Falsche Gefühle?
„Tinka, Sie sind hier bei mir in Therapie, weil Sie sich zum wiederholten Male geschnitten haben. Wir beginnen nun eine längere Gesprächstherapie, die Ihnen helfen soll, dass Sie sich nicht mehr schneiden.“„Warum? Was ist denn daran falsch?“
„Tinka, ich muss gestehen, dieser Gedanke schockt mich doch sehr. Wenn Sie sich schneiden, verletzen Sie Ihren Körper. Fügen sich Schmerzen zu, es kann gefährlich werden. Es gibt Menschen, die haben einen kranken Körper und wünschen sich nichts sehnlicher, als einen gesunden Körper und Sie zerstören Ihren.“
„Wie bitte? Jetzt soll ich mir auch noch ein schlechtes Gewissen machen lassen, für die, die körperliche Gebrechen haben? Und wieso darf ich nicht selbst bestimmen, was ich mit meinem Körper anstelle? Niemand hat mich gefragt, ob ich leben will, also kann ich jetzt auch über meinen Körper verfügen, ohne dass sich jemand einzumischen hat. Wer therapiert denn Bungee-Springer, Skifahrer, die ungesicherte Schneehänge hinabjagen, Apnoetaucher usw. Was ist daran falsch, dass ich mich schneide?“
„Tinka…. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das kann man doch nicht miteinander vergleichen. Das eine ist Sport...“
„Sport?? Soso, und gefährden diese Sportler nicht auch ihre Gesundheit, wenn nicht sogar ihr Leben?“
„Ja, in gewissem Sinne schon, aber es ist dennoch etwas anderes.“
„Für mich nicht. Diese „Sportler“ suchen auch nach einem gewissen Kick. Der sie in einen anderen Zustand versetzt. Es ist auch nur eine kurzfristige Ersatzhandlung für etwas in ihren Inneren, das sie nicht anders angehen können.“
„Hmm, wo Sie es jetzt ansprechen. Kick. Welchen Kick gibt es denn Ihnen Tinka, wenn Sie sich schneiden?“
„Ach, ich weiß selbst, dass es nicht nur auf diesen momentanen Kick ankommt, sondern dass es viel tiefer in meiner Seele sitzt, verkorkste Kindheit bla bla bla…“
„Tinka, bitte! Wie soll ich denn mit Ihnen eine anständige Therapie durchführen, wenn Sie alles dermaßen herabspielen?“
„Wer sagt denn überhaupt, dass ich eine Therapie machen will? Doch nur die anderen Weißkittel, die mich als selbstmordgefährdet ansehen. Ich will mich doch gar nicht umbringen, aber das wollen diese engstirnigen Moralapostel ja nicht kapieren.“
„Warum tun Sie es dann, Tinka? Diese Schmerzen. Ihren Körper verunstalten?“
„Boah, man, ich merk schon, mich versteht eh keiner. Es ist ein Gefühl, dass es mir verleiht, ich fühle mich gut dabei. Gleichzeitig löst der Schmerz die Taubheit ab, in der sich meine äußere Körperhülle befindet. Der äußere Schmerz, den ich mir zufüge, lenkt mich vom Schmerz tief in meinem Inneren ab. Ja, ja, ich weiß, Ablenkung ist keine Heilung.
Dennoch lässt mich dieser Schmerz den Zugang zu meinem Inneren finden. Er ist eine direkte Verbindung, er verknüpft mein Inneres mit Außen. Die dunklen Gedanken, die ich dabei zulasse, verbinde ich mit dem Schmerz, sehe zu, wie das Blut aus meiner Haut läuft, spüre die Entspannung, die dadurch in meinen Poren entsteht. Diese Schnitte sind winzige Entlastungsöffnungen meiner Seele. Manchmal denke ich, jeder sollte sich solche Öffnungen schaffen, anstatt andere zu verprügeln, zu vergewaltigen, Amoklaufen oder mit sonstigen Aggressionen anderen schaden.
