Die Wiege der Zeit
Im gleichmäßigen Rhythmus hallte das Ticken des großen schweren Pendels durch den Raum. Der große Zeiger rückte, wie seit ewigen Zeiten, auf die Zwölf und ließ dabei das volle, sonore Läuten der uralten Glocke vernehmen. Jeder Schlag glitt auf sanften Schwingen durch die staubgeschwängerte Luft. Die Bücher in den Raumhohen Regalen thronten majestätisch und erduldeten dieses akustische Schauspiel. Manche von ihnen bereits seit Jahrhunderten.Balthasar, der betagte Bibliothekar, nahm den Zwicker von seinem Nasenrücken und rieb sich die Stelle, wo dieser Halt auf seiner Nase gefunden hatte. Er blickte auf die runde Anzeige der wundervoll verzierten Standuhr. Das Kreisrund ähnelte zersprungenem Porzellan, die schwarzen Zeiger darauf, als wären sie die Ursache für die Risse. „Acht Uhr bereits, mein Besuch wird sich doch wohl nicht verspäten?“ murmelte Balthasar. Ächzend erhob er sich aus dem Lehnstuhl, dessen abgewetztes, rotbraunes Leder leise knirschte, als sich das Gewicht des Sitzenden entfernte. Der Filzpantoffel des Alten glitt geräuschlos über den Parkettboden, der knarzend unter dem Gewicht nachgab. Der Alte hatte das Regal erreicht, an dem eine lange Leiter befestigt war, die mit Rollen versehen war, um damit an sämtliche Regale des halbrunden Raumes zu gelangen, die sich über Kopfhöhe befanden. Unterbrochen wurde Halbrund nur durch die lange Empore im oberen Stockwerk, die noch tiefer in das Gebäude verlief und endlose Regalreihen beherbergte.
Balthasar legte seine faltige Hand auf den Holm der Leiter, und ließ seinen Fuß auf der ersten Sprosse folgen. Ein Schritt folgte dem anderen, bis er den Standort des ersehnten Buches erreicht hatte. Der abgegriffene Ledereinband war eine Hand breit, das Gold der Lettern fast abgescheuert. Vorsichtig zog er das Buch zwischen den anderen hervor. Das leise Geräusch des Herausgleitens erklang in seinen Ohren wie liebliche Musik. Behutsam blies Balthasar über die obere Schnittkante und betrachtete lächelnd das Glitzern des davon wirbelnden Staubes. Das Heruntersteigen wurde vom steten Ticken der Standuhr begleitet, seine Schritte passten sich dem Fortgang des Zