Weihnachten – schon wieder.
Charlie, der Cosmopolit unter den Couchpotatoes stöhnte auf, als ihm einfiel, dass er seiner neuen Flamme versprochen hatte, einen Truthahn für das diesjährige Fest zuzubereiten.
Die Lieferung des ausgewählten Tieres, per Internet bestellt natürlich, erfolgte Tags darauf vom örtlichen Züchter, Michel Plauzenhauer. Charlie staunte nicht schlecht, als ihm der in Schweiß gebadete Michel ein noch lebendes Tier überreichte. Fachgerecht zusammengebunden, mit wackelndem Kopf und baumelndem Kehlkopfkamm, oder wie auch immer sich dieses wabbelnde Ding am Hals des Viehs sich nennen mochte.
So hätte es in der Bestellung gestanden, rechtfertigte sich der Züchter, als er Charlies leicht ungläubigen Gesichtsausdruck musterte.
Charlie winkte ab, es wäre so gewollt, versicherte er mit einem um Coolness bemühten Ton in seiner Stimme.
Das Teil musste ein paar Kilo auf die Waage bringen, bemerkte Charlie, als er die Tür mit dem Fuß zukickte, um sein Weihnachtsopfer in die Küche zu schleppen.
Laut plumpsend ließ er den Truthahn auf die Arbeitsplatte fallen und wischte sich erst einmal den Schweiß von der Stirn. Kein Wunder, dass Michel eben so fertig aussah, Charlie wohnte schließlich unter dem Dach des vierstöckigen Wohngebäudes. Rasch öffnete er das große Küchenfenster und ließ die kalte Winterluft hinein.
Jetzt begann er zu grübeln. Wie nun dieses vor sich hin gackernde Federvieh in einen schmackhaften, knusprigen Braten verwandeln? Fernsehen, ja, auf jeden Fall. Zur Weihnachtszeit wird man doch regelrecht zugeballert mit diesen Kochsendungen. Mit Rezepten, die sowieso keiner nachkochen würde, oder von denen niemand satt werden konnte. Geschälte Rosinenhäppchen in blanchierter Katzenmilch an gedünstetem Efeukuchen – oder so ähnlich lauteten die sinnbefreiten Festagsschmausvorschläge.
Charlie ergriff die Fernbedienung seines Küchenmediagerätes und schon flackerte der passende Sender auf. Der Ton war zu laut, doch ein gekonnter Drücker auf den passenden Knopf beseitigte das Problem.
Ein lauter Knall aus Richtung der Arbeitsplatte ließ Charlie zusammenzucken, war er doch bereits versunken im steten Bilderwechsel der Kochsendung gewesen.
Charlie hastete um die Arbeitsplatte und entdeckte den Truthahn mit seltsam verrenkten Gliedmaßen auf dem Boden liegen.
Eine handvoll bekannter Fäkalausdrücke ausstoßend und fluchend bückte sich Charlie, um das zermatschte Etwas zurück auf die Arbeitsplatte zu hieven. Oberflächlich betrachtet entschied sich Charlie für die offensichtlichste Todesursache: am Schreck verstorben mit gleichzeitigem Hirntod.
Zumindest brauchte er sich nun nicht mehr darum kümmern, dieses Vieh um die Ecke zu bringen.
Charlie hob den leblosen Hals des Tieres vorsichtig an und betrachtete den komischen Sack, der um die Kehle des unfertigen Bratens baumelte. Charlie strich angeekelt über das Gewebe und schüttelte sich bei dem Gedanken, dass dieses Anhängsel aussah, wie ein platt gekloppter Hodensack. Er ließ seinen Blick schweifen und betrachtete nun genauer die Gliedmaßen des Vogels. Leicht verbogen pressten sie sich in das dunkle Federkleid, die Schnüre hielten es kaum mehr in Form.
Es bot wirklich nur eine wage Ähnlichkeit mit dem braunknusprigen Braten, der Charlie vorschwebte.
Kurzerhand schnitt er die Schnüre durch und beobachtete, wie der ganze Vogel auseinander zu fließen schien. Er fand sich damit ab, keinen perfekten Braten auf den Tisch zu bekommen, doch es ging ja auch mehr um das Fleisch, nicht um einen Schönheitswettbewerb.
