Alte Damen
Zweiundneunzig Jahre zählte sie, doch das wusste sie nicht, nicht mehr oder nur mehr bedingt. Bedingungslos war auf jeden Fall ihre Lust am Leben. Jeden Tag machte sie sich fein, richtete sich das schlohweiße Haar, kämmte und richtete die paar Strähnen, die noch an ihrer mit Pigmentflecken bedeckten Kopfhaut klebten. Ihre Augen waren barmherzig und zeigten ihr ein Bild aus jungen Jahren: faltenloses Gesicht, strahlende grüne Augen, ein Mund, so rot wie eine überreife Tomate, weil Kirschen mochte sie nicht, seit sie als Kind beinahe an einem Kern erstickt wäre. Frau Dietlinde Woschek, Frau Doktor Dietlinde Woschek, bitteschön, denn die Dame hatte einen Arzt geheiratet und somit auch gleich den Titel mit. Sie fand, er stand ihr zu und so war er noch immer an ihrer Wohnungstür zu finden, obschon der Doktor vor geraumer Zeit das Zeitliche gesegnet und seinen Frieden mit der Welt und seiner Gattin im Tod gefunden hatte.
Frau Doktor Woschek also machte sich fein für ihr Treffen mit den anderen Rentnerinnen, um in einem nahegelegenen Kaffeehaus ihr Unwesen zu treiben. Entgegen ihrer Gewichtsprobleme, ihrer häufiger wiederkehrenden Gichtanfälle und ihrer Diabeteserkrankung bestellte sie immer eine Melange und eine Cremeschnitte.
Es dauerte beinahe eine Stunde, bis sie mit sich zufrieden war, die Lippen mit einem rosafarbenen Lippenstift verzierte und sich dann im Spiegel anlächelte. Die falschen Zähne strahlte sie an und schienen der Werbung für Zahnpflege recht zu geben. Sie war schön. Das Kleid stand ihr, auch wenn es um die Hüften schon etwas spannte und sie zum Anziehen beinahe eine Zange gebraucht hätte, aber schließlich hatte sie es doch geschafft und nun schlüpfte sie in ihre eleganten Pumps, griff nach der Handtasche und den Schlüsseln und ging aus dem Haus.
Wie üblich saß bereits Hedwig Sommer an einem Ecktisch, der heute von einfallenden Sonnenstrahlen beleuchtet wurde und deshalb besonders einladend aussah. Hedwig hatte vor sich schon eine Tasse Kaffee stehen. Dietlinde konnte das Milchschaumhäubchen deutlich erkennen und sie leckte sich gierig die Lippen. Es sah so hübsch aus, so einladend.
„Grüß dich, Hedi.“
„Servus, Linde.“
Die Begrüßung der beiden fiel so aus wie immer, kurz und knapp. Danach setzte sich Dietlinde dazu und wartete, dass die Kellnerin kam und ihre Bestellung aufnahm. Es war ein wöchentliches Ritual, das Cremeschnittenwettessen der alten Damen.
Nach mehreren Minuten des geselligen Schweigens kam endlich die Servierkraft und nahm Dietlindes Bestellung entgegen. „Wie immer, Frau Doktor?“, fragte sie höflich und erntete ein königliches Nicken dafür. „So ist es, Fräulein Margit“, antwortete sie, dann lehnte sie sich etwas zurück und schlug elegant die Beine übereinander, was sie freudig lächeln ließ. Es ging also noch, nicht jeder Knochen im Körper tat weh und nicht jeder Muskel war aufgrund des ständigen Bewegungsmangels verkürzt. Es tat gut, sich als bewegliche Frau in den besten, ja den besten!, Jahren zu präsentieren. Dietlinde genoss es, so auf die Dritte im Bunde und den Kaffee zu warten.
Endlich, es kam ihr wie eine Ewigkeit vor und die Knie schmerzten bereits von der ungewohnten Haltung, kam die Kellnerin und brachte Kaffee und Cremeschnitte. „Bitteschön, Frau Doktor, wie immer, Melange und Cremeschnitte. Darf ich sonst noch etwas …?“
„Nein danke, Fräulein Margit.“ Frau Doktor Woschek fühlte sich als Königin und so gab sie sich auch – souverän und weltgewandt, zumindest suggerierte ihr Gehirn diese Tatsachen und sie genoss es. Jede Minute ihres Daseins.
Es kostete sie einige Anstrengung, die Beine zu entwirren, was von Hedwig mit einem gehässigen Grinsen quittiert wurde, aber dann saß sie kerzengerade da und rührte Zucker in den Kaffee. Drei Löffel voll nahm sie immer, obschon sie an Diabetes litt. Es war ihr gleichgültig. An Tagen wie diesen erlaubte sie sich zu machen was sie wollte, da konnte die Tochter, dieses grässliche Biest, wettern was sie wollte. Frau Doktor Woschek war Herrin über sich selbst, zumindest an Dienstagen zwischen neun und elf Uhr.
