Keltenblut
Der Mond prangte voll vom Himmel, als Ceridwen ihr Gesicht dem Himmelsgestirn zuwandte. Sie fror, schlang ihre Arme um die mageren Hüften und spürte die Gänsehaut schmerzhaft über ihren Körper ziehen. Das dünne gewebte Kleid, das nur von einem geflochtenen Band um ihre Körpermitte gehalten wurde, bot keinerlei Schutz gegen die kühle Nachtluft. Sie hockte hinter einer gefallenen, dicken Eiche. Der uralte Baum lag schon seit vielen Jahren im Unterholz des Waldes und bot einigen kleinen Tieren Unterschlupf. Ceridwen warf einen kurzen Blick auf die knorrige Rinde des Baumes, der ihr Schutz vor dem bot, was vor ihr geschah. Die nur schwach vom Mondlicht beleuchtete Rinde bewegte sich, zumindest vermittelten dies die winzigen Bewohner des Holzes, die über ihre Heimstatt krabbelten. Ceridwen musste sich schütteln bei den Gedanken an diese Kerbtiere, doch hatte sie keinen weiteren Sinn dafür, sich darum Gedanken zu machen. Sie wusste nicht genau, wie lange sie schon im Wald ausharrte, wenn sie jedoch an den Ritus dachte, musste es ungefähr eine Woche her sein, dass ihr geliebter Mann Gwydion gestorben war. Sie harrte so lange in diesem unheimlichen Wald aus, weil sie wusste, dass sie hier her kommen mussten, um Gwydion in seinem Hügelgrab beizusetzen.
Ceridwen verlor sich in Gedanken, an den Tag seines Todes. Er kam schwer verwundet aus einer Schlacht zurück. Sie kannte sich ein wenig aus in der Heilkunst ihres Volkes und wollte für ihn heilende Kräuter besorgen, um seine Wunden zu versorgen. Doch wurde ihr diesmal noch deutlicher klar gemacht, dass ihre Künste nicht erwünscht seien. Jetzt, in einem Zustand der Ohnmacht Gwydions, zeigten die anderen Dorfbewohner ihren blanken Hass Ceridwen gegenüber. Sie war keine von ihnen.
Gwydion hatte sie von einem Eroberungszug mitgebracht. Seine Männer fielen brandschatzend und laut brüllend in das Dorf ein, in dem sich zu diesem Zeitpunkt nur Frauen, Kinder und Alte aufhielten. Ihre Männer waren ebenfalls unterwegs, um Beute zu machen. Sie würden vor Wut beben, wenn sie von diesem Zug zurückkämen.
Gwydion entdeckte Ceridwen in einer Hütte, die dem Häuptling des Dorfes gehörte. Stolz, als Tochter des Dorffürsten, stand sie ihm gegenüber und zeigte unerschrocken ihre geballte Faust, als er laut lachend auf sie zuschritt, mit seinen kräftigen Pranken ihre schmale Taille umfasste und sie sich über die Schulter warf. Sie schrie laut, hämmerte mit ihren Fäusten auf den breiten Rücken, der unter einem dicken Fell verborgen war und gab jedoch rasch auf, als sie merkte, dass ihre Attacken nutzlos waren.
Anfangs hielt sie es aus, ihren Trotz und ihre Wut aufrecht zu halten, doch Gwydion behandelte sie ausgesprochen höflich und zuvorkommend, was sie nicht verstehen konnte. Die Anfeindungen der anderen Dorfbewohner, besonders der jüngeren Frauen hingegen, konnte sie sehr gut nachvollziehen. Damit konnte sie leben, mochte sie doch niemanden aus dieser Sippe. Am schlimmsten war der Druide. Mit seinem stechenden Blick schien er tief in ihre Seele einzutauchen, schnitt ihr mit jedem seiner Blicke ins Herz, so wie er die Misteln mit seiner scharfen goldenen Sichel von den Bäumen trennte. Dieser Druide schien überall zu sein. Ceridwen fühlte sich stets beobachtet, wenn sie im Dorf ihre Arbeiten verrichtete. Beim Wasserholen, wenn sie das Schwert Gwydions zum Schmied brachte, damit dieser es schärfte, oder wenn sie den anderen Frauen half, Nahrung zuzubereiten – immer hatte der Druide sie im Blick. Sie fand sich damit ab, Außenseiterin zu sein, vor allem, als sie merkte, dass sie sich in Gwydion verliebte. Er schien schon lange dieses Gefühl für sie zu hegen und freute sich, als er erkannte, dass seine Gefühle nun erwidert wurden. Sie fühlte sich sicher in seiner Gegenwart, niemand wagte es, gegen den Herrscher des Dorfes aufzubegehren. Somit auch nicht gegen sie. Zumindest nicht allzu offensichtlich. Gwydions Frau zu sein brachte ihr noch immer keine Sympathien ein, sie war und blieb eine Fremde. Viel lieber hätte die Sippe Eine der ihren in dieser Position gesehen. Dies spürte Ceridwen jeden Tag. Doch ihr Stolz, dass ausgerechnet sie von ihm ausgesucht worden war, half ihr über sämtliche Schwierigkeiten hinweg.
