Übers Verfallsdatum
Hatte ich nun wieder nicht lange genug, oder etwa zu lange geschlafen? Wieso fühlte ich mich gerädert, egal, ob ich nach einem brutalen Schlag auf den unbarmherzigen Wecker fluchend die Decken zurückschlug oder mich wie heute räkelnd umdrehte und versuchte weiterzudösen, wenn die Mittagssonne bereits durch die Jalousien brannte?
Heute war Samstag, ein Tag wie jeder andere, nur noch langweiliger und lauter, weil meine Nachbarn zuhause waren. Ein weiteres Wochenende voller Langeweile lag vor mir, die es zu bekämpfen galt. Von Natur aus eigentlich ein fauler Mensch, hatte mich diese Not zu einer wahren Putzwütigen gemacht.
Jedes Wochenende machte ich erst mal gründlich sauber, kaufte ein, wusch und wischte, bevor ich mir erlaubte, den Bücherschrank zu durchforsten und es mir mit einer Flasche Wein gemütlich zu machen. Nur eine Stunde nach dem Frühstück – mit lautem Radiogeplärre weniger einsam, als es der spärlich gedeckte Esstisch grässlich dem zeigte, der genauer hinsah - war ich mit Reinigungsmitteln, Wein, Käse und Brot aus der Innenstadt zurück, wo ich Haken schlagend um oberflächlich glücklich aussehende Pärchen herumlief und einen weiten Bogen um Leute machte, die mich womöglich kennen und gottbewahre grüßen könnten.
Als ich zur Tür hereinkam, fiel mir gleich die Balkontür auf, die förmlich danach schrie, das neue Glasreinigungsmittel aufgespritzt zu bekommen. Beim Wegräumen der Einkäufe fiel mir in der Küche ein unangenehmer Geruch auf, und nach einigem Suchen zog ich angeekelt eine bereits schimmlig grüne, stinkende Zitrone hinter dem Kühlschrank hervor. Was blieb mir anderes übrig?
Ich schob unter Aufwand all meiner Kräfte die Möbel von ihrem Platz und scheuerte Wand und Boden dahinter, bis mir die Knöchel fast bluteten. Handschuhe waren für Weicheier, ich machte es wie meine Mutter früher. Wie hatte die mir Feuer unterm Hintern gemacht, wenn ich mein Zimmer nicht in Ordnung hielt. Sobald ich zuhause ausgezogen war, suhlte ich mich in meiner Schlampennatur, wie um ihre Erziehung Lügen zu strafen.
Doch jetzt, nach so vielen Jahren, war ich ihr dankbar, dass ich mit dem Scheuerlappen umzugehen verstand und erlebte wie zu ihrem Gedenken die Befriedigung, die eine saubere Wohnung und gut riechende, strahlende Wäsche hervorrufen konnten, als kleine Erfolgserlebnisse, über die ich mich früher schlapp gelacht hätte.
Als alles sauber und ordentlich an seinem Platz stand und es beim besten Willen nichts mehr zu tun gab, schaltete ich den Fernseher ein.
Nach einigem Zappen stieß ich auf einen Schwarz-Weiß-Film, in dem eine Kutsche in rasender Fahrt durch loderndes Feuer preschte, während verzweifelte Sklaven angekettet einen todtraurigen Gospel sangen. Ein paar Minuten sah ich mir das an, mein erstes Glas Wein in kleinen Schlückchen genießend, doch als ein süffisant grinsender Gutsherr dem Schuldigen die Beichte heraus zu peitschen versuchte, gab ich schnell auf. Erst musste ich einiges mehr getrunken haben, bevor ich das weiter ertragen könnte.
Dann machte ich den nächsten Fehler. Ich ging zur Toilette, desinfizierte diese danach und wusch mir die Hände, wobei ich wie beiläufig in den Spiegel sah. Ein großer Fehler. Ich schaffte es nicht lange, meinem eigenen Blick standzuhalten. Er huschte flüchtig über die Krähenfüße, Tränensäcke und den angegrauten Haaransatz und blieb zu lange an der schlaffen Haut unter Kinn hängen, die seit der letzten Inspektion von mehr als einer Sekunde deutlich mehr einem Truthahnhals zu ähneln schien. Warum nur immer diese Tiermetaphern? Als ob das nötig wäre. Alte Frau war schlimm genug, die Details musste man doch wirklich nicht auch noch mit Ekligkeiten aus dem Tierreich bezeichnen.
