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Die Wiege der Zeit

****ra Frau
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Die Wiege der Zeit
Im gleichmäßigen Rhythmus hallte das Ticken des großen schweren Pendels durch den Raum. Der große Zeiger rückte, wie seit ewigen Zeiten, auf die Zwölf und ließ dabei das volle, sonore Läuten der uralten Glocke vernehmen. Jeder Schlag glitt auf sanften Schwingen durch die staubgeschwängerte Luft. Die Bücher in den Raumhohen Regalen thronten majestätisch und erduldeten dieses akustische Schauspiel. Manche von ihnen bereits seit Jahrhunderten.

Balthasar, der betagte Bibliothekar, nahm den Zwicker von seinem Nasenrücken und rieb sich die Stelle, wo dieser Halt auf seiner Nase gefunden hatte. Er blickte auf die runde Anzeige der wundervoll verzierten Standuhr. Das Kreisrund ähnelte zersprungenem Porzellan, die schwarzen Zeiger darauf, als wären sie die Ursache für die Risse. „Acht Uhr bereits, mein Besuch wird sich doch wohl nicht verspäten?“ murmelte Balthasar. Ächzend erhob er sich aus dem Lehnstuhl, dessen abgewetztes, rotbraunes Leder leise knirschte, als sich das Gewicht des Sitzenden entfernte. Der Filzpantoffel des Alten glitt geräuschlos über den Parkettboden, der knarzend unter dem Gewicht nachgab. Der Alte hatte das Regal erreicht, an dem eine lange Leiter befestigt war, die mit Rollen versehen war, um damit an sämtliche Regale des halbrunden Raumes zu gelangen, die sich über Kopfhöhe befanden. Unterbrochen wurde Halbrund nur durch die lange Empore im oberen Stockwerk, die noch tiefer in das Gebäude verlief und endlose Regalreihen beherbergte.
Balthasar legte seine faltige Hand auf den Holm der Leiter, und ließ seinen Fuß auf der ersten Sprosse folgen. Ein Schritt folgte dem anderen, bis er den Standort des ersehnten Buches erreicht hatte. Der abgegriffene Ledereinband war eine Hand breit, das Gold der Lettern fast abgescheuert. Vorsichtig zog er das Buch zwischen den anderen hervor. Das leise Geräusch des Herausgleitens erklang in seinen Ohren wie liebliche Musik. Behutsam blies Balthasar über die obere Schnittkante und betrachtete lächelnd das Glitzern des davon wirbelnden Staubes. Das Heruntersteigen wurde vom steten Ticken der Standuhr begleitet, seine Schritte passten sich dem Fortgang des Zeigers an. Erneut nahm der Bibliothekar in seinem Sessel Platz, öffnete langsam das Buch und blickte hinauf zur Empore, in deren dunklen Winkeln sich die ältesten Bücher befanden, die die Menschheit jemals schuf.

„Oh, Mathilda, wie schön. Da bist du ja“ grüßte er die dort oben stehende Gestalt. „Komm, und gesell dich zu mir, erzähl mir, was dir in der Zwischenzeit widerfahren ist.“ Sanft lächelnd folgte Mathilda seiner Aufforderung und glitt schwebend die geschwungene Wendeltreppe hinab. Ihr weißes Kleid, das mit Rüschen bedeckt war, zeigte an einigen Stellen bereits gräuliche Verfärbungen. Das Mieder, das ihre Taille so schmal hielt, dass Balthasar sie mit seinen beiden Händen hätte umfassen können, lief vorne spitz zusammen und zerfloss in reifengespannten, weiten Röcken. Der schwere Damast streifte das gedrechselte Geländer der Treppe und das Rascheln, das dies erzeugte, kündigte an, dass sie die kleine Bank erreichte, die Balthasar gegenüber stand. „Bitte, nimm doch Platz“ ermunterte er Mathilda. Er beobachtet wie ihre zartgliedrigen Finger sittsam über ihren hinteren Teil des Kleides strichen, damit sie sich auf die Bank setzen konnte. Vornehm und edel, so wirkte Mathilda, und das schon seit ihrem ersten Zusammentreffen. Kerzengrade saß sie nun vor ihm aufgerichtet. Sein Blick glitt über das zierlich geschnittene Gesicht. Leicht herzförmig endete es im Kinn, das von dem hohen Kragen des Kleides gestützt zu werden schien. Er lächelte sie aufmunternd an, als er ihren Blick aus den veilchenblauen Augen bemerkte.

„Ach Balthasar“ seufzte sie, „ immer wieder freue ich mich, deiner Einladung nachkommen zu können, doch kann ich dir noch immer nichts Erfreuliches berichten. Seit dem Tod meines Gatten, du erinnerst dich – das Duell?“ Balthasar nickte grimmig schweigend. „Nun ja, ich werde wohl meinen Haushalt nicht mehr länger finanziell tragen können. Selbst wenn ich nun die Stelle als Näherin angenommen habe, doch wird es nicht reichen, für mich und die Kinder“. „Das betrübt mich Mathilda, sehr sogar. Ist niemand deiner Familie in der Lage, euch zu unterstützen?“ schlug Balthasar vor. Mathilda schüttelte den Kopf. Ihre langen Korkenzieherlocken bewegten sich mit der Bewegung ihres Hauptes. „Niemand. Seit dem bekannt wurde, weshalb mein Gatte zu diesem Duell aufgefordert wurde. Diese Schande möchte keiner in seiner Familie tragen. Die Frau des Herzogs, die meinen Mann verführte, lebt inzwischen wieder zufrieden bei ihrem Mann, der ihr wohl verziehen hat, nachdem er beim Duell erfolgreich war. Doch ich, die wahrlich nichts mit dieser Sache zu tun hatte, werde im Nachhinein für diesen Fehltritt meines Gatten bestraft.“ Mathilda hob ihre schweren Lider, die ihre großen Augen bedeckten und feucht schimmerten Tränen in ihrem Blick. „Ach Mathilda, meine Liebe. Ich fühle mit dir, fühle mich dennoch hilflos. Auch wenn es dir nicht viel Mut machen wird: die Frauen in ferner Zukunft werden es leichter haben, in solchen Situationen, auch werden die Männer nicht mehr allzu oft das Leben durch Fehltritte verlieren.“ Langsam erhob sich Balthasar, nachdem er das Buch auf den kleinen Beistelltisch abgelegt hatte und begab sich zu einem winzigen Sekretär, der in einer dunklen Ecke seinen Platz hatte. Balthasar’s linke Hand glitt über die hölzerne Verschnörkelung am oberen Rand und mit einem leisen Klicken fuhr eine kleine Lade aus dem scheinbar makellos glatten Holz hervor. Er zog einen kleinen Lederbeutel heraus und schob die Lade wieder zurück in ihre Unsichtbarkeit. Er blieb vor Mathilda stehen und hielt den Beutel mit Münzen über ihre Hände, die züchtig in ihrem Schoß lagen. „Nimm es, Mathilda. Mehr kann ich momentan leider nicht für dich tun. Doch glaube mir, wenn ich dich das nächste Mal einlade, wird es besser sein.“ lächelte er ihr zu. Traurig erwiderte Mathilda seinen Blick, schämte sich ein wenig als sie ihre Hand hob, um das Leder zu ergreifen. Ein silbriges Leuchten begleitete diese kurzfristige Berührung der Zeiten, dann erlosch es auch schon wieder. „Vielen Dank…..“ errötete sie, unfähig zu mehr Worten blickte sie zu Boden. Balthasar saß bereits wieder in seinem Sessel und hatte das Buch auf seinen Knien. Er lächelte noch immer, als er langsam das Buch schloss und beobachtete, wie Mathilda sich in sanften Schwaden auflöste. ‚Wie gern würde ich ihr von ihrem weiteren Schicksal erzählen‘ dachte er traurig. ‚Nur noch wenige Jahre, und das Glück läuft ihr über den Weg.‘ Dabei strich er gedankenverloren über den welligen Ledereinband des Buches. Erneut erhob er sich, um das Buch wieder zurück an seinen angestammten Platz zu stellen.

Wieder erfüllte das melodische Schlagen der Standuhr die Luft. Neun ineinander fließende Töne verkündeten, dass bereits eine volle Stunde vergangen war. „Es wird Zeit, ich muss mich ein wenig beeilen, mein nächster Gast ist weniger geduldig“ murmelte Balthasar. Auf der Suche nach dem Buch erinnerte er sich an das letzte Gespräch mit diesem Gast, der stets unter Strom zu stehen schien.
Balthasar fand den Almanach und nahm rasch Platz, um sofort den braun eingebundenen Buchdeckel zu öffnen. Ein Husten veranlasste ihn, in die Richtung zu blicken, aus der dieses Geräusch stammte. Auf der Empore stand ein korpulenter Mann, mit einer sehr hohen Stirn. Seine dunklen langen Haare, die seinen Ei-förmigen Kopf umrahmten, zeugten von einer gewissen Eitelkeit, sich nicht völlig der Kahlheit zu ergeben. Der silbergraue Anzug wirkte schmuddelig und ungepflegt, der Träger desselben lief unruhig auf und ab. „Benjamin, du machst mich nervös, bitte komm herunter!“ lautete Balthasar‘s Aufforderung an seinen Gast.
„Ihr seid der einzige Mensch, der mich in dieser vertraulichen Art ansprechen darf, und das wisst Ihr. Dennoch bin ich ungehalten darüber, dass ihr mich erneut zu Euch eingeladen habt. Stehe ich doch kurz vor dem Durchbruch meines nächsten Experimentes.“ „Ich weiß, Benjamin, ich weiß. Genau deshalb rief ich dich zu mir. Ich möchte dir ein wenig helfen…“ „Helfen? Ihr? Ha!“ stieß sein Gast unwillig hervor. „Wie wollt IHR mir denn helfen können? Sitzt hier zwischen all den toten Büchern und wollt mir gute Ratschläge geben.“ Verächtlich wandte er sich ab, um erneut über den knarzenden Holzboden hin und her zu laufen. Ruckartig zerrte er an der goldenen Kette, die über der Weste, die seinen mächtigen Bauch umspannte, baumelte und zog eine hübsch verzierte Uhr aus der kleinen Tasche. Er drückte auf die obere Vorrichtung und der Deckel sprang mit einem leichten Klacken auf. Noch immer hin und her laufend schnaubt er: „Ihr haltet mich auf. Warum stehlt Ihr meine Zeit? Was sollte ich von Euch schon erwarten können?“ „Mein Lieber, ich betrachte mich zwar nicht als dein Feind, doch stammt nicht der Spruch von dir, der von ein wenig Überwindung des Stolzes erzählt: Liebe deine Feinde, denn sie sagen dir deine Fehler.“
„Ja ja, ich kenne meine Worte. Dennoch bleibt es mir noch immer ein Rätsel wie Ihr mir helfen könntet. Ich bitte Euch, bringt es hinter Euch und sprecht es aus, was Ihr mir auch immer zu sagen habt.“ Balthasar seufzte, jedes Mal verliefen ihre Unterhaltungen ähnlich. Er würde sich wohl nie daran gewöhnen. Dennoch tat er seinem Gast den Gefallen und erklärte: „Bei deinem nächsten Experiment, dann, wenn du vorhast es auszuführen, nimm Deinen Sohn mit. Mehr verlange ich nicht von dir. Du wirst mir dankbar dafür sein. Vertrau mir!“
Benjamin blickte den Alten an, als hätte dieser mit seiner Äußerung bestätigt, geisteskrank zu sein. Daher entschloss er sich nachzugeben: „Wenn dies alles ist, was Ihr wollt? Mein Sohn begleitet mich bei vielen Experimenten, also werde ich ihn auch beim nächsten dabei haben. Das Wetter muss nur noch dementsprechend passen.“ „Ich weiß, Benjamin. So, nun entlasse ich dich, damit du dich an dein Werk begeben kannst.“
Bevor sein Gast sich noch verabschieden konnte, hatte Balthasar das Buch geschlossen und blickte erleichtert hinter den sich verziehenden Schwaden her. ‚Ich glaube ich werde alt‘ stöhnte Balthasar im Geiste ‚dieser Benjamin wird mir einfach zu anstrengend. Ich sollte mir für die nächste Zeit Gäste aussuchen, die weniger aufregend sind. Um Benjamin brauche ich mir keine Sorgen zu machen, er wird seinen Erfolg haben‘.