Ja ich weiß, es sind Aggressionen gegen mich selbst, die ich da an mir auslasse. Doch entstehen sie in mir, also werde auch ich mit ihnen umgehen. Es geht niemanden etwas an, wie es in mir aussieht. Auch wenn ich meine Gefühle auf der Haut trage, für jeden sichtbar – oder auch nicht. Hab ja so meine Methoden gefunden, die Male zu verstecken.“
„Tinka – ich weiß gar nicht, worauf ich zuerst eingehen soll… Diese Male, Narben oder sonstigen Zeichen, schämen Sie sich dafür?“
„Nö, wieso? Es geht mir nur darum, diese blöden Reaktionen der Anderen zu vermeiden. Eben weil es niemand versteht, weshalb ich das brauche. Andere rauchen, saufen oder fressen sich ihren Körper kaputt, das ist seltsamerweise gesellschaftsfähig, obwohl diese Süchte ebenfalls nur eine Verdrängung unverarbeiteter Spannungen sind. Nur weil man da nicht sofort irgendwelche Schäden oder Spuren sieht, wird es verharmlost, gehört halt dazu, der Pharmaindustrie im Alter, wenn die Spätfolgen auftauchen, seine Rente in deren Rachen zu schmeißen für Blutdrucksenker, Cholesterintablettchen, Insulin und andere Chemie. Als Vergleich zu den Spätfolgen dieser Patienten, finde ich mein Schneiden um ein Vielfaches harmloser. Ich kapier es einfach nicht, weshalb da immer solch ein Gedöns gemacht wird.“
„Es gibt halt Menschen, die sich um Sie sorgen, Tinka?“
„Ach ja? Die Sorge derer liegt wohl eher darin, dass ich Gefühle in ihnen auslöse, mit denen sie nicht umgehen können. Warum wird mir jegliche Verantwortung für mich und meinen Körper abgesprochen? Nur weil ich mich nicht so verhalte, wie es im ganzen Spießerland üblich ist? Eine Frau hat schöne, glatte Haut zu haben. Sie verstümmelt sich nicht selbst. Wir wollen so was nicht sehen. Das macht uns Angst.
Ok, aber warum hab ICH, die dies tut, keine Angst? Es wird einfach nicht weitergedacht. Bis hierhin zur Weichspülergrenze und nicht weiter. Klinge auf der Haut – gefährlich – Blut – Tod. So, das ist doch die einzige Abfolge in deren Gedanken, wenn sie überhaupt so weit denken. Nach den Ursachen fragt ja keiner, außer den Therapeuten, und die stehen selbst hilflos der Sache gegenüber. Wieso versucht man ständig, mich in eine passende Gesellschaftsschublade zu quetschen, in die ich gar nicht hinein will?“
„Wir wollen Ihnen doch nur helfen.“
„Helfen wobei? Ich fühle mich nicht schlecht, verdammt noch mal.“
„Aber Sie schneiden sich, das ist nicht normal und ein Zeichen für….“
„Ja, wofür denn? Und normal? Ich lach mir nen Ast. Was ist denn schon normal? Wollen Sie mir weiß machen, Sie sind es? Jeder hat seinen Knacks, nur äußert er sich eben bei jedem anders. Nur weil ich einen etwas auffälligeren Weg gefunden habe, mit meinem Knacks umzugehen, heißt das doch noch lange nicht, dass ich unnormal bin. Oder, stopp, doch, denn ich will gar nicht normal sein! Wenn dieses normal bedeutet, alle Gefühle zu unterdrücken, wegzutherapieren, nur damit sich die Menschen um mich herum bei meinem Anblick besser fühlen. Nein danke. Niemand fragt nach mir, wie es mir geht, warum sollten mich dann die Ansichten der anderen interessieren?“
„Tinka, Sie leben doch nun mal in einer Gesellschaft, da muss man sich anpassen. Nur so kann das hier funktionieren.“
„Ich will mich nicht anpassen. Ich will nicht so werden, wie die Gesellschaft es sich selbst vorschreibt. Verhaltensregeln, damit alle miteinander können. Egal ob einem ins Gesicht gelogen wird, hinten rum dafür gesorgt wird, dass jemand fertig gemacht wird usw. Ich finde nichts erstrebenswert in dieser Gesellschaft. Materielle Dinge bedeuten mir nichts, zumindest nicht, um mir Dinge anschaffen zu können, um diejenigen zu beeindrucken, die ich nicht leiden kann.“
„Wie stellen Sie sich denn Ihr Leben vor? Haben Sie denn keine Perspektive?“
„Herrgott noch mal, wieso sollte ich denn keine Perspektive haben? Nur weil sie nicht dem Standard der Angstköpfe entspricht? Ich gehe arbeiten, sogar gerne, wenn ich denn darf und nicht hier rumhängen muss und mich für mich und mein Leben rechtfertigen muss. Ich wünsche mir eine Familie mit Kindern und werde dies auch in Zukunft haben. So ein Leben ist ja wohl voll akzeptiert – stimmt’s?
Und vor allem, wünsche ich mir die Freiheit, mit meinem Körper und meinem Leben machen zu können, was ich möchte!“