Die Seelen-Nomadin
Als sie das erste und einzige Mal freiwillig aus einem Körper schlüpfte, am Tage ihrer Geburt, begann ihre Reise, ihre Suche nach dem Ankommen.Eine kleine wilde Blüte, zart, wissbegierig und neugierig auf die Menschenseelen, denen sie begegnete. Bereit sich zu öffnen, ihre Blütenblätter zu entfalten, so dass ihr empfindsames Innere vor dem Gegenüber lag. Es war ihr wichtig, sich jeder neuen Seele zu öffnen, wollte sie doch so genommen werden, wie sie wirklich war. Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit bedeuteten ihr viel, daher nahm sie an, die anderen würden dies ebenso zu schätzen wissen.
Sie fasste anfangs noch schnell Vertrauen und begann sich in der Seele, die sich ihr annahm, einzunisten. Langsam kleine Wurzeln auszustrecken, die sich verankern sollten, durch die sie den Halt fand, den sie benötigte, um weiter gedeihen zu können.
Da sie sich selbst für unscheinbar und hässlich hielt, forderte sie jedoch nicht, dass sie ohne Gegenleistung ihre Wurzeln schlagen durfte, sondern gab alles von sich, damit es der Seele, in der sie wohnte, immer gut ging.
Meistens, bevor sie die letzten Wurzeln austreiben lassen konnte, griff eine brutale Hand nach ihr und entriss sie der Seele und warf sie weit von sich. Oft war es auch so, dass der Boden, in der sie ihre Wurzeln geschlagen hatte, vergiftet war. So sehr sie sich auch bemühte, ein gesundes Flecken in der fremden Seele zu finden, gelang es ihr nicht. Wohl oder übel musste sie auch diese Seele wieder verlassen. Es kam auch vor, dass die fremde Seele, die sie in sich gelassen hatte, ihre Vergiftung sehr gut verbarg und die kleine Blüte langsam daran erkrankte. Sie erkannte es erst, als es fast zu spät war. Ihre Blütenblätter waren grau, schlaff und faltig, sämtliche Farbe entwichen und das Atmen war ihr kaum mehr möglich. Schläge und Tritte zerrissen das zarte Gewebe und drangen in das sensible Innere ein, um darin wie ein Berserker zu randalieren, sich alles Untertan zu machen. Die Flucht rettete der kleinen Blüte das Leben, doch erkannte sie dies nie und gab sich die Schuld an allem.
Diese eine fremde Seele war allerdings nicht geneigt, das kleine kranke Wesen einfach so von sich gehen zu lassen. Mehr und mehr Lebensenergie zog der fremde Körper aus der kränklichen Blüte, deren Wurzeln bereits verfault waren. Sie war inzwischen dermaßen schwach, dass sie es nur mit allerletzter Kraft schaffte, diese Seele zu verlassen, die noch immer an ihren Blättern zupfte, als sie bereits auf dem Weg nach draußen war. Giftspritzer folgten ihr auf dem langen, beschwerlichen Weg in die Freiheit.
Sie erholte sich nur zögerlich, die Stümpfe ihrer Wurzeln sahen nicht danach aus, als würden sie sich jemals wieder erholen um in einer neuen Seele Halt finden zu können. Sie wusste, sie konnte alleine ihr Dasein fristen, doch war die Sehnsucht nach der Wärme und Vertrautheit einer anderen Seele in ihr so übermächtig, dass es nicht lange dauerte und sie eine neue Seele fand, in der sie ihr Glück erhoffte. Sie wollte Geben, sich geben und wahrgenommen werden, eine Symbiose schaffen, in der beide sich wohlfühlten. Gerne war sie bereit, eine Wurzel aus der Seele zu entfernen, wenn sie glaubte, die andere Seele hätte nicht genügend Nahrung. Also verzichtete sie auf die ihre, um dem anderen noch mehr zu geben. Als nur noch ein oder zwei Wurzeln sie mit der Seele verbanden, wurde sie derb zurückgewiesen, als sie darum bat, sich doch wieder mehr Halt holen zu dürfen.
Das erste Mal in ihrem Leben verschloss sie sich zu einer festen Knospe, es fehlte ihr an jeglicher Kraft, ihre Blüten zu öffnen. Sie begann über ihr Dasein nachzudenken, daran wie hoffnungsvoll sie in jeder Seele gewesen war und erkannte traurig, wie hässlich es jedes Mal endete. Kleine Tauperlen rannen zwischen den Schichten ihrer eng zusammen gepressten Blütenblätter hervor und nach einem tiefen Schlaf wusste sie, sie würde auch diese Seele verlassen.