Kurz grübelte Balthasar darüber nach, ob der letztens vergessen hatte, das Buch wegzulegen, dann rief er:„Tom? Du kannst herauskommen. Wie oft habe ich dir schon erklärt, dass ich es nicht dulde, dass du dich hier herumtreibst, wenn ich nicht nach dir gerufen habe!“ Mehr Feststellung als Frage, rief Balthasar diese Worte durch den Raum. Mit rot angelaufenem Kopf trat ein sommersprossiger Junge in zerrissener Kleidung hinter dem letzten Bücherregal auf der Empore hervor. Seine nackten Füße platschten leise, als er sich zur Treppe bewegte. Mit einem frechen Grinsen schwang er sich auf den Handlauf der Treppe und rutschte mit quietschenden Geräuschen, die seine klammernden Hände verursachten, hinab zu Balthasar. Unten angekommen richtete er sich auf, kratzte sich durch das strubbelige rote Haar und starrte zu Boden. „Tschulligung, ich war doch so neugierisch“ nuschelte Tom. „Ich weiß, Tom. Nun wo du hier bist, gibt es was zu berichten?“
Wieder kratzte sich Tom am Kopf und flüsterte: „Gestern Nacht auf dem Friedhof. Da ham wir was beobachtet. Ich wollt mich nur verabschieden, denn wir werden jetzt Piraten und auf der Jackson-Insel leben. Alles andere is zu gefährlich.“ Ängstlich blickte Tom über die Schulter. „Tom, du weißt, wie ich denke; so wie du handelt, wird es geschrieben stehen. Also tu es, ich wünsche dir viel Glück, und vielleicht besuchst du mich bald, auch wenn du Pirat geworden bist.“ Leicht verwirrt blickte Tom den alten Mann an, er verstand selten, was dieser sagte und schon gar nicht konnte sich Tom vorstellen, dass er etwas schreiben würde. Er blickte hinter Balthasar her, der nach einem dünnen Band griff, der offen auf dem Schreibtisch gelegen hatte. „Bis bald, Tom und grüße Polly von mir“ und mit diesen Worten schloss er das Buch. Erneut seufzte er, als er zusah, wie Tom sich auflöste.
‚So jung und unbeschwert, erfrischend und dennoch werde ich immer wehmütig, wenn ich ihn vor mir habe‘ dachte Balthasar über diese Begegnung. ‚Wie konnte das nur passieren, dass ich dieses Buch habe offen liegenlassen‘? grübelte er noch kurz weiter, während er es an seinen Platz im unteren Regal zurückschob.

Seine Gelenke knackten entrüstet, als er sich wieder aufrichtete. Er bewegte seinen Kopf ein wenig nach hinten im Versuch, sich einzurenken, dabei fiel sein Blick auf einen zerfledderten Buchrücken. Schmutzig und grau schimmerten die gebundenen Seiten durch das dünne Leinen, das sie kaum mehr zusammenhielt. „Na sowas“ schimpfte Balthasar. „Wie konnte ich dies nur übersehen? So alt ist dieses Buch doch gar nicht“ doch dann fiel ihm ein, dass dies die Originalausgabe war, die er von Victor persönlich erhalten hatte. „Herrje, wie konnte ich sie nur derart verkommen lassen“ schimpfte er sich. Sorgfältig legte er seine Finger um das fragile Dokument und zog es zwischen den anderen Bänden hervor. Gedankenverloren strich sein Daumen über die in den Deckel geprägte Abbildung der Kathedrale.
Er begab sich in seinen Sessel und überlegte, ob er den Buckligen zu sich rufen sollte. Er war ebenfalls anstrengend. Nicht so wie Benjamin in seiner Ungeduld, dafür aber durch seine fast völlige Taubheit. Ein Schauer überfuhr ihn, als er sich entschloss, den Buchdeckel zu öffnen.
Ein unheimliches Grunzen schallte durch die Regalreihen der Empore. Gefolgt von einem Rumpeln und ungleichmäßigen Schritten unterlegt mit Schlurfen. Ein paar Bücher polterten zu Boden und Balthasar verlor die Geduld. „Komm sofort herunter. Lass das!“ befahl er seinem neuen Gast. Nebenbei ertönte das beruhigende Schlagen der Standuhr. Elf Uhr. Balthasar legte das zerschlissene Buch offen auf den kleinen Beistelltisch um die Kerze, die in dem schweren Kerzenständer neben seinem Sessel wartete, zu entzünden. Zuckende Schatten huschten sofort über die Rücken der Bücher, vergoldeten seine Schätze. Ein Schnaufen kündigte seinen Gast an, der sich hinter dem Treppengeländer zu verbergen versuchte. „Komm zu mir“ sprach Balthasar nun etwas sanfter, beim Anblick der ängstlich kauernden Gestalt. Mit eingezogenem, zur Seite geneigten Kopf und aufmerksamen Blicken näherte sich sein Gast. Vor Balthasar sank er zu Boden und kniete zu seinen Füßen. Warm lehnte dieser deformierte Körper am Bein des Alten. Da er dies bei jedem seiner Besuche tat, versuchte Balthasar nicht mehr, ihn davon abzubringen. Sein Gast fühlte sich wohl und nur so kam es ein wenig zur Konversation. „Sei so gut, erzähl mir von ihr“ bat Balthasar. Ein Rucken durchfuhr den Buckligen, als er ihren Namen aussprach. „Esmeralda“ lispelte er. „sie ist so schön“ und ein Leuchten glitt über seine entstellten Gesichtszüge. „Ja mein Freund, ich weiß. Ich bin immer wieder überrascht, wenn sie mich besucht, von welch überwältigender Schönheit sie ist.“ entgegnete Balthasar.
Leicht eifersüchtig spie ihm sein Gast entgegen: „Aber sie liebt dich nicht! Sie liebt nur Phoebus. Ich muss sie beschützen. Meister Frollo ist böse. So böse.“ Den letzten Satz flüsterte er leise und ängstlich. „Ich weiß, aber auch du musst dich vorsehen, mein mutiger Freund.“ flüsterte Balthasar wehmütig, und wagte es sogar, seine Hand auf den kahlen Schädel seines Gastes zu legen, ihn vorsichtig zu streicheln. Dieser zuckte erschreckt zurück. Glaubte er doch mit der nächsten Berührung geschlagen zu werden. Anders kannte er es nicht. „Geh lieber, geh zu ihr und beschütze sie. Du bist ein guter Mensch“ sagte Balthasar leise und schloss das Buch. Der verschwundene warme Körper hinterließ nun eine fröstelige Kälte an seinem Bein. Er stand auf um das Buch auf den Tisch zu legen, auf dem die reparaturbedürftigen Exemplare darauf warteten, wieder restauriert zu werden. So langsam würde er diese Arbeit angehen müssen, dachte er.

Langsam schritt er die endlosen Reihen der Bücher ab. Stolz und Ehrfurcht erfüllten ihn beim Anblick dieser Seiten, die Jahrtausende gefangen hielten. Jederzeit konnte er eintauchen in vergangene Zeiten, in Erinnerungen versinken.
Der erste Glockenschlag, der Mitternacht ankündigte, hallte in seinem Kopf. Unbewusst zählte er mit, während er auf seinen Sessel zusteuerte. Es wurde kälter im Raum, ein eisiger Wind blies von der Empore herab und löschte das warme Licht der Kerze. Ein bläuliches Schimmern drang durch die Reihen der Regale auf der Empore. Balthasar schüttelte sich vor Kälte, das Leder seines Sessels fühlte sich an, als wäre es eine Oberfläche aus Eis.
Ein riesiger Foliant löste sich aus der obersten Reihe, an die sich Balthasar nur selten wagte. Getragen auf dem blauen Licht durchquerte das fast armlange Buch den Raum, um sanft aber schwer auf seinen Oberschenkeln zu landen. Er schauderte, als seine Finger den Einband berührten. Wusste er doch nur zu genau, aus was dieser Einband bestand. Normalerweise wurde das Leder aus Schweinen hergestellt, doch dieses Leder bestand aus der Haut der Lebewesen, die es gelernt hatten, sich diese Tiere Untertan zu machen.
Kalter Schweiß lief über seinen Rücken, seine Finger zitterten, als er die untere Ecke ergriff, die in einem goldenen Dreieck zum Schutz vor Stößen eingefasst war, um den schweren Deckel zu öffnen.
Sofort erklangen laute, schwere Schritte von der Empore herab. Balthasar schloss für einen kurzen Moment die Augen, um sich zu sammeln. Nur äußerst selten kam dieser Besuch, und wenn, dann immer unangekündigt. Noch nie hatte er diesen Besucher einladen können, geschweige denn, ihn verschwinden lassen.
Balthasar spürte, wie eine bleierne Schwere von seinen Füßen aufstieg und bereits in Kniehöhe angelangt war. Unfähig sich zu erheben, harrte er aus. Er spürte seinen Atem in die Nase dringen, vermischt mit einem leichten Nebengeruch, der Schwefel sehr nahe kam. Eine üble Begleiterscheinung dieses Gastes. Tiefes, hämisches Gelächter hallte durch den Raum, der plötzlich viel größer erschien als vor wenigen Minuten. Balthasar hielt noch immer die Augen geschlossen, lauschte den Geräuschen, die sich ihm näherten. Sein Puls begann zu steigen, dennoch fraß sich die Kälte weiter durch seinen Körper. Der Foliant auf seinem Oberschenkel begann sein Eigenleben und fing an fingerbreit über seinen Beinen zu schweben. Unwillkürlich öffnete Balthasar seine Augen und er beobachtete das dargebotene Schauspiel. Die Seiten begannen knisternd umzublättern. Balthasar nahm den Geruch des Pergaments wahr, welches nicht die Struktur des üblich bekannten Pergaments trug.
Auch dieses, hauchdünne Material bestand aus demselben, wie der Einband. Tiefrote Schriftsymbole leuchteten auf, schreckliche Abbildungen, die ihr eigenes Leben führten. Jede Abbildung veränderte sich. Jedes Bild war in Bewegung, schien lebendig zu sein. Eine Abbildung zeigte eine Verbrennung, das Opfer erlitt dieselbe Pein des eigenen Todes wieder und wieder. Balthasar wünschte, die Seite würde endlich weiterblättern, doch quälte sie ihn für unendliche Augenblicke weiter. Die Schreie des Verbrennenden hallten durch seinen Kopf.