Kurz vor zehn Uhr kam dann auch Elfriede daher, dieses alberne Küken war erst achtzig Jahre und ständig krank. Sie ging am Stock, war fast taub und schmatzte beim Essen, aber sie war Amtsrätin, also zu tolerieren, zumindest was den Titel anging, der war bei Elfriede echt. Sie ließ sich neben den beiden Damen nieder und rief sogleich: „Schönen Tag zusammen! Fräu’n Margit, einen Dings bitte und Sie wissen eh!“ Dietlinde fühlte, wie sich ihre Finger in einer Bewegung zu strecken begannen und sogleich beugten sie sich zur Faust, die sie am liebsten dieser, dieser Dame ins Gesicht geschlagen hätte. Es war eine alte Feindschaft, eine sehr alte noch dazu, die in dieser gemeinsamen Dienstagvormittagstortenvernichtungsaktion geendet hatte. Elfriede hatte vor über fünfzig Jahren ein, wenn auch nur sehr kurzes Verhältnis mit Dietlindes Gatten. Es war Dietlinde ein Bedürfnis, diese alte Schachtel, wie sie Elfriede bei sich nannte, zu sehen, wie sie verkümmert war, ehelos und um Stock humpelnd und taub noch dazu.
Als auch vor Elfriede Kaffee und Kuchen standen, griff diese sogleich ihr Thema Nummer eins heraus, das Fernsehprogramm, denn etwas anderes hatte sie nicht zu tun. Tagein tagaus, sofern sie nicht im Kaffeehaus war, saß sie vor der Flimmerkiste und ließ das Kinderprogramm laufen.
„Elfriede!“, herrschte sie Dietlinde an. „Wie kannst du dir nur den Kasperl anschauen? Du brauchst doch nur in den Spiegel zu sehen und sparst dir die GIS-Gebühren“, ätzte Dietlinde, was Hedwig kichern ließ. „Was hast du gesagt? Ja, Bob der Baumeister ist auch lustig, gestern haben sie gezeigt, wie Buddel … und dann war da irgendwas mit einem Wurm …“
„ELFRIEDE!“, riefen Dietlinde und Hedwig im Chor. „Du bist unmöglich. Kann man nicht mal über Kinder reden, ohne das leidige Programm. Also meine Tochter, diese nichtsnutzige Stück, hat mir wieder die ganze Rente gestohlen und dann hat sie gemeint, ich dürfte keine Cremeschnitten mehr essen … stellt euch das einmal vor“, wechselte Dietlinde zu ihrem bevorzugten Thema, was Hedwig veranlasste, ihren Sohn zu erwähnen. „Also der Walter, der ist ein ganz ein braver“, begann sie, dann stach sie mit der Kuchengabel ein Stück von ihrer Schwarzwälderkirschtorte ab, um es sich genussvoll einzuverleiben. Kleine Krümel des Teiges blieben dabei auf ihrer Unterlippe hängen, die sie eilig mit der Zunge reinfischte und dann genüsslich kaute und über ihren Sohn redete, den Heiligen Walter, wie ihn Dietlinde süffisant nannte. „Nein, was mir der Walter wieder alles erledigt hat. Gestern waren wir auf der Bank und heute kommt er auch noch, um mir das Bett frisch zu beziehen … natürlich muss er mir nicht umsonst helfen.“
Dietlinde mühte sich mit ihrer Cremeschnitte und bröselte dabei ziemlich herum, Blätterteig mit der Gabel zu zerstechen ist schwieriger als man meinen sollte, besonders wenn darunter nur noch Creme ist und eine weitere Schicht Blätterteig, doch schließlich hatte sie auch den ersten Bissen im Mund und hörte genervt den unterschiedlichen Erzählungen ihrer Bekannten zu. Als sie geschluckt und sich mit der Zunge die Cremereste vom Gaumen gewischt hatte, man konnte die Zungenbewegung deutlich verfolgen ebenso waren die Geräusche gut zu hören, schmatzen war dagegen angenehm, zog sie abermals über ihre Tochter her, die der Erzählung zu folge ein absolutes Miststück sein musste, faul, renitent und noch dazu geldgierig. Wie weit das alles stimmte, konnte niemand sagen, denn Dietlinde war nie etwas recht zu machen.
So ignorierten sich die drei Damen wie jeden Dienstag und redeten nur über das was ihnen wichtig war, ohne auch nur einer zuzuhören, tranken ihren Kaffee und aßen ihre bevorzugten Törtchen, bis eines Dienstags Dietlinde nicht mehr kam. Sie hatte einen Zuckerschock erlitten und war daran verstorben. Nun waren es noch zwei Damen, die sich an ihren Kuchen gütlich taten und ihren Alltag damit verschönerten, noch am Leben zu sein und nicht vergessen zu werden, denn ab und zu schauten sie auf den leeren Platz, den sonst Dietlinde mit ihren Bemerkungen gefüllt hatte. Sie fehlte, auch wenn es keine der beiden Alten zugegeben hätte.
(c) Herta 1.3.2012