Kurz bevor Gwydion in diese schreckliche Schlacht gezogen war, stellte Ceridwen fest, dass sie ein Kind unter ihrem Herzen trug. Sie wollte es ihm jedoch erst mitteilen, wenn er wieder heimgekehrt war. Er sollte sich in der Schlacht nicht mit diesem Wissen belasten und vielleicht ablenken lassen. Damit nicht das eintrat, was nun doch geschehen war. Ceridwen sah wieder Gwydions blasses Gesicht auf dem schmalen Lager und wie sie ihre Hand unbewusst auf ihren leicht gewölbten Unterleib legte. Schweißbedeckt war Gwydions Körper, mit unregelmäßiger Atmung. Die tiefe Wunde in seiner Brust blutete und wollte sich nicht schließen, so starb Gwydion viel zu schnell mit dem Schwinden seines Lebenssaftes.
Die Kräuter, die ihr bekannt waren, die sie anwenden wollte, hätten gewiss geholfen die Blutung zu stillen, doch der Druide, der sie genauestens beobachtet hatte, packte sie hart am Arm, zog sie vom Lager weg und verbot ihr jegliche Einmischung in seine Künste. Er flüsterte ihr zu, sie solle nur nicht glauben, jetzt, da sie die Frucht des Anführers in sich trug, dass sie und das Kind hier im Dorf sicher seien. Sobald Gwydion bestattet sei, würde ein neuer Anführer gewählt werden und sie hätte niemanden mehr, der sich um sie kümmern würde. Und ihr Bastard würde nie ein Anrecht auf die Stellung seines Vaters haben.
Ceridwen verspürte Schwindel bei den hart gezischten Worten des Druiden, drehte sich wortlos um, blickte noch einmal über ihre Schulter auf ihren toten Mann und rannte aus ihrem Haus, hinaus in den Wald. Sie hatte dort eine Stelle entdeckt, an die sie sich zurückzog, wenn ihr alles zu viel wurde. Wenn Gwydion auf Beutezügen war, kam sie oft hierher. Sie lehnte sich an die alte Eiche, weinte um ihren Liebsten, um ihr Leben und das Leben ihres Kindes, das nun völlig unsicher war.
Diese Eiche war die, hinter der sie nun in der Dunkelheit kniete, gegenüber des Hügelgrabes, welches in wenigen Momenten Gwydion für immer von ihr nehmen sollte. Eine lange Prozession, mit Klageweibern und Fackelträgern brachte den vorbereiteten Leichnam ihres Mannes, verschwand in dem riesigen Hügel und übergab den toten Körper Gwydions den Göttern. Ceridwen wurde bewusst, dass sie nun für immer von hier verschwinden musste. Konnte sie in den letzten Tagen im Dorf immer wieder etwas zu Essen stehlen, würde ihr dies ab jetzt nicht mehr möglich sein. Würde sie entdeckt, bedeutete dies ihren sofortigen Tod. Wieder strich sie über ihren Leib, hoffte dem Kind ginge es gut und es fand die Wärme, die sie selbst so sehr vermisste. Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Zurück in ihr altes Dorf konnte sie nicht. Wusste sie doch nicht, ob überhaupt noch jemand lebte, der sie kannte und falls ja, würden sie nicht auch Hass ihr gegenüber empfinden, da sie mit dem Anführer der Mörder verheiratet war? Nein, sie würde gehen. Weit weg würde sie laufen, in den Süden, wo es warm war, dort wo sie ihr Kind gebären und aufziehen konnte. Und sei es allein, im Wald. Sie würde es schaffen. Sie wollte es schaffen. Gwydion hatte ihr gezeigt, wie stark sie sein konnte und dies wollte sie weiterführen, wollte sein Erbe nicht entweihen.