Plötzlich wurde das Buch mit einem heftigen Ruck zugeschlagen. Balthasar zuckte zusammen, soweit sein versteinerter Körper noch dazu in der Lage war. Erschrocken blickte er auf. Vor ihm ragte eine riesige Gestalt auf. Mehr als zwei Meter groß, schätzte Balthasar den Mann, der auf ihn herabblickte. Lange schwarze Haare, ein kantiges Gesicht, das von zwei dunklen Augen beherrscht wurde. Ein breiter Brustkorb mit passenden Schultern, die kaum durch einen üblichen Türrahmen passen dürften. Der durchtrainierte Körper war eingepackt in schwarzer Kleidung. Eng lag das Shirt über dem muskelbepackten Oberkörper, der in einer engen Jeans endete. Darunter schwarze Lederstiefel, von denen Balthasar hoffte sie wären aus dem üblichen Leder. Ebenso der bodenlange Ledermantel.
„Alter Mann!“ dröhnte es aus dem Mund des Riesen. „Willst du mich nicht begrüßen?“ fragte er hämisch und nahm das Buch an sich, um es dabei zu beobachten, wie es an seinen Platz im Regal zurückkehrte. Wieder wandte er sich Balthasar zu, der noch immer um seine Stimme rang. „Nun?“ knurrte der Hüne und seine dunklen Augen schlossen sich zu glühenden Schlitzen. „Ich…“ krächzte Balthasar, „… heiße dich willkommen.“ Ein Husten schüttelte seinen Körper. „Würdest du mir mitteilen, mit wem ich die Ehre habe? Ich habe dich noch nie gesehen!“ keuchte er.
Ein kehliges Lachen durchflutete die Bibliothek. „Michelangelo, so darfst du mich nennen. Mein Gebieter bevorzugt diese Art der Namen. Als dunkler Engel gebührt mir ein solcher Name. Leider ist mein Gebieter verhindert, selbst bei dir zu erscheinen. Er beklagt sich über zu wenig Zeit. Deshalb schickt er mich zu dir. Du würdest in den letzten Jahrhunderten sehr müßig mit diesem Gut umgehen. Sie an Gestalten verschwenden, deren Auftauchen nicht unbedingt nötig sei.“ Ein wütender Blick streifte Balthasar, doch regte sich in ihm Trotz: „Michelangelo, so so. Sein letzter Gesandter hieß Leonardo.“ Er schaffte sogar ein amüsiertes Lächeln. „Dein Gebieter beschwert sich also über zu wenig Zeit?“ fragte er schnell weiter, um den Riesen nicht noch weiter zu verärgern.
Dieser nickte nur ungeduldig und verschränkte seine mächtigen Oberarme vor seinem Brustkorb. Lässig lehnte er an einem der Regale und blickte wartend auf den Alten herunter. Der Bibliothekar räusperte sich: „Ich werde nicht ständig auf Zuruf deines Gebieters handeln. Er sollte sein Anliegen persönlich vortragen.“ sprach er mutig den Riesen an. Die Luft im Raum wurde noch kälter, eine eisige Hand schien sich um Balthasar‘s Kehle zu schließen. „Alter Narr“ brüllte der Hüne. „Was glaubst du, wer du bist? Mein Gebieter duldet deine Spielereien nur, weil er Respekt vor deiner Macht hat. Die Macht, der Zeit zu gebieten. An dir liegt es, meinem Gebieter einen Gefallen zu tun, oder er wird dir dein Dasein für die verbleibende Ewigkeit verderben. Dass er dazu in der Lage ist, brauche ich dir nicht zu erläutern.“ drohte der Ledermann weiter.
Balthasar schluckte schwer. Langsam löste sich der Griff um seinen Hals: „ Gib mir den Folianten!“ befahl er heiser dem Gesandten. Dieser blickte den zähen Alten auf seinem Sessel an, streckte seinen rechten Arm nach hinten aus, öffnete seine Finger und der große Foliant glitt leise aus dem Regal zurück in die lederbehandschuhte Pranke. „Hier. Und fang an!“ knurrte Michelangelo, als er den Folianten auf Balthasar‘s Schoß legte. Der alte Mann stöhnte unter dem Gewicht leise auf, und sah zu, wie es erneut begann sich von alleine zu öffnen, die Seiten umzublättern. Die roten Lettern glitten an seinen Augen vorbei, das Bild der Verbrennung mit den schrecklichen Schreien, weitere Greueltaten, bis zur ersten leeren Seite.

Der Federkiel und das Tintenfass befanden sich auf dem Beistelltischchen. Nach diesem Kiel griff Balthasar und blickte den schwarzen Engel herausfordernd an. „Und nun – reiche mir die Tinte!“ befahl er dem Engel. Unverzüglich schob dieser den Ärmel seines Mantels bis hoch zum Ellbogen. Griff hinter sich, in den Gürtel seiner Jeans und zog einen schwarzen, gewellten Dolch hervor, den er ohne zu zögern in sein nacktes Fleisch des Unterarmes stieß. Schwarzes Blut quoll hervor, das in der riesigen Faust des Engels anfing sich zu sammeln. „Fang an!“ befahl Michelangelo. Ein wenig geschockt starrte Balthasar auf das zähe Blut, das die Handfläche des Engels langsam füllte. Dann tauchte er die Feder in das dunkle Blut und begann den ersten blutroten Buchstaben auf das Pergament zu kratzen, um die Zukunft für viele weiter Jahrhunderte festzulegen…..
*******day Frau
14.250 Beiträge
In die Bibliothek gehe ich nicht.... *angsthab*
****ra Frau
2.916 Beiträge
Themenersteller 
sylvie *zwinker*

geht ja auch nur auf Einladung... und wenn Dein Buch einmal aufgeschlagen ist, biste drin *fiesgrins*
*******day Frau
14.250 Beiträge
Als ob ein blutarmer, seniler Bibliothekar was über mein Leben wüsste *haumichwech*

Zum Glück bin ich echt *schwitz*
Ich habe schon lange nicht mehr so etwas Gutes gelesen!

Es hat mich vom ersten bis zum letzten Wort gefesselt. Danke dafür!

Die meisten Personen konnte ich gut zuordnen, aber wer bitte sind Mathilda und Benjamin? Da will mir absolut nichts zu einfallen.

Luna
****ra Frau
2.916 Beiträge
Themenersteller 
Luna *zwinker* also, Deine Frage zu Mathilda hat mich animiert, einen weiteren Text zu verfassen. Dazu sei gesagt, dass Mathilda eine fiktive Person ist, die ich hier geschaffen habe.

Benjamin allerdings ist äusserst real. Ich lass Dich noch ein wenig grübeln *zwinker* vielleicht hilft Dir ja der Hinweis auf den Blitzableiter *gg*

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Wer ist Mathilda?


Ein einziger Schuss, noch nicht mal unbedingt erschreckend laut, beendete das kurze Leben des Alfonse. Die Kugel aus der Pistole seines Gegners steckte tief in seiner Brust, veranlasste seinen Lebenssaft, aus dem verletzten Körper zu fließen. Steif durch den Schock blickte Alfonse an sich herab und betrachtete bestürtzt den roten Fleck auf seinem weißen Hemd, der sich rasch ausbreitete. Als er seinen Blick hob und das Gesicht des Herzogs sah, wurden ihm die Knie weich und er verlor jegliche Kraft. Seine Duellpistole entglitt seiner schlaffen Hand und plumpste mit einem gedämpften Geräusch in das weiche Gras.
„NIE! NIE! Werdet Ihr das bekommen, was mir gehört. Wie konntet Ihr es überhaupt wagen, meine Frau auch nur anzusehen, Euer Stand erlaubt noch nicht einmal verbalen Kontakt zu einer Frau ihres Standes. Hiermit wurde der Gerechtigkeit Genüge getan. Das Recht wieder hergestellt. Ihr werdet diese Welt für immer verlassen. Eure Familie und vor allem Eure Frau jedoch, werden für den Rest ihres Lebens für Eure Schande büßen.“! brüllte der rotgesichtige, feiste Herzog und reichte mit einer übermütigen Geste dem Sekundanten seine Waffe, der diese in den mit grünem Samt ausgeschlagenen Koffer zurücklegte. Mit einem verächtlichen Blick auf den inzwischen zu Boden gesunkenen Alfonse, bestieg der Herzog mit Schwung sein Pferd und gab ihm die Sporen. Alfonse’s Blut tränkte ungehindert den Boden des Bois de Boulogne. Verschwommen tauchten Bilder seiner Kinder und vor allem von Mathilda in seinem Kopf auf. Was würde nun aus ihnen werden? Doch nun war es zu spät, darüber nachzudenken. Alfonse spürte das Leben aus seinem Körper entweichen, das seine Verzweiflung packte und hinwegspülte.

Nur wenige waren zur Beerdigung erschienen. Mathilda stand mit ihren beiden Söhnen am bereits geschlossenen Grab ihres Gatten. Der Pfarrer hatte sich, nachdem er Mathilda ein wenig getröstet hatte, zurückgezogen. Die wenigen anderen Teilnehmer blickten sie teils mitleidig, teils strafend an. Niemand näherte sich ihr, um ihr Beileid zu spenden. Rasch drehten sie sich um und verschwanden. Mathilda konnte nur erahnen, was nun auf sie zukommen würde. Ihre Söhne ergriffen jeder schweigend eine ihrer Hand. Mathilda spürte die kleinen kalten Finger in ihren, blickte sie mit feuchten Augen an und führte sie vom Friedhof nach Hause. Ihr schien es, als würden alle Menschen, denen sie begegnete, wissen, was ihr widerfahren war und sie klagend anblicken.

Leise betraten sie das Haus und zogen sich in ihre Zimmer zurück. Mathilda saß über ihrer Näharbeit und hatte den Kopf in ihre Hände gestützt. Noch immer wollten ihre Tränen sich nicht lösen, um den Schmerz aus ihr zu lassen. Hartes Klopfen an der Tür hallte durch den Raum und ließ sie zusammenfahren. Rasch strich sie sich über das Kleid und ihr Haar bevor sie die Tür öffnete. Sie erkannte in der Person, die vor ihr stand, den Bediensteten des Herzogs. “Hier!“ spie er angewidert aus, „das ist alles, was von deinem schändlichen Gatten übrig ist. Die Herzogin lässt dir dies schicken.“

Mathilda streckte ihre Hände nach dem Bündel aus, doch bevor ihre Finger es erreichen konnten, ließ der Bote es zu Boden fallen. Laut lachend wandte er sich ab und verließ das Haus. Mathilda bückte sich, nahm das Bündel an sich und schloss leise die Tür hinter sich. Sie schob ihre Näharbeiten zur Seite, um das Bündel auf der zerkratzten Tischplatte abzulegen. Ihre zitternden Finger öffneten den Knoten des Sisalseiles und schon fielen die Seiten des Stoffes auseinander. Erneut stiegen Tränen in ihren Augen hervor, als sie das blutige Hemd ihres Gatten erkannte. Seine Kleidung, die er am Morgen des Duells so sorgsam auswählte und trug als er sein Leben aushauchte. Vorsichtig strich sie über den dunkelbraunen Fleck, der in Herzhöhe prangte. Trocken und hart war das Gewebe, getrocknet das letzte, was ihr Mann lebend hinterlassen hatte.
Mathilda drückte es zärtlich an ihre Lippen, küsste das, was ihren Mann bis zum Schluss berührte. Dann packte sie es sorgfältig in das Bündel um es für immer in einer Truhe zu verwahren. Das würde ihr niemand mehr nehmen können. Nun musste sie sich wieder an die Arbeit machen. Ihr wuchsen, seit dem Tode Alfonse's, die Kosten über den Kopf, ihr wurde klar, dass sie sich bald mit ihren Söhnen eine neue Unterkunft würde suchen müssen, da dieses Haus nicht mehr tragbar für sie war.
Traurig erinnerte sie sich an die Zeit, in der sie dieses wunderschöne Haus bezogen. Alfonse freute sich so sehr, seiner Familie ein großes, anständiges Heim, in einer ruhigen Gegend bieten zu können. Dafür arbeitete er jedoch hart als Wachsoldat auf dem Anwesen des Herzogs.
Der Herzog – Mathilda wollte nicht weiter darüber nachdenken, was dann irgendwann passiert sein musste. Seine einmalige Liebelei mit der Herzogin, das Auffliegen, die Herausforderung zur Satisfaktion durch die Sekundanten und bereits für den nächsten Morgen die Festlegung des Duells. Ein Verhandeln schloss der Herzog aus, somit war das Schicksal besiegelt.

Nun saß Mathilda hier. Allein, verlassen von allen, von denen sie glaubte, sie wären ihre Freunde, Bekannte. Ja sogar ihre Familienmitglieder wandten sich von ihr ab. Eine schreckliche Schmach lastete auf ihr, obgleich sie selbst unschuldig war.
Seufzend erhob sie sich, sah nach ihren Söhnen, um sie für das Abendessen vorzubereiten. Mathilda kleidete sich selbst um, nachdem sei ihre Kinder der kleinen Anzüge entledigt hatte. Sie trug jetzt ein altes Kleid, dessen Weiß inzwischen einen gräulichen Schleier angenommen hatte. Ihre Bediensteten musste sie entlassen, so machte sie sich nun selbst an die Arbeit in der Küche.
Sie wollte soeben die Tür der Küche öffnen, als der Raum vor ihr verschwand, sich wabernd auflöste.

Sie hörte einen Glockenschlag der Standuhr, die ihr inzwischen so vertraut war und nach kurzem Blinzeln fand sie sich auf der Empore der Bibliothek von Balthasar wieder. Sofort drang der unverwechselbare Geruch dieses Raumes in ihre Nase. Das alte Pergament, Staub, verbranntes Wachs und Gerüche, die sie einfach nicht zuordnen konnte. Balthasar saß, wie immer wenn sie kam, in seinem hohen Sessel, mit einem aufgeschlagenen Buch auf den Beinen. Die Lehne des Ledersessels überragte seinen Kopf und endete in einer kronenähnlichen Wölbung. Mit einem sanften Blick rief er ihr zu:
„Oh, Mathilda, wie schön. Da bist du ja, Komm, und gesell dich zu mir, erzähl mir, was dir in der Zwischenzeit widerfahren ist.“ Mathilda lächelte, nachdem sie zu sich gefunden hatte und begab sich zur alten Wendeltreppe. Schritt für Schritt näherte sie sich dem alten Mann. Der Bibliothekar forderte sie auf, Platz zu nehmen und sie folgte dieser Aufforderung gerne. Sie strich über ihr Kleid, bevor sie sich auf die kleine Bank gegenüber Balthasar’s Sessel niederließ. Sie betrachtete ihn, wie er sie musterte. Ein wenig schämte sie sich für ihre verschlissene Kleidung und versuchte in seinem Gesicht zu lesen, was er dachte. Balthasar hatte schlohweiße Haare, die sich weich um seinen Kopf legten. Hinter dem runden Zwicker blickten weise, himmelblaue Augen hervor. Seine welke Haut war übersät mit den typischen dunklen Flecken, die alten Menschen eigen waren. Mathilda stellte fest, dass sie nicht wusste, wie alt Balthasar war. Manchmal, wenn er lächelte, schien er nicht älter als ein zehnjähriger Junge zu sein und erinnerte sie in diesem Moment schmerzlich an ihren ältesten Sohn. Dann wiederum, wenn er ihr gebannt lauschte, blitzte eine Weisheit vieler Jahrhunderte in seinen Augen auf.

