
»Irgendsowas halt! Verdammt, du gibst doch immer damit an, beim Besten gelernt zu haben, diesem Bond!«
»Klar hab ich das! Und wenn du nicht schon so lange raus wärst aus dem Spiel, wüsstest du, dass sie dann erst Recht misstrauisch geworden wäre!«
Er schnaubte verärgert.
»Danach habe ich übrigens die Position deines Handys ermittelt. Es war auf der Autobahn nach Tübingen.«
»Tübingen?«
»Ja, entweder sie arbeitet weiter deine Kontaktliste ab, oder sie holt Verstärkung. Sie hat im Cafe den Hexentest gemacht, dann das Weihwasser, es war hellichter Tag und das Besteck des Cafes hat sie gegen Silber ausgetauscht. Ich bin mir aber sicher, dass sie irgendwas gemerkt hat, sonst hätte sie nicht diese Wut oder Enttäuschung markiert, um nen Abgang zu machen.«
»Du musst ihr hinterher.«
»Wieso ich? Sie weiß jetzt, dass ich kein Hexer, kein Vampir und kein Werwolf bin. Für mich ist alles in Butter. Du musst echt mal lernen, deinen Scheiß selbst zu regeln. Bist schließlich alt genug.«
Wieder einmal überrumpelte er mich völlig. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er mich an den Schultern gepackt und aufs Bett geworfen. Nun lag er auf mir, die spitzen Zähne bereit, meine Schlagader zu penetrieren.
»Sie hat mein Handy!« zischte er »Damit kann sie gut die Hälfte aller übernatürlichen Wesen in Deutschland finden! Und irgendwann landet sie auch wieder bei dir!«
Da hatte er leider Recht.
»Und was glaubst du, wie lange es dauert, bis sie rausgefunden hat, was du eigentlich bist?«
»Na ja, sie scheint neu zu sein oder einfach inkompetent, immerhin ›lebst‹ du ja noch.«
Er gab einen wütenden Laut von sich und ich spürte seine Zähne am Hals.
»Ich sollte dich einfach leermachen und jemand anderes fragen«, knurrte er.
Ich schluckte. Er war echt sauer. Trotzdem musste ich grinsen.
»Schon nach einem Tropfen von meinem Blut würden dir die Augen zuschwellen, deine Nase würde eine Woche lang laufen wie ein Wasserhahn und nicht zu vergessen der juckende Ausschlag …«
Wieder einmal fragte ich mich, wieso mir gerade in Situationen wie dieser solche Kommentare rausrutschen mussten.
»Ja,
Wer-Kater, meine Katzenallergie …«
Er legte seine großen und unglaublich kühlen Hände um meinen Hals, »Ich könnte aber auch ganz einfach … Sag mal
– schnurrst du???«