Sie hörte das monotone Singen des Fackelzuges, der aus dem Grabhügel herauskroch und, bis auf wenige Männer, den Weg zurück ins Dorf einschlug. Ein paar kräftige Krieger verschlossen den Eingang des Grabes, Gwydion war nun endgültig in der Welt der Götter. Ceridwen weinte erneut, kauerte sich hinter ihre Eiche um zu warten, bis der letzte Dorfbewohner verschwunden war.
Warme Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht weckten sie. Ceridwen war eingeschlafen und blickte sich rasch um, ob sie unentdeckt geblieben war. Nichts Ungewöhnliches war zu hören, nur das leise Rascheln des Windes in den Wipfeln der Bäume, einige vorlaute Vögel begrüßten zwitschernd den neuen Tag. Ceridwen atmete tief ein, sog die moosige Luft in ihre Lungen, spürte wie sich ihre Wangen spannten, auf der ihre Tränen getrocknet waren. Ihr Magen knurrte laut, Durst hatte sich auch. Sie musste aufstehen und ihr neues Leben beginnen. Vorsichtig erhob sie sich, noch immer gebeugt, bis sie sich sicher fühlte und sich aufrichtete.
Vor sich auf dem Laubboden lag ihr langer Schatten. Ihr einziger Begleiter von nun an, der das Licht fürchtete und sich doch in der Dunkelheit davon stahl, in die unbekannte Welt des Schattenreiches. Er glitt vor ihr her, auf dem Weg zu Gwydions Hügelgrab. Sie wollte sich wenigstens hier von ihm verabschieden, wenn es ihr an seinem Todestag schon nicht erlaubt war. Sie lief um das kuppelförmige Gebilde herum, stoppte an der Stelle, die von den Männern des Dorfes mit zwei übermannsgroßen Steinplatten verschlossen worden war.
Ceridwen fühlte ein Kribbeln in ihrem Nacken, drehte sich blitzschnell um, weil sie fürchtete, jemand stünde hinter ihr. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte niemanden entdecken. Es wäre ihr unmöglich gewesen, im dichten Unterholz überhaupt jemanden zu erkennen. Mit einem unguten Gefühl drehte sie sich wieder der Grabtür zu und legte ihre Wange an die kühlen Steine. Ihre blonden Haare fielen über den Rücken und hüllten sie ein. Sie spürte ihr Herz schlagen, stellte sich vor, dass ihr Herzschlag diese steinernen Hindernisse überwinden konnte, tief in das Grab hinein flog und für Gwydion die Musik ihres Herzens und das seines Kindes spielte. Für alle Ewigkeiten sollte dieses Pochen Gwydion an ihre Liebe erinnern. Ceridwen legte ihre Lippen auf den Spalt zwischen den Steinen, hauchte einen Kuss hinein, stricht noch einmal über die rauen Wände und verließ den Ort, der ihren Liebsten beherbergte. Ceridwen blickte in den Himmel, orientierte sich am Stand der Sonne und lief los. Dorthin wo Süden sein musste. Ihre zierlichen Füße in den geflochtenen Ledersandalen schritten leicht über den weichen Waldboden, leise knackten Äste unter ihren Sohlen, dann verschwand sie im aufsteigenden Frühnebel des Waldes.
Jemand mit stechendem Blick beobachtete sie ganz genau. Er hatte sie schlafend hinter der Eiche entdeckt, als er seine Misteln schneiden wollte. Er wusste genau, sie würde nicht einfach so verschwinden. Nun konnte er sich um sie kümmern, sein Werk zu Ende bringen. Er war wütend, als sie nach Gwydions Tod im Dorf nicht zu finden war, wusste er doch, sie durfte nicht weiterleben, niemand aus ihrem Dorf hatte damals überlebt, das Blut des Dorfes durfte nicht weiterleben. Dafür würde er jetzt sorgen. Seine Hand glitt in den Gürtel seines Gewandes, fand den Griff seiner Sichel, zog diese aus dem Bund und blickte sie an. Sein Daumen strich prüfend über die frisch geschärfte Klinge und als ein dünner Blutfaden aus seiner Haut quoll, lächelte er zufrieden. Mit diesem grausamen Lächeln auf dem Gesicht hetzte er los, auf der Jagd nach seinem nächsten Opfer.