Nach einem tiefen Seufzen begann Mathilda von ihrem Leid zu erzählen und bemerkte Balthasar’s grimmigen Blick, während er lauschte. Beschämt blickte zur Seite, als Balthasar fragte, ob sie denn nicht von ihrer Familie unterstützt werden könne. Sie fühlte wieder diese Leere und die Schande, für den Fehltritt von Alfonse nun den Rest ihres Lebens darunter leiden zu müssen. Balthasar versuchte sie zu trösten, doch konnte sie seinen Worten nicht ganz folgen:“ Ach Mathilda, meine Liebe. Ich fühle mit dir, fühle mich dennoch hilflos. Auch wenn es dir nicht viel Mut machen wird: die Frauen in ferner Zukunft werden es leichter haben, in solchen Situationen, auch werden die Männer nicht mehr allzu oft das Leben durch Fehltritte verlieren.“
Mit diesen Worten erhob sich der Bibliothekar und Mathilda beobachtete ihn auf dem Weg zu dem wunderschön verzierten Sekretär in der hintersten Ecke des Raumes. Leise tickte die Standuhr, deren Schwingungen die Luft erfüllte. Balthasar’s Hand glitt über das kleine Möbelstück und entnahm ihm etwas, das Mathilda nicht erkennen konnte. Ein schabendes Geräusch und schon kehrte Balthasar zu ihr zurück. Kerzengrade saß sie auf der kleinen Bank, ihre Hände lagen in ihrem Schoß, bis er ihr einen kleinen Lederbeutel hinhielt, den er ihr lächelnd anbot: „Nimm es, Mathilda. Mehr kann ich momentan leider nicht für dich tun. Doch glaube mir, wenn ich dich das nächste Mal einlade, wird es besser sein.“ Wieder verstand sie den Sinn seiner Worte nicht völlig. Ihre Hand schloss sich um das weiche Leder, und die schweren Münzen, die sich darin verbargen, schmiegten sich in ihre Handfläche.
Das unwirkliche Leuchten, das sich jedes mal einstellte, wenn sie sich berührten, umglühte den kurzen Augenblick, als sie durch den Beutel verbunden waren, um so rasch, wie es erschien, wieder zu verschwinden. „Vielen Dank..“ brachte Mathilde nur hervor und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg und blickte zu Boden. So bemerkte sie nicht, dass Balthasar bereits wieder in seinem Sessel Platz genommen hatte und das Buch langsam schloss. Als sie ihren Blick heben wollte, verschwamm das warme Dunkel der Bibliothek und Balthasar verschwand in einem verzerrenden Nebel, blieb zurück im Raum ohne Zeit.
Dahinschmelz-----
Mehr!!!!!!! *zugabe* laf
****ra Frau
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Fortsetzung
Die Wiege der Zeit 2

Die Kälte hatte bereits seinen Nacken erreicht, so dass Balthasar zu kaum mehr Bewegungen fähig war, als die seiner schreibenden Finger. Der Engel hatte sein Blut in das Tintenfass laufen lassen, damit er sich wieder frei bewegen konnte. Nun lehnte er mit seiner breiten Schulter am Holz des Regals und beobachtete den alten Mann ganz genau. „Diesmal wünscht mein Gebieter jedoch etwas mehr Freiraum in seinem Wirkungskreis. Du schränkst ihn jedes Mal zu sehr sein bei der Vergabe der Zeit.“ erklang die raue Stimme des Engels.
Als Balthasar versuchte seinen Kopf anzuheben, um Michelangelo ins Gesicht zu sehen, verhinderte ein tonnenschweres Gewicht auf seinem Hinterkopf diese kleine Bewegung.
„Schreib! Lass dich nicht abhalten.“ herrschte ihn der Engel an. Balthasar versuchte eine Äußerung über seine Lippen zu bringen, doch außer einem Krächzen verließ kein weiterer Laut seine Lippen. „So ist es Recht.“ lachte der Hüne und begann ein wenig umherzulaufen. Seine schweren Stiefel erschütterten den Parkettboden, dessen Schwingungen Balthasar bis zu seinem Sessel wahrnehmen konnte. Respektlos ließ der Engel seinen in Leder verpackten Zeigefinger über die Buchrücken gleiten. Balthasar blickte ihm nach und spürte kalten Schweiß aus seinen Poren brechen. „Wer hat dir erlaubt aufzuhören?“ fragte Michelangelo, ohne sich umzudrehen.
Sofort sank Balthasar’s Kopf über den Folianten und die Feder kratzte neue, schreckliche Ereignisse der Zukunft in das uralte Pergament. „Wie…“ Balthasar hustete und räusperte sich und hob erneut zur Frage an: „Wie weit soll ich schreiben?“ erklang seine müde Stimme. „Nun, die Hauptsache ist, dass du meinem Gebieter diesmal mehr Freiräume geschenkt hast. Er benötigt mehr Gelegenheiten, seine Werke unter die Menschen zu bringen. Außerdem, wenn es nicht reichen sollte, erhältst du eben öfters Besuch eines Engels“ lachte Michelangelo grausam.

„Das Böse – es geht nur um das Böse, das auf die Erde gebracht werden soll…. „ protestierte der Bibliothekar schwach. „Schweig“! brüllte der Engel und drehte sich auf seinem Absatz schwungvoll zu dem alten Mann herum. Seine lauten Schritte waren unterlegt mit dem Zorn, der sich auch in seinem Gesicht widerspiegelte. „Mein Gebieter hätte nie diese Macht, würden die Menschen nicht dafür sorgen, Platz für ihn zu schaffen. Außerdem sind diese Erdbewohner tief in ihrem Inneren sowieso alle verdorben und grausam. Nur weil du dich hier mit den Exemplaren auseinandersetzt, die angenehm für dich sind, bedeutet es nicht, dass nicht auch das Gegenteil existiert.“

Michelangelo streckte ungehalten die rechte Hand in Richtung des Schreibers und mit einem lauten Knall schloss sich der Foliant. Staub wirbelte aus den Seiten auf, Balthasar begann zu husten. Langsam erhob sich der Foliant von seinen steifen, tauben Beinen und schwebte langsam zurück an seinen Platz in der oberen Regalreihe. Balthasar’s Blick folgte dem unheilvollen Buch, zu mehr war er nicht fähig. Die eisige Kälte hatte seinen Körper noch immer gelähmt, einzig sein rechter Arm war in der Lage, langsame Bewegungen auszuführen.
„Du erwartest wohl keinen Dank, alter Mann“ lachte Michelangelo böse. Balthasar erwiderte dies mit einem schwachen Lächeln und schüttelte seinen Kopf soweit es möglich war. „Wir werden uns wiedersehen, es hängt nur davon ab, wie zufrieden mein Gebieter mit deiner geleisteten Arbeit ist. Vergeude die kostbare Zeit nicht mit deinen Träumereien an vergangene Zeiten und an romantische Helden. Hier – wie wäre es denn mal damit?“ gröhlte Michelangelo lauthals lachend und zog ein Buch aus einem Regal. Mit Schwung warf er es durch die Luft, welches auf Balthasar’s Oberschenkel landete, während Michelangelo in einer zischenden Schwefelwolke verschwand.

Bestürzt betrachtete der Bibliothekar, wie die Seiten blätterten und dann zur Ruhe kamen. Auf der Empore waren schnelle Schritte zu hören, welche sich der Wendeltreppe näherten. Balthasar glaubte sein Herz würde explodieren, als er sah, wer dort jetzt gemäßigten Schrittes, die Stufen herunterkam. Mit schmeichelnder Stimme säuselte der Gast: „ Ich sehe, Sie warten bereits auf mich? Äußerst angenehm. Ich lass mich gerne zum Essen einladen und hoffe, es ist schon angerichtet?“ Balthasar starrte auf den kleinen Mann, der langsam und mit einem hypnotischen Blick näher kam. Noch immer war Balthasar zu keiner Bewegung fähig. Er fühlte sich wie ein Lamm auf der Schlachtbank. Seine Stimme gehorchte ihm nicht und so konnte er nur stumm seinem Gast entgegenblicken.
Dieser schlich um den Sessel, auf dem Balthasar wie angewachsen saß. Die Augen des Alten drehten sich im Kopf, um den Gast im Blick zu behalten, doch war es kaum möglich, so hoffte er, dieser würde sich bald wieder in sein Blickfeld begeben. Das Gewicht des Buches machte sich langsam bemerkbar, nahm Balthasar wahr, also kehrte sein Gefühl langsam zurück, die eisige Kälte begann zu weichen. Dennoch ging es viel zu langsam für Balthasar. Sein Gast stand nun vor ihm. Groß war er nicht, doch in seinem runden Gesicht herrschte dieser intelligente und doch grausam stierende Blick, dem niemand lange standhalten konnte.

Balthasar’s Puls raste, als er versuchte seine Hände auf das Buch zu legen. „Vergessen Sie es, ich bin doch extra hergekommen, um mit Ihnen zu speisen. Ich weiß, dass Ihnen bekannt sein dürfte, welche Speisen auf meinem Plan stehen. Sie möchten doch sicher einen geladenen Gast nicht enttäuschen?“ Speichel begann aus dem Mundwinkel des Gastes zu laufen, den diese mit einer ungeduldigen Geste abwischte. Balthasar verzweifelte an seiner Unbeweglichkeit und fixierte den Besucher weiterhin aus weit aufgerissenen Augen. Der kleine Mann langte in das Regal, in dem sein Buch vorher gestanden hatte und zog eine scharfe lange Klinge hervor. „Das ist mein Werkzeug, mit dem ich bisher jede Nahrung zubereitet habe. Und jede einzelne davon hat mir gemundet. Besonders mit edlen Weinen.“ flüsterte er und sein Daumen strich über die scharf geschliffene Klinge des Messers. Ein dünner Blutfaden lief über die Haut herab, doch der Gast bemerkte dies nicht.
Er war damit beschäftigt, Balthasar von oben bis unten zu taxieren, wie ein dargebotenes Opfertier, als er gemächlich auf ihn zulief. In Balthasar’s Kopf pulsierte sein Blut, ein Wasserfall schien darin zu rauschen. Sein Gast war nur noch wenige Meter von ihm entfernt, und er wusste, was auf ihn zukommen würde, hätte dieser ihn erreicht. ‚Nein, nein’ schrie der Überlebenswille in Balthasar. ‚Wach endlich auf, beweg dich, rühr dich’ zwang sich der Bibliothekar. Nur noch wenige Schritte war der Besucher von ihm entfernt, langsam hob dieser die Klinge, während sein Kopf sich langsam senkte, wie bei einem Tier, das sich auf den Angriff vorbereitete. Die rot geäderten Augen fixierten weiterhin den alten Mann, was dem Gesicht die Ähnlichkeit einer Fratze verlieh.
Panik stieg in Balthasar auf. Er wusste weshalb er manche Bücher nie öffnete, oder nur an Stellen, von denen er wusste, was dort geschah. Dieses Buch gehörte definitiv zu der Sorte, die er nie öffnen würde, freiwillig nie. Der Besucher stand jetzt direkt vor ihm, Balthasar konnte den unangenehmen Schweißgeruch des untersetzten Mannes wahrnehmen, dann begann dieser das Messer in die Höhe zu halten, um zu einem schwungvollen Stoß anzusetzen. Als die Klinge begann niederzusausen, vollbrachten Balthasar’s Hände die unglaubliche Tat und klappten das Buch auf seinem Schoß mit voller Wucht zu. „Hannibal, verschwindeeeeeeeeeeeeeeeee“! brüllte Balthasar seine gesamte angestaute Angst an die Stelle, an der sich nur noch ein feiner Nebel auflöste.
*****har Paar
41.021 Beiträge
JOY-Team Gruppen-Mod 
Ich kann nicht anders ... mich erinnert das an die durchschmökerten (und danach oft genug durchwachten) Nächte mit den Geschichten des guten, alten Edgar Allen Poe ...