Entschlossen, keinen Seelenhalt mehr zu suchen, stattdessen umher zu irren und aus sich selbst heraus erblühen zu wollen, gelang ihr allerdings nur in Maßen. Sie spürte, dass sie die Nahrung einer anderen Seele brauchte. Der sinnliche Teil in ihr würde sich nie entfalten können, müsste sie alleine bleiben. Noch immer war die Knospe fest verschlossen, im Inneren tobten Zweifel und Ängste, als eine forsche Seele an sie herantrat und vorsichtig in ihre Hände nahm. Lange zog die kleine Blüte nicht in diese Seele ein, hatte sie zuviel Angst, erneut geschlagen, zertreten, zerrissen und wieder davongejagt zu werden. Diese Seele trug sie jedoch unermüdlich sanft und sicher des Weges. Gab ihr Geborgenheit und Zuversicht. Die Blüte begann zu vertrauen, doch die Knospenblätter öffneten sich noch immer nicht. Eines Tages jedoch bohrten sich kleine Wurzeln aus ihr heraus, die das Verlangen hatten, die Seele dieser sanften Hände kennenzulernen. Zaghaft zog sie ein, die Sehnsucht der Wurzeln war übermächtig. Noch immer schützte die Knospenform ihr verletztes Inneres. Die Wurzeln versanken seufzend in der Seele, die sie so sehr willkommen hieß und fanden einen starken Halt. Unerschütterlich kümmerte sich die starke Seele um die Knospe, die begann sich zu öffnen. So weit, wie sie es noch nie in ihrem Leben zuvor getan hatte. Sie schenkte der fremden Seele ihre prachtvollsten Farben, die wunderschönsten Formen ihrer Blütenblätter, verströmte ihren betörenden Duft, nur für diese eine Seele, die sie klammheimlich erobert hatte.
Diese Seele nahm sie auf, als wäre es das natürlichste und selbstverständlichste der Welt. Die Symbiose war fruchtbar. Beide entwickelten sich zusammen weiter, die Verbindung erstarkte, sie wuchsen aneinander, sie entwickelten Kräfte, die ihre Zusammengehörigkeit noch erhöhte.
Die Blüte hatte zu spüren gelernt, zu erkennen, dass sie für diese Seele von Wert war. Gegenseitiges Geben und Nehmen, es schien unzerstörbar.
Eine wütende Krankheit versuchte eines Tages die Verbindung der Seele zu der kleinen Blüte zu zerstören. Die Seele versuchte, sich die Blüte zu entfernen, riss sie aus sich heraus, wies sie von sich. Die einst so starken Wurzeln der Blüte verdorrten sofort außerhalb des schützenden Körpers, dem sie so abrupt entrissen wurde. Sie wusste nicht wie ihr geschah, war sie sich keiner Schuld bewusst.
Die Krankheit nagte jedoch unbarmherzig weiter an der Seele und schwächte sie. Bis die Seele erkannte, dass sie die Blüte brauchte, ihre Kraft und Lebensenergie. Ohne die Blüte fehlte der Seele ein wichtiger Teil, der zu ihr gehörte. Sie machte sich auf die Suche nach ihrer kleinen Blüte. Sie fand die Blüte an einem dunklen Ort, zerdrückt und verschreckt.
Die Seele nahm sie wieder in die schützenden Hände. Vorsichtig platzierte sie die kleine Blüte an die Stelle, an der sie vorher verankert war. Doch diese Stelle war inzwischen vernarbt. Die Wunde, die entstanden war, als sie die Wurzeln der Blüte selbst aus sich gerissen hatte, war vernarbt.
Sie suchte einen neuen, sicheren Platz in sich, um der Blüte einen neuen Halt in sich zu geben und war froh, sie wieder in sich tragen zu können. Gehörten sie doch untrennbar zusammen.
An diesem geheimen aber sicheren Ort, lässt die kleine Blüte noch immer ihre Wurzeln sprießen. Jeden Tag ein wenig mehr. Die kleine Blüte ist angekommen und achtet darauf, nicht sofort alle Lebensadern mit der Seele zu verbinden, doch die Seele sehnt sich unbändig nach ihren winzigen Wurzeln, damit sie der Blüte endlich wieder geben kann, was beide so sehr brauchen.
© Lys 04/2011