Wohl gestimmt widmete er sich erneut der Kochsendung, in der tatsächlich ein Truthahn auf der Speisekarte stand. Susi würde sich freuen, einen leckeren, gefüllten Braten vor sich zu haben. Davon war Charlie überzeugt. Ganz sicher würde sie ihn, Charlie, dann auch mal wieder ranlassen. Es war ja Weihnachten. Da durfte sich keine Frau rausreden mit Migräne, oder keine Lust, oder neuer Frisur, frisch geklebten Nägeln und was sonst noch alles für Ausreden kursierten. Frau war dann fällig. Das beschloss Charlie kurzerhand und war sich absolut sicher, diesmal zum Zuge zu kommen.
Umso eifriger wollte er seinen Lockvogel, ha ha, diese Zweideutigkeit ließ ihn hämisch grinsen, zubereiten. Der Koch sprach von mehreren Zubereitungsmöglichkeiten. Mit Rotkohl, oder gefüllt mit Kastanien. Schon war Charlie wieder überfordert. Er entschied sich dafür, Susi anzurufen und nach ihren Vorlieben zu fragen. Er tippte die Kurzwahl an seinem Handy und ließ den Apparat seine Arbeit erledigen. Charlies Blick hing noch immer an der Glotze und merkte nicht, dass das Tuten in seiner Hörmuschel bereits verstummt war. Angewidert starrte er den äußerst fülligen Koch an, dem der Vollbart ein noch molligeres Gesicht verpasste. „Man müsste dich grade mal kahlscheren, du verfressenes Schwein. Siehst selbst aus wie ein gestopfter Truthahn….“ zischte Charlie in sein Handy und hörte grade noch, wie Susi am anderen Ende der Leitung brüllte, er könne sich Weihnachten dieses Jahr abschminken und wütend auflegte.
Mit einem Gebrüll, das große Ähnlichkeit mit den Brunftschreien der Orang-Utans hatte, jaulte Charlie auf und schmiss das Telefon quer durch die Küche. In diesem Moment zuckte der leblose, gefiederte Körper auf der Arbeitsfläche zusammen. Die neu gewonnene Freiheit seiner Gliedmaßen nutzte der Vogel sofort aus und begann seine großen Schwingen so gut es ging zu bewegen. Auf der glatten Oberfläche der Arbeitsplatte fanden seine krallenbewehrten Füße keinen Halt und so polterte und flatterte der Truthahn panisch durch die Küche. Töpfe und Pfannen schepperten zu Boden.
Charlie brüllte dem Tier hinterher, das nun völlig in Todesangst geriet und versuchte mit seinen lädierten Knochen seinem Schinder zu entkommen. Dieser jagte durch die Küche direkt auf das Vieh zu, das sich nun eben grade in der Sekunde entschlossen hatte, seinen Darm zu entleeren und sich aus dem Staub zu machen. Er krächzte wie ein rostiges Fahrrad auf Öl-Entzug, als Charlie in den schmierigen Hinterlassenschaften des Truthahns ausrutschte, gegen den Küchenschrank krachte und gleichzeitig alle darauf befindlichen Utensilien runterfegte. Das aufgelöste Tier schlug mit seinen Flügeln, so gut es in der Enge möglich war, schwang sich empor und schaffte es, durch das geöffnete Küchenfenster zu stürzen.
Charlie raste zum Fenster und sah zu, wie sein einstiger Weihnachtsbraten wie ein Stein in die Tiefe trudelte. Unten im Hof standen die beiden größten Tratschtanten aus seinem Wohnblock bei ihrer Lieblingsbeschäftigung. Erna Krawuttke und Else Blischinsky beim Austausch nachbarschaftlicher Neuigkeiten.
Ein lautes Platschen, hysterisches Schreien und darauf folgendes Gezeter weckten in Charlie das dringende Bedürfnis, sich vom Fenster zurückzuziehen und es leise zu schließen. Mit rotem Kopf schlich er durch seine verwüstete Küche, schloss die Tür hinter sich und hechtete auf seine Couch.
Weihnachten würde dieses Jahr wohl ziemlich ruhig werden….