Und das meine ich durchaus als Kompliment!

(Der Antaghar)
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****ia Frau
22.263 Beiträge
Sehr fesselnd geschrieben.
So hat mich schon lange keine Geschichte mehr gepackt.
*top*
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Kompliment ... Kompliment ....

ich kann nichts anderes schreiben.

*bravo* *zugabe*


Herta will weiter*les*
Ich muss euch ehrlich sagen: Wenn ich sehe, für was es hier "Federn" gibt, dann hat diese Geschichte mindestens fünf davon verdient! *top2*

Luna
****ra Frau
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weiter mit Erholsameren ;)
Die Wiege der Zeit 3

Heftig atmend, mit einem dröhnenden Dampfhammer, der sein Herz war, starrte Balthasar auf den sich auflösenden Nebel. Der Windhauch des Schwunges von Hannibals Hieb wehte ihm entgegen. Das Buch noch in einer Abwehrhaltung vor sein Gesicht haltend, fing er allmählich an sich zu beruhigen, nachdem er begriffen hatte, dass die Gefahr vorbei war. Vorerst. Langsam sanken seine Arme und er legte mit zitternden Fingern das verhasste Buch auf den Beistelltisch. Steif vor Schreck kramte er in seiner Hosentasche nach einem Tuch, fand es, schüttelte es vor sich aus und wischte über seine schweißnasse Stirn.
‚Oh, dieser Michelangelo. Das Böse in Reinform.’ fluchte er in Gedanken. ‚Da hat er ja in Hannibal seinen passenden Handlanger gefunden. Dieser Kerl macht mir einfach nur Angst’. Noch immer wackelig auf den Beinen erhob sich Balthasar und versuchte ein paar Schritte zu gehen. Er schwankte, sein Kreislauf lief auf Hochtouren, alles drehte sich vor seinen Augen.
Balthasar legte seinen Kopf in den Nacken schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Als er seinen Puls wieder in normalen Bahnen glaubte, öffnete er seine Augen und blickte durch die halbrunde Glaskugel, die sich inmitten des Daches der Bibliothek befand. Dunkler Nachthimmel schimmerte ihm entgegen. Im samtigen Schwarz betteten sich kleine funkelnde diamantene Sterne, daneben der Solitär - ein voller Mond, der sein silbrigweißes Licht durch die vielen kleinen Fenster der Kuppel auf Balthasar verteilte. Wie durch einen perfekt geschliffenen Stein streute sich das kühle Licht dieser Sonne der Nacht, durch die prismenähnlichen Glaselemente und Balthasar bewunderte dieses Schauspiel. Seine Gedanken beruhigten sich, ebenso wie sein bebender Körper. Erneut schlug die Standuhr an. Ein einziger tiefer Schlag. Mitternacht war vorbei. Er zündete die Kerze wieder an, das leise Knistern des Dochtes vermittelte ihm ein wenig Sicherheit.

Balthasar schritt langsam durch den Raum. Leise knarzte der Boden unter seinen alten Füßen. Er hatte immer das Gefühl, bei jedem Schritt, den er auf die Holzplanken setzte, würde ein wenig Duft des Bohnerwachses der vergangenen Jahrhunderte zu ihm hinaufsteigen. Ein warmer, samtiger Geruch, der ihn an längst vergessene Zeiten erinnerte…
Gedankenversunken ging er an einem der endlosen Regale entlang, streifte einen kleinen, unscheinbaren Band, der ein wenig keck aus der Reihe der Bücher hervorlugte und fast lautlos fiel das Buch zu Boden. Der Deckel sprang unbemerkt von Balthasar auf, der noch immer ein wenig verloren durch die Bibliothek wandelte.

Heftig zuckte er zusammen, erneutes Unheil erwartend, als ein Quietschen von der Empore ertönte. „Ich kommeeeeeeeeeee“ ertönte eine helle Stimme und ein Plumpsen zeigte an, dass die Schlitterpartie, die dieses kleine Wesen dort veranstaltet hatte, am Treppengeländer endete. Balthasar stand im hinteren Winkel der Bibliothek, der sich unter der Wendeltreppe befand, so dass er nicht erkennen konnte, um wen es sich handelte. „Hallo?? Mister?? Biste da?“ erklang ein neugieriges Stimmchen und schon hüpften winzige Füßchen die Treppe hinab. Ungestüm sprang Balthasar’s neuer Gast die letzten drei Stufen auf einmal herab und landete kichernd vor Balthasar, der sich der Treppe genähert hatte.
„Oh, na hallo, Fratz“ strahlte Balthasar und hob das kleine Mädchen in seine Arme hoch. Freudig grinsend legte sie ihm ihre kleinen, speckigen Ärmchen um den Hals und küsste den alten Mann auf seine stoppeligen Wangen. „Hihi, das kitzelt“ lachte sie, kniff die Augen zusammen, rieb sich die Stupsnase und schabte mit ihrem Daumennagel über den grauen Bart des Bibliothekars. „Wie fühlt sich das denn an, wenn die Haare aus deinem Gesicht rauspieksen? So wie bei einer Katze die Schnurrhaare?“ plapperte die Kleine drauf los.
„Nein, Prinzessin, eigentlich spüre ich sie kaum. Es sei denn, jemand ganz neugieriges, der immer viel zu viele Fragen stellt, kitzelt mich mit seinen Fingern an diesen Haaren“ lachte Balthasar zurück und setzte das Kind vorsichtig auf dem Boden ab.
Sofort begann dieser kleine Wirbelwind in der Bibliothek herumzuflitzen. „Fratz, lass das, du sollst nicht so herumrennen, du könntest dir wehtun“ rief Balthasar ihr hinterher. „Ach, immer müsst ihr Erwachsenen Angst haben. Fynn hat mir jedes Mal das gleiche gesagt, wenn ich im Garten auf dem Baum rumkletterte.“ keuchte das kleine Energiebündel aus der hinteren Ecke des Raumes.
‚Ja, mein Gott, ja, und wie Recht Fynn hatte’ dachte Balthasar traurig.

Stattdessen rief er:“ Komm, komm her zu mir“ und mit diesen Worten setzte er sich in seinen Sessel. Schnell verscheuchte er den Gedanken an das noch eben erlebte und beobachtete mit zärtlichen Blicken, das niedliche Wesen auf ihn zu rennen. Ihre Pausbäckchen waren apfelrot, ihre Augen glänzten als sie atemlos auf seinen Schoß krabbelte und sich in seine Arme schmiegte. „Weißte Mister, ihr Erwachsenen habt immer Angst vor dem Tod. Dabei ist der gar nicht so schlimm. Und ausserdem, ich wollte sowieso schon immer ein Engel werden. Und weißt du auch warum, Mister?“ fragte sie, während ihr warmer Atem durch Balthasar’s gestrickten Pullover an seine Haut drang. Ihr leuchtender, fragender Blick glitt über das Gesicht des alten Mannes, der sie liebevoll betrachtete und ihr durch das weiche Haar strich: „Du bist doch ein Engel, Fratz.“ „Neiiiin, ich mein das so: Der Unnerschied von einem Mensch und einem Engel ist leicht. Das meiste von ein Engel ist innen, und das meiste von ein Mensch ist außen. Verstehste das, Mister?“ Balthasar nickte, und wunderte sich über den kleinen Naseweis.

„Wie geht es Fynn, Prinzessin?“ fragte er jetzt und sah, wie sich ein Schatten über das kleine Gesichtchen legte. „Ich weiß nich, was ich denken soll. Ohne mich fühlt er sich so sehr allein. Er hat geweint, nachdem ich damals vom Baum auf den blöden Zaun gefallen bin. Dann als er an meinem Bett saß, weinte er nicht mehr, da erzählte ich ihm, was ich fühlte, dass sich alles von innen nach außen kehrt. Ich sagte ihm, dass ich ihn lieb habe, und ich wettete, dass mich Mister Gott dafür sicher in sein Himmel rein lässt, dann weiß ich nichts mehr…...Aber ich glaube er hat es inzwischen erraten, was ich ihn immer fragte auf welche Frage das die Antwort sei. Die Antwort war: ‚In mir drin, ganz in der Mitte’.“ hier machte die Kleine eine nachdenkliche Pause und krabbelte vom Schoß herunter. Sie sprang leichtfüßig auf das Regal zu, vor dem das kleine Büchlein lag. Sie hob es mit ihren zarten Fingern auf und trug es mit ausgestreckten Ärmchen auf Balthasar zu. Dieser nickte nur, brauchte sich nicht die aufgeschlagene Seite anzusehen und antwortete mit tränenerstickter Stimme, während das Kind das Buch langsam schloss: „Die Frage heißt: ‚Wo ist Anna?“
Gänsehaut pur! *heul2*

Wenn du das mal veröffentlichst, dann möchte ich ein Exemplar haben. Ist ganz meine Wellenlänge!

Luna
****ra Frau
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neue Gänsehaut
Die Wiege der Zeit 4

Anna, dieser kleine Engel auf Erden, löste sich auf und ließ Balthasar alleine zurück. Er kämpfte noch mit den aufsteigenden Tränen, die als dicker Kloß in seinem Hals saßen. Dieses unglaubliche Kind schaffte es immer wieder, ihm vor Augen zu halten, wie verbohrt und umständlich Erwachsene sein können.
Die Standuhr im Hintergrund schlug zwei Mal an. Der alte Mann spürte, wie ihm bleierne Müdigkeit in die Knochen kroch. Dieser Tag, der allerdings nicht mit dem Maßstab der Menschentage zu messen war, ging zu Ende. Er sank an die hohe Lehne des Sessels, hörte kaum mehr das gleichmäßige, einlullende Ticken der Uhr, sein Blick verschwamm, die kleine Flamme der Kerze wurde zu einer glühenden Fläche, dann schlossen sich seine Lider. Als Balthasar einschlief, stand die Zeit still. Totenstille herrschte in der Bibliothek, die noch eben lebhaft zuckende Kerzenflamme erstarrte, das lange Pendel der Uhr verharrte an der Stelle, an der es eben ausholte, um auf die andere Seite zu schwingen. Die Welt stand still, die Ewigkeit trat an die Stelle der Zeit, unbemerkt von den Menschen.

Hufklappern erklang auf der Empore. Pferde wieherten und hölzerne Räder kamen zum Stillstand. Eifrige Schritte liefen um die Kutsche herum, ein leises gemurmeltes „Danke“ verflüchtigte sich in der Luft, dann wurde eine Tür zugeschlagen. Eine Peitsche knallte laut, die Pferde bäumten sich kurz auf und stoben in rasendem Galopp davon. Immer leiser wurde das monotone Geräusch, dann herrschte wieder Totenstille. Doch nur kurz.
Das Rascheln von Stoff näherte sich der Wendeltreppe. Ein schwerer Mantel schwang über die Stufen, als derbe Stiefel sie eine nach der anderen bewältigten und auf dem honigbraunen Parkett zu stehen kamen. Der in dem weiten Mantel verhüllte Gast trug einen hohen Zylinder mit einer breiten Krempe, die sein Gesicht in Schatten tauchte. Er blickte sich kurz um, orientierte sich, sah den alten Bibliothekar in seinem Sessel lesen und ging selbstbewusst auf ihn zu. Als er vor ihm stand, zog er seinen Zylinder und legte ihn auf dem Tisch ab. Balthasar hob seinen Blick nur langsam. Er fing bei den schwarzen, groben Stiefeln an, wanderte über die akkurat sitzende Hose, die ein wenig unter dem weiten Mantel hervorlugte, glitt über den Mantel und blieb an dem hochnäsigen Grinsen hängen.
„DU bist es also gewesen?“ flüsterte Balthasar leise. „Das erste Mal dass du dich mir zeigst, wer du wirklich bist.“ sprach er noch immer in einem ungläubigen Ton weiter. Sein Gast legte seine Hände hinter dem Rücken zusammen und schritt langsam vor Balthasar auf und ab. Warf hin und wieder einen Blick zu ihm, bevor er begann zu antworten:

„Ich habe es satt, unerkannt zu bleiben. Die ganze Stadt redet von mir, ohne zu wissen, wer ich wirklich bin. Jeder in Whitechapel, mein bevorzugtes Revier, flüstert sogar inzwischen nachts meinen Namen, während sie alle ahnungslos schlafen und ich auf die Jagd gehe“, sagte der Unheimliche und ein Glimmen leuchtete in seinen Augen auf. Balthasar konnte sich die Frage nicht verkneifen: “Warum, warum tust du das? Was haben dir die armen Frauen getan? Wie viele waren es bereits, wie viele werden es noch?“ Der Gast blieb vor ihm stehen und lachte so laut, dass sich Balthasar am liebsten die Ohren bedeckt hätte. Es schien tief in sein Hirn vorzudringen und die schlimmsten Ängste zu wecken.
„Alter Mann! Ihr glaubst doch wohl selbst nicht, dass ich Euch sage was ich noch alles vorhabe? Wie viele Opfer es bis heute waren? Nun, das kann ich Euch verraten: Es ist der 30. September 1888, genau 2.06 Uhr – dann waren es erst vier. Und warum? Weil diese unnützen Weiber die Syphilis verbreiten.“ Geiferte der Mann, dessen Gesicht sich zu einer Fratze verzog. „Diese Huren kümmern sich einen Dreck um die Männer, die sich bei ihnen anstecken“ spie er aus, während sein Gesicht sich dunkelrot färbte.