Ich schrubbte mir die Hände noch mal, die ungläubig diesen Hals und die eingefallenen Wangen berührt hatten, um dann ins Wohnzimmer zurück zu gehen. Hatte ich den Fernseher nicht ausgeschaltet? Es hörte sich immer noch wie das Brutzeln an, das vorhin im Bürgerkrieg die Scheune verkohlte. Ich blieb stehen, als mir der Rauch aus der Küche entgegenschlug und ich die gelblichen Flammen entdeckte, die aus der Ecke kamen, in der ich die Terpentinlappen entsorgt hatte, ohne die die Fettspritzer hinterm Herd nicht hatten verschwinden wollen.
Mir war bewusst, dass ich die Notrufnummer wählen und mich in Sicherheit bringen sollte. Ich spürte, wie schwer mir das Atmen plötzlich fiel, und mir schoss auch durch den Kopf, wie unnütz all mein Putzen heute gewesen war, was für eine Zeitverschwendung, für das, was nur noch ein Häufchen Asche sein würde in kürzester Zeit. Doch ich bewegte mich nicht.
Ich starrte fasziniert auf die Stichflamme, als der Herd jetzt aufloderte und verfolgte die schmorenden Leitungen an der Wand. Die Kräuterpflanzen auf der Fensterbank zischten in der Hitze, bevor sie zusammenschrumpften, das Geschirrtuch flog hoch und schwebte lustig bläulich brennend in Kreisen umher, während ich die entstehende Hitze jetzt auch an den Füßen spüren konnte. Der an die Küche grenzende Wohnraum war mit Teppichboden ausgelegt, der aus schnell brennenden Synthetikfasern bestand.
Seufzend ging ich ein paar Schritte zurück und setzte mich in meinen alten Sessel, gerade, als das Küchenfenster zerbarst und ich die erste Sirene von draußen vernehmen konnte. Wer hätte das gedacht, dass ich einmal genauso enden würde wie mein Theo?
Nichts war von ihm übrig geblieben, als sein LKW verunglückt und gleich darauf explodiert und völlig ausgebrannt war. Wie lange hatte ich nicht geträumt, er sei an dem Tag gar nicht gefahren und würde irgendwann wieder vor der Tür stehen? Ohne einen echten Beweis hing man solchen Wünschen viel länger nach, als ich es wohl ohnehin getan hätte.
Tief zog ich die rauchgeschwängerte Luft ein. Ohnmächtig zu werden, bevor mich die Flammen erreichten, wäre die letzte Gnade, die ich mir erweisen würde. Ich schloss die Augen und hörte dem Brand, der vor dem Haus in Panik arbeiteten Feuerwehr und den Angstschreien meiner Nachbarn zu. Hoffentlich würde man die Kinder nebenan rechtzeitig retten können. Das wäre mir dann doch unangenehm, das einfach passieren zu lassen, wenn andere drunter leiden würden.
Als ich noch mal blinzelnd zu erkennen versuchte, wie nah das Feuer inzwischen bei meinem Sessel war, tauchte ein Schatten aus dem Rauch auf, er bewegte sich und ich fürchtete im ersten Moment, ein Feuerwehrmann würde mich vor meinem Schicksal bewahren. Doch dann blieb der Schatten ein paar Meter vor mir stehen, ein Mann, dem das Feuer scheinbar nichts anhaben konnte, obwohl er keine Schutzkleidung trug, nur ganz normale Jeans und ein T-Shirt, sah ich jetzt.
Ich hustete, verschluckte mich an dem Kratzen in meinem Hals und keuchte erschrocken, als ich seine Haare und sein schiefes Grinsen erkannte.
„Theo? Bist du das? Wie schön, dich wiederzusehen.“