Balthasar schluckte trocken, als er den Wahnsinnigen vor sich betrachtete, der sich grade in Fahrt redete. „Sie müssen alle ausgerottet werden. Ich nehme sie mir vor und dann aus“ überschlug sich seine Stimme, die immer schriller wurde. „Blut, überall Blut, warme Organe in meinen Händen, aufgeschlitzte Kehlen mit blutigen Fontänen und Unterleibe in die ich tief eindringe…“
„Genug, hör auf“ schrie Balthasar und schlug sich diesmal wirklich die Hände auf die Ohren. Doch das irre Kreischen und Lachen des Gastes drang noch durch diese Barriere und ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. „Diese Weiber, sie sind nur scharf auf das Geld, das sie den armen Männern abknöpfen können und so sind sie leichte Beute, für jemanden wie mich. Ich sollte mir einen Gehilfen anschaffen, den ich in meinem blutigen Rachezug unterweisen und ausbilden könnte. Der mein Werk fortführt. Der es dann wieder jemandem weitergibt, damit dies nie aufhört. Eine blutige Zukunft für London, für die ganze Welt. Keinen Himmel mehr soll es auf Erden geben, nicht für diese Huren“ spie er Balthasar ins Gesicht.
Der Irre hatte sich über Balthasar gebeugt, der aus weit aufgerissenen Augen auf dessen speichelbedeckte Lippen starrte. „Was? Was glotzt Ihr so, alter Mann?“ Balthasar ließ seine Hände von den Ohren sinken und wagte zu antworten: „Diese Frauen brauchen doch das Geld, und die Männer, die zu ihnen gehen, bekommen etwas dafür. Es ist ein Gewerbe wie jedes andere auch und…“ weiter kam er nicht.
Eine Ohrfeige traf den Bibliothekar mit voller Wucht, dass er fast aus dem Sessel rutschte. Seine gekrümmte Hand klatschte auf das Buch um es am Fallen zu hindern und blieb vorn auf seinen Knien liegen. „Narr! Ihr habt doch keine Ahnung. Diese nichtsnutzigen Weiber. Sie sollen in die Kirche gehen, sich einen anständigen Mann suchen, Kinder aufziehen, wie es sich gehört.“
Balthasar schmeckte Blut, er hatte sich durch den Schlag auf die Lippen gebissen. Er leckte es ab und blickte dabei wieder in die Augen, die jetzt völlig dem Wahnsinn gehörten: „Ich bin davon überzeugt, diese Frauen würden nichts lieber als das tun und so leben…“ und erneut schlug der Irre zu, ließ keine Widerworte zu. Diesmal traf er den Magen des Alten, so dass dieser zusammenklappte. Er krümmte sich über das Buch, das nun unter seinem Oberkörper verharrte. „Was?? Seid Ihr genauso ein dreckiger Lügner wie diese Weiber? Gute, brave und hart arbeitende Männer, sollen sich solch verdorbene Frauen als Eheweiber nehmen?“ dröhnte die Stimme des Gastes in Balthasar’s Schädel. Stöhnend richtete er sich in seinem Sessel wieder auf, die Seiten des Buches waren eingerissen, doch das scherte ihn in diesem Moment wenig. Als er wieder aufrecht saß, bemerkte er, dass der Irre nicht mehr an seinem Platz stand.

Erleichtert wollte er aufatmen und das Buch schließen, als er etwas Kaltes an seiner Kehle spürte. Augenblicklich erstarrte er. „Wollt Ihr wissen wie es sich anfühlt? Wollt Ihr wissen, was diese Huren als letztes in ihrem erbärmlichen Leben zu spüren bekommen?“ drang die heisere Stimme in sein Ohr. Die kleinen Härchen in seinen Ohren reagierten übersensibel auf diese schrecklichen Worte, Bilder formten sich in seinem Kopf, er sah die verstümmelten, armen Frauen in ihrem Blut liegen. Ausgeweidet von einem Wahnsinnigen, der ihre Not ausnutzte. In seinem Wahn von eigener Gerechtigkeit. Weiter konnten die Gedanken sich nicht entwickeln, denn wieder lachte der Irre. „NA? Wie fühlt sich das an? Anregend – nicht wahr?“ drangen die feuchten gehauchten Worte in Balthasar’s Gehörgang.
Dieser Mann vereinnahmte seine ganze Aufmerksamkeit. Die Bibliothek, der Raum um sie herum verschwamm. Nur noch das kalte Metall der Klinge auf seiner Kehle war real, die Stimme des Schlächters in seinem Kopf, die schrecklichen Bilder der armen Frauen.

„Allerdings“ hob der Gast seine Stimme an, „allerdings gäbe es eine Möglichkeit, wie Ihr die Weiber schützen könntet, die ich noch aufschlitzen werde.“ Balthasar spürte Speichel in seinem Mund zusammenlaufen, doch wagte er nicht, ihn herunterzuschlucken, denn sein Adamsapfel hätte diese Klinge nicht unbeschadet passieren können. Die Klinge wurde jetzt mit mehr Druck in seine Haut gepresst, als er versuchte, krächzend nachzufragen: „Was… ist… es?“ brachte er dennoch hervor und musste das gackernde Kichern des Irren ertragen. „Ganz einfach, Ihr lasst das Buch für immer aufgeschlagen. Stattdessen, wenn Ihr mich nicht zurückschickst, werde ich Euch aufschlitzen, und jeden, dem ich hier begegne und das mit dem größten Vergnügen.“
Das war zuviel für Balthasar. Blitzschnell hatte er die beiden gebundenen Deckel des Buches zusammengeschlagen. Es dröhnte als Echo im Raum und ein dämonisches „From Hell“ schwang als irres Lachen in dem sich auflösenden Nebel davon.

Zitternd erwachte Balthasar und schreckte hoch. Nachdem er sich bewusst wurde, wo er war, ließ er sich stöhnend wieder zurückfallen. Froh, dass es nur ein Alptraum gewesen war. Kein Wunder, nach den Erlebnissen der letzten Stunden. Er blickte auf die Uhr, die wenige Minuten nach Zwei zeigte. Er lächelte zurückhaltend, denn jetzt würde der wahre Tag beginnen. Die Sonne gehorchte seiner Zeitschreibung und begann nur für ihn, sich in wundervollem Orange vom Horizont zu schälen, seine Bücher in goldendes Licht zu tauchen.
Balthasar erhob sich, streckte seine steifen Glieder, bis sie knackten. Er wollte sich eben einen Tee zubereiten, griff nach der silbernen Kanne, die auf seinem Tischchen stand, als er sein Spiegelbild darin erblickte. Vor Schreck wäre ihm die Kanne fast aus der Hand gefallen. Seine freie Hand glitt an seinen Hals und als er sie zurückzog und betrachtete, lief ein einzelner Blutstropfen quer über seine Finger und hinterließ einen dunklen Spritzer auf dem schwarzen Zylinder.
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Huch ... spannend erzählt. Ich fiebere der Fortsetzung entgegen.

*top2* *spitze* *zugabe* *bravo* *anbet*

Herta
Die Geschichte ist so genial,
ich bin während des Lesens heftigst damit beschäftigt, ob er den Bösen und Irren nicht den Spass verderben könnte, wenn er einen Stift....

oberhammertittengeil! klapsemit *spitze* laf
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****ia Frau
22.263 Beiträge
Ja, was soll ich sagen, was die anderen nicht schon gesagt haben?

Mir gefällts!
*g*
Wo nimmst du nur deine Ideen her und dann deine Art alles so genau zu beschreiben?

Es ist, wie immer, fesselnd gewesen. Einmal begonnen, kann man nicht mehr aufhören zu lesen. *top2* *zugabe*

Ich frage mich aber schon die ganze Zeit, wie Balthasar mit diesen ganzen Gefühlen klar kommt, die da ständig in ihm aufgewühlt werden.

Luna
*******an_m Mann
3.834 Beiträge
Klasse! Absolut klasse!

Bibliotheken und Geschichten wie diese liebe ich einfach *top*
****ra Frau
2.916 Beiträge
Themenersteller 
vielen Dank und hier der Nachschub ;)
Die Wiege der Zeit 5

Ein Windzug, der sich öfters durch die Bibliothek verirrte, ein harmloser kleiner Wirbelwind aus der Vergangenheit, stob durch die reparaturbedürftigen Bücher auf dem Arbeitstisch und öffnete einen der zerfledderten Bände.
Balthasar nahm dieses nicht wahr, noch immer starrte er wie versteinert auf den zerflossenen Bluttropfen, der von dem schwarz glänzenden Stoff des Zylinders nur langsam aufgesogen wurde. Eine sanfte Stimme klang von der Empore herab: „Werter Balthasar, braucht Ihr Hilfe?“ Zögerlich hob der Angesprochene seinen Kopf, wandte sich um und blickte an das obere Ende der Wendeltreppe. Die Sonne hüllte die dort oben stehende Gestalt in weiches Licht, der Schatten der ohnehin schon sehr großen Person, zog sich bis in den Gang der langen Regalreihen auf der Empore. Mit einem leisen Knirschen drehte sich die Person auf ihren Schuhsohlen und schritt gemächlich die Treppe hinab, sein Schatten folgte ihm stumm über die Regale gleitend.

„Ich habe Euch schon lange nicht mehr derart aufgelöst erlebt, mein Bester, was ist Euch widerfahren? – Oder – Stopp, nein, lasst mich kombinieren.“ bat der große Mann, als er vor Balthasar zu stehen kam. Der Bibliothekar roch den intensiven Tabakdunst, der von dem eleganten Reisemantel aufstieg, dann blickte er dem Mann ins Gesicht und atmete erleichtert auf. Zwei kluge Augen, deren Iris wie poliertes Silber glitzerten, saßen über einer spitzen Raubvogelnase. Ein wenig blass war der Teint des Mannes, der von seinen schwarzen, mit nur wenig Grau durchzogenen Haaren, betont wurde. Im Mundwinkel klemmte die für seinen Gast typische Pfeife. Schwarzes Mundstück und Meerschaumfarbenes Endstück, in dem erkalteter Tabak steckte. Auf seinem Kopf saß eine karierte Schirmmütze, die einen leichten Schatten in das Gesicht des Mannes warf.

„Ich bitte darum“ lächelte Balthasar leise und beobachtete, wie sein Gast begann, auf und ab zu schreiten. Seine Hand fuhr an die Pfeife, um sie für die Zeit seiner Rede vor seinen Bauch zu halten und damit seine Worte durch ausschweifende Gesten zu untermalen.
„Ich sehe, Ihr hattet Besuch. Der Zylinder passt keineswegs zu Eurem Kleidungsstil. Der Besuch schien nicht sonderlich höflich mit Euch umgegangen zu sein, Ihr wirkt abwesend, bleich, als hättet Ihr einen Geist erblickt. Der Blutfleck auf Eurer Hand stammt von der Wunde an Eurer Kehle, die sicherlich nicht einer verunglückten Rasur Eurerseits entstammt. Der noch leeren Teekanne zu solch früher Morgenstunde entnehme ich, dass Ihr eben im Begriff wart, einen Tee zu kochen, um dessen Vollendung ich jetzt bitte“, forderte ihn sein Gast auf, mit einem Blick in Balthasar’s Augen.
Noch immer fühlte sich Balthasar desorientiert, doch diese Augen weckten ihn aus seiner Starre nun völlig auf. „Ja… ja, natürlich, willst du so lange Platz nehmen, während ich den Tee zubereite?“ erwiderte Balthasar und war bereits auf dem Weg zu der kleinen Kochnische, die einen kleinen Herd beherbergte. Er griff nach einem altmodischen Wasserkessel, der, sobald das Wasser darin kochte, pfeifen würde.
„Wisst Ihr, alter Freund, derzeit verlangt es mich wenig nach Ruhe. Watson hält mich mit seinen unendlichen Fragen abends, wenn wir unser Abendmahl eingenommen haben, sogar vom Spielen auf meiner geliebten Stradivari ab. Also tut es mir gut, ein wenig Bewegung zu haben. Dennoch, vielen Dank für Euer Angebot“ ließ sein Gast vernehmen.

„Wie verlaufen denn deine Fälle, die dir im Moment aufgetragen werden?“ fragte Balthasar aus reiner Höflichkeit. Er wusste, dass sein Gast nur zu gern über sich selbst redete. Dieser kam auch sofort der Gelegenheit nach. „Ah, dieser verfluchte Moriarty“ begann er zerknirscht. Zog seine Kappe vom Kopf und platzierte sie auf dem Arbeitstisch. Er fuhr sich mit seinen langen, schlanken Fingern durch das Haar und seufzte, bevor er weiter sprach: „Er ist ein Teufelskerl. Er macht mir das Leben schwer. Niemand kann mir das Wasser reichen, doch dieser Kerl kommt mir viel zu nah. Das ist etwas, das ich gar nicht ertragen kann.“ gestand sein Gast, der sich an die Tischkante des Arbeitstisches gelehnt hatte. Mit der Pfeife wieder im Mundwinkel fuhr er mit der Hand in die Innenseite seines Mantels und kam mit einem kleinen ledernen Tabakbeutel hervor.
„Ja, ich weiß, doch vor diesem Mann musst du dich in Acht nehmen“ nutzte Balthasar die kurze Zeit der Stille, denn schon hob sein Gast zur Antwort an, die Pfeife wippte nervös bei jedem Wort zwischen seinen Lippen auf und ab. „Pah, was sollte er mir schon anhaben können? Durch meine Intelligenz, mein analytisches Denken und Kombinieren wird mich niemand besiegen können. Auch ein Moriarty nicht. Ich werde ihm stets einen Schritt voraus sein“.
„Dennoch“ antwortete Balthasar, „sei auf der Hut, du bist nicht unsterblich“. Sein Gast lachte: „Ja, nicht so wie Ihr, verehrter Balthasar, ich weiß“. Das schrille Pfeifen des Wasserkessels unterbrach das Schweigen, in dem der große Mann über die wahren Worte nachdachte.
Aromatischer Tee-Duft verteilte sich in der Bibliothek und auch hatte der Gast inzwischen seine Pfeife neu gestopft. Noch immer lehnte er am Tisch, doch als Balthasar mit einem Tablett, auf dem die silberne Kanne und zwei dampfende Teetassen standen, zurück kam, nahm er Platz auf der kleinen Bank, die Balthasar’s Sessel gegenüber stand.
Balthasar setzte sich ebenfalls und stellte das Tablett auf dem Beistelltisch ab. Dann reichte er seinem Gast eine Tasse, der sie dankbar entgegennahm. Mit der anderen Hand ergriff er seine Pfeife, hielt sie mit einer kurzen Bewegung in Richtung des Bibliothekars. „Darf ich?“ unterlegte er diese Geste mit fragendem Blick.
„Oh, natürlich. Ich mag den Geruch deines Tabaks“ antwortete Balthasar und nippte an seinem heißen Tee. Die Wärme des stimulierenden Getränks vertrieb jetzt den letzten Schrecken, der noch in seinen Knochen saß.
Eine kleine Flamme erhellte für wenige Sekunden das kantige Gesicht seines Gegenübers, dann mischte sich das Tabakaroma mit dem Tee und eine Gemütlichkeit kam auf, die die beiden Männer entspannte. „Nun, werter Freund, wollt Ihr mir nicht von Eurem Besuch erzählen?“ hob sein Gast an und schlug ein Bein über das andere. Balthasar’s Hand zuckte an seine Kehle und spürte eine Kruste, die sich inzwischen über dem Schnitt gebildet hatte. „Nicht all zu gerne, handelt es sich doch um einen deiner Zeitgenossen, der im schönen London sein Unwesen treibt…..“
„Verzeiht, wenn ich Euch unterbreche, aber lasst mich wieder kombinieren.“ ereiferte sich sein Gast. Ohne dass Balthasar eine Chance zur Widerrede gehabt hätte, sprudelte sein Gast weiter: „Wenn ich mir also diese Information heranziehe, den Zylinder auf dem Tisch, dazu Eure üble Wunde, die an einer typischen Stelle für einen meiner Zeitgenossen spricht, dann kann es nur Jack gewesen sein, der momentan in aller Munde ist. Allerdings ist es mir doch ein Rätsel, wie Ihr überleben konnte. Nicht dass Ihr jetzt denkt, ich würde dies bedauern. Im Gegenteil, ich schätze Euch sehr als angenehmen Gesprächspartner, und würde es bedauern, Euch nicht mehr aufsuchen zu dürfen.“

Balthasar lächelte nickend und sah, wie sein Gast einen tiefen Schluck des inzwischen abgekühlten Tees nahm.
„Ah, einfach köstlich“ stieß sein Gast hervor. „Jack, dieser Jack...“ murmelte er mit abwesendem Blick. „Auch er sorgt dafür, dass ich mit der hiesigen Polizei in engem Kontakt stehe. Die police detectives tappen im Dunkeln und haben mich herangezogen.
Inspektor Lestrade von Scotland Yard, ist darüber zwar nicht begeistert, doch geht es um die Jagd nach Verbrechern, daher hält sich sein Ungemach in Grenzen. Moriarty wird sich wohl nicht in Luft auflösen“ lachte er freudlos.
„Davon kannst du leider ausgehen. Das Böse ist zäher als man denkt. Es benötigt immer mehr Kraft, dagegen anzugehen, als es Energie benötigt sich zu freuen und glücklich zu sein.“ entgegnete Balthasar leise.
Sein Gast blickte ihm lange in die Augen, dann trank er den letzten Rest seines Tees und erhob sich. Seine Pfeife klemmte schon wieder im Mundwinkel, als er sich seine Kappe wieder aufsetzte. Auch Balthasar stand langsam auf und blickte zu dem großen Mann hinauf. „Nun denn, alter Freund, dann schickt mich schnell wieder zurück in die Baker Street Nummer 221b, damit ich mit der Jagd beginnen kann. Doch vorher noch muss ich Watson davon überzeugen, mit mir dieses neue Abenteuer zu wagen.“
„Gerne und ich lass mir dann das nächste Mal von dir berichten.“ sprach Balthasar, der inzwischen vor dem Arbeitstisch stand, das reparaturbedürftige Buch in seine Hände nahm und vorsichtig zuklappte. „Bis bald, Sherlock“ flüsterte er dem silbrigen Nebel hinterher.
Ich wiederhole mich ungerne, aber hier schon.

Einfach brilliant, schon allein deine Liebe zum Detail! *top2*

Luna
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Die Wiege der Zeit 6


„Helft mir! Um Gottes Willen, helft mir doch, Sire“ schrie eine verzweifelte Stimme, die Balthasar zusammenfahren ließ. Ein Gerangel und Gezerre mischte sich in das Schlagen der Standuhr. Drei Mal ertönte der Gong und wurde von einem markerschütternden Schrei abgelöst. Balthasar blickte vor sich und sah, dass er beim Ablegen des Buches, welches er eben noch in der Hand hatte, den Deckel eines anderen Buches angehoben, doch nicht völlig geöffnet hatte.
Sein Blick schnellte nach oben zur Empore und er entdeckte einen Mann, der verzweifelt versuchte, sich aus dem Nebel zu lösen, der ihn wie zäher Schleim umschloss. Sein Oberskörper war bereits frei, doch alles abwärts der Hüfte fehlte. Balthasar wusste sofort was zu tun war. Er schlug das Buch hastig auf, dessen Deckel nur leicht angehoben war und schon stolperte der Gast über die Empore auf die Wendeltreppe zu. Keuchend und stöhnend sank er zu Boden, um zu Atem zu kommen. Er blickte noch einmal um sich und stellte zufrieden fest, dass er allein war. Fast.
„’Komm herunter, lass mich dich ansehen“ rief Balthasar besorgt nach oben.
Eine schmutzige Hand legte sich auf das Treppengeländer, dann zog sich ein kleiner, drahtiger Mann daran hoch. Er blieb ein wenig gebückt stehen, so dass Balthasar ganz deutlich einen Pfeil aus der Schulter des Mannes ragen sah. Er erschrak heftig und rief erneut: „Beeil dich, komm zu mir!“

Balthasar ging um den Arbeitstisch herum und wartete am Fuße der Treppe auf seinen Gast, der schnaufend und keuchend jede einzelne Stufe nach unten überwand. Fast geräuschlos waren seine Schritte. Seine Füße steckten in weichem Leder, gebunden mit dünnen, geflochtenen Sehnen. Seine kräftigen Beine waren verpackt in dunkelgrünen, engen Hosen. Darüber ein zerrissenes Hemd, welches von einer beigefarbenen Lederweste mit Kordelgürtel zusammengehalten wurde. Der spitze Dreieckhut wurde von einer langen Fasanenfeder geschmückt. Über seiner gesunden Schulter hing ein Köcher, in dem drei Pfeile steckten, ein langer Bogen lag in der anderen Hand des Mannes.

Als sein Gast vor ihm stand, zog ihn Balthasar weiter ins Licht, um sich seine Verletzung zu betrachten. Er schüttelte schockiert den Kopf, als der Mann gepresst hervorstieß: “Ich habe heute nicht viel Zeit, Sire, weshalb habt Ihr mich gerufen? In einem solchen Moment?“
„Verzeih mir, es war keine Absicht, und da ich mich leider nicht um dich kümmern darf, werde ich dich nicht lange aufhalten können. Was ist passiert?“ fragte Balthasar und spürte eine Übelkeit in sich aufsteigen, als er sah, wie sich der Blutfleck auf dem Hemd seines Gastes immer weiter ausbreitete. In den frischen Blutgeruch mischte sich herbes Moos und feuchter Waldboden.

„Natürlich der Sheriff. Dieser verfluchte Nottingham ist uns mal wieder auf der Spur. Immer wieder schafft er es, einen seiner Leute als Spitzel bei uns einzuschleusen. Ich werde mir etwas einfallen lassen müssen, um solche Verräter vorher schon entlarven zu können, noch bevor sie in unser geheimes Lager geführt werden….. Arrrgh, verdammt, dieser Pfeil…!“ stöhnte der Mann und ging erneut vor Schmerz fast in die Knie. Als er sich aufrichtete, konnte Balthasar einen feinen Schweißfilm auf der Stirn des Mannes erkennen. Die schmal geschnittene Nase war dreckverkrustet wie fast alles in diesem leidenden Gesicht, in seinen dunklen Augen glühte jedoch wie zum Trotz, ein Feuer voller Leidenschaft und Abenteuerlust.

Jetzt allerdings lag ein Schleier der Pein darüber. Schneller als Balthasar schauen konnte, hatte der Kleinere seine Hand auf den Schaft des Pfeils gelegt und ihn abgebrochen, so dass jetzt nur noch wenige Zentimeter des Holzes aus seinem Körper ragten. Er schrie kurz auf schwankte und Balthasar konnte den sehnigen Körper gerade noch auffangen, bevor er zu Boden gesunken wäre. Balthasar’s Knie wurden weich. Er würde sich nie an den Anblick solcher Grausamkeiten und Blut gewöhnen.
„Ich muss zurück, Sire. Meiner Männer warten, sie brauchen ihren Anführer. Verzeiht mir diese Unhöflichkeit. Lady Marian wird mich verarzten und dann bin ich schnell wieder auf den Beinen.“ Mit dieser gehauchten Bitte blickte er Balthasar verzweifelt an, den abgebrochenen Pfeil mit kleinen Federn am Ende, noch in der Hand, das Blut aus der verletzten Schulter rann inzwischen über seinen Arm. Balthasar eilte zurück zu seinem Arbeitstisch und schloss das Buch so vorsichtig, als würde es sein sich jetzt auflösender Gast spüren können.
*top2* *zugabe* *spitze*
****ra Frau
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Die Wiege der Zeit 7


‚Ich sollte mehr Ordnung halten’ schalt sich Balthasar. Er schaute auf seinen Arbeitstisch herab, auf dem sich die reparaturbedürftigen Bücher stapelten. Oft waren es nur ein paar Seiten, die sich aus der Bindung lösten, dann, bei den älteren Exemplaren, löste sich gar der ganze Rücken, oder noch schlimmer das Papier oder Pergament zerfiel langsam zu Staub. Die alte Tinte verblasste, Schimmel fraß sich durch die Schätze der Vergangenheit. Er hatte somit immer viel zu tun. Doch ließ er es sich nicht nehmen, seine Besucher einzuladen. Zeit hatte er ja genug…

Nach den Schrecken der letzten Stunden war ihm jetzt eher nach einem ruhigen Gast. Doch vorher wollte er ein wenig Ordnung schaffen. Er räume das Tablett mit den leeren Teetassen zurück auf die Anrichte seiner winzigen Kochnische, dann stapelte er die geschlossenen Bücher auf seinen linken Unterarm, sorgsam darauf bedacht, keines fallen zu lassen, geschweige denn, eines erneut unbemerkt zu öffnen. Er schritt die langen Regale ab und stellte jedes seiner geliebten Bücher an seinen angestammten Platz, rückte noch hier und da ein Exemplar zu recht, das ein wenig zu weit über den Rand hinaus stand. Als er dies erledigt hatte, atmete Balthasar tief ein. Der Geruch der alten Bücher, das knackende Holz der Regale, das mit ihm zu sprechen schien, die aufgehende Sonne, die durch die Kuppel in der Decke schien und den ganzen Raum in warmes Licht tauchte, das alles sog Balthasar in sich auf. Tausende Mal hat er es bereits erlebt und unzählige tausende Male würde er es noch erleben.
Ein wenig wehmütig ging er zu seinem Sessel, strich mit seinen, vom Staub trockenen Fingern über das vertraute Leder, das an einigen Stellen bereits verdächtig dünn gerieben war, an anderen Stellen noch wie neu und glänzend aussah. Er fühlte das Material unter seinen Fingerkuppen, leise glitt seine Haut über die messingfarbenen Nieten, die das Leder ins Holz der Lehne drückten. Dann wusste er, welches Buch er diesmal öffnen würde.

Balthasar glättete sein schütteres Haar, richtete die Kleidung und bestieg die lange Leiter an einem der Regale. Fast bis unter die Decke musste er steigen. Seine alten Knochen erschienen ihm wie eine schwere Last, als er abwechselnd seine Füße auf die Sprossen der Leiter setzte. Als er jedoch das Buch gefunden hatte und es in Händen hielt, erhellte ein Strahlen sein Gesicht und der Abstieg gestaltete sich viel leichter. Während er zurück lief, erwärmten die Sonnenstrahlen, durch die er eben schritt, seinen Hinterkopf und die Schultern, was ihn dazu veranlasste, sich ausgiebig zu strecken. Es knackte kurz im Nacken, er seufzte erleichtert auf, dann nahm er bereits wieder Platz.

‚Ich bin gespannt, in welchem Moment ich sie heute erwische’ dachte Balthasar. Denn, selbst wenn er über die Zeit wachte, hatte er keinen Einfluss darauf, in welchem Zustand er seinen Gast einlud. Egal an welcher Stelle er das Buch aufschlug, er wurde immer wieder überrascht. Das machte es für ihn derart verlockend, dass er das gleiche Buch wieder und wieder aufschlagen konnte, und nie dieselbe Situation ein zweites Mal erlebte. Er hüstelte und räusperte sich, rückte seinen Zwicker auf der Nase zurecht, betrachtete den edlen Lederband mit dem Titel, der nur einen schön geschwungenen Namenszug in goldenen Lettern trug, dann öffnete er den Band.

Gleichmäßig Schritte, fest und sicher, näherten sich auf der Empore. Balthasar wurde ein wenig nervös, denn diesem Gast, gehörte sein Respekt. So sehr, dass er es nicht wagte, diese Person zu duzen. Sie hätte die ihr würdige Anrede nie verlangt oder das Du kritisiert. Es war ihm einfach ein Bedürfnis, dieser Person diese Ehre zu gewähren. „Edler Balthasar, mein weiser Berater und Freund – wie schön Euch zu sehen. Bitte, reicht mir Eure Hand und geleitet mich die Treppe hinab“ erklang die feste Stimme mit einem wundervollen Dialekt der alten Zeit. Balthasar legte das Buch zur Seite und erhob sich sofort.
Seine Augen fixierten seinen Gast, der oben auf der Empore am Treppenanfang stand, ihm die Hand entgegenstreckte. Langsam stieg er der Person entgegen, ergriff die lange schmale Hand, mit der weißen Haut, die wie Porzellan schimmerte. Der große Edelstein, der in einen goldenen Ring gefasst war, wirkte viel zu schwer für diese zarte Hand, doch zeugte dieser von der Kraft und Würde der Person. „Majestät“ flüsterte Balthasar und neigte seine Lippen leicht über den Handrücken seines Gastes. Die Frau griff in den weiten Stoff ihres weiten Kleides um es über ihre Schuhspitzen zu heben, dann schritt sie an Balthasar’s Seite die Treppe hinab. „Ich bin froh, Euch zu sehen. Gehen mir doch viele Gedanken durch den Kopf, mit denen ich mich quäle. Zweifel darüber, ob mein Handeln richtig ist. Die Männer des Parlaments drängen auf meinen Entschluss. Das Papier liegt mir bereits zur Unterzeichnung vor. Könnt Ihr Euch vorstellen, dass nur ein paar Tintenstriche aus meiner Feder über das Leben von Menschen, hier sogar über das Leben einer Königin entscheiden?“

Inzwischen hatten sie den Sessel in der Bibliothek erreicht. Ohne Zögern führte Balthasar die Königin zu dem erhabenen Sitzmöbel, auf dem sie sogleich Platz nahm. Diesmal saß er auf der kleinen Bank gegenüber und betrachtete die bewundernswerte Frau. Ihr rotes Haar, welches in kleinen kunstvollen Löckchen ihr Gesicht umrahmte, schien in Flammen zu stehen, das Sonnenlicht verfing sich darin. Kluge Augen musterten ebenfalls den Betrachter, dessen Blick weiter huschte. Ein großer weißer Rüschenkragen umspannte ihren Hals, der fast über ihre Schultern ragte. Das Kleid hatte das für die damalige Zeit typisch geschnürte Mieder. Ihre Taille war so schmal, das er wohl mit seinen beiden Händen sie problemlos hätte umfassen können. Weit bauschten sich die unzähligen Röcke darunter um ihre Beine, die er jedoch nur erahnen konnte. Winzige Schuhe mit jeweils einem eckig geschliffenen, blutroten Rubin blitzten unter den Säumen hervor.

Ihre Frage hing weiterhin im Raum und als sein Blick wieder in ihr Gesicht glitt, erkannte er, dass sie auf seine Antwort wartete. Doch noch bevor er antworten konnte, unterbrach sie ihn mit einer Geste, bei der ihre schmale Hand waagerecht durch die Luft strich, um dann wieder in ihren Schoß zu sinken. „Nein, lasst es gut sein. Es tut mir leid. Ich kann Euch nicht damit belasten, mir zu einer Entscheidung zu verhelfen. Das wäre zuviel verlangt. Ich selbst leide unter der Last meiner Verantwortung, wie könnte ich es auf Euch abwälzen.“ stellte sie traurig fest. Dabei blieb ihr Blick fest auf Balthasar gerichtet. Er konnte förmlich spüren, welch inneren Kampf die Königin mit sich ausfocht. „Ich habe, wie auch schon mein Vater vor mir, viele Todesurteile unterzeichnet. Damit habe ich nun wahrlich keine Probleme. Es liegt daran, dass SIE es ist. Balthasar, wenn ich es unterzeichne, das Urteil, verstoße ich dann nicht gegen Gottes Gesetz? Eine von Gott geweihte Königin hinrichten zu lassen. Gefährde ich damit nicht gleichzeitig meinen eigenen Status? Bin ich dann nicht mehr unnahbar, unberührbar, unsterblich?“
Ihre Stimme erhob sich, während sie die quälenden Gedanken aussprach. „Außerdem“ hob sie an, "bestehen noch immer Zweifel, über die Echtheit der Kassettenbriefe. Und warum, Balthasar, warum dürfen wir, die Frauen mit der meisten Macht im Land, nicht unserem Herzen folgen?“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen, dann sprach sie mit erstickter Stimme weiter: „Mein geliebter Leicester. Oh wie sehr er mich geliebt hat, wie sehr ich ihn verehrte. Er wäre sicher ein wunderbarer König geworden, an meiner Seite. Auch wenn es mir schwer gefallen wäre, nur eine repräsentative Königin zu sein. Doch das Gefühl, die Liebe die er mir schenkte, bedeutete mir so unendlich viel….“ Eine Träne rann über ihre weiße Wange und verfing sich in den Rüschen ihres Kragens.
„Sie jedoch, sie hat es gewagt. Sie hat ihr Herz über ihr Volk gestellt, sich gegen die Edelmänner des Parlaments gestellt und ihre Liebe erfüllt. Ich bewundere sie dafür. Sie geht für ihre Liebe nun sogar in den Tod. Aber sie hat und wurde geliebt, Balthasar. Die Frucht aus ihrem Leib, entstanden in Liebe, wird uns alle überleben und König werden, denn ich werde wohl immer die jungfräuliche Königin bleiben. Trocken und verdörrt, wie ein alter Ast“.
Jetzt wandte die Königin ihren Kopf zur Seite, wollte Balthasar nicht den Schmerz zeigen, der ihr Herz zeriss. Schweigen erfüllte die Bibliothek, die Mine der Königin focht innere Kämpfe und Zwiegespräche aus.
Balthasar bemerkte, dass er die Luft angehalten hatte, seine Finger sich ineinander verschränkten und verkrampft waren. Langsam öffnete er seine Hände und begann zu atmen, er war fasziniert von dieser stolzen Frau, die für ihr Volk alles opferte.

„Nun, so sei es!“ stieß sie plötzlich laut hervor und erhob sich. Ihre Hand schwebte vor Balthasar, der erneut die weichen Finger der Königin ergriff und sich leicht verbeugte. Sie löste sich aus seinem Griff, schritt auf und ab und erklärte weiter: „Ich habe meinen Entschluss gefasst. Es muss weitergehen. Viel zu viele Jahre quält sie sich nun in den Kerkern Englands, verursacht Kosten, deren Gelder ich für mein Land anderweitig einsetzen könnte.“ Trotzig hob sie ihr kleines Kinn und hilfesuchend schaute sie sich nach Balthasar um.
„ Und doch ist sie eine geweihte Königin, Balthasar“ flüsterte sie. Sein Blick glitt zu Boden, er spürte ihren Zwiespalt jetzt körperlich wie ein scharfes Schwert sein Herz zerschneidend.
„Ihr tut das Richtige, Majestät. Auch wenn diese Entscheidung die schwierigste Eures Lebens ist, Ihr steht selbst unter Druck. Ihr allein wisst, wärt Ihr nicht die Herrscherin Eures Landes, würdet Ihr nie leichtfertig ein Leben auslöschen. Es liegt nicht an Euch, es sind die Umstände Eures Landes, die diese Entscheidung von Euch verlangen.“ Mit heiserer Stimme versuchte Balthasar ein wenig die Seele der Königin zu entlasten, denn wirklichen Rat konnte er ihr nicht geben. Die Zweifel, die die Frau hinter der Königin auszutragen hatte, konnten ein wenig genommen werden. Er hoffte es zumindest.

„Ich danke Euch, Balthasar, für Eure weisen Worte. Verzeiht, wenn ich Euch mit meinen Problemen belastet habe. Doch nun weiß ich, es muss geschehen. Erneut wird der Henker zu Dienste gerufen. Lebt wohl, Balthasar!“
Mit diesem Worten drehte Elisabeth Balthasar den Rücken zu und wartete mit stolz erhobenem Haupt. Der Bibliothekar verstand, ergriff das alte Buch und schloss es, um dem Schicksal seinen Lauf zu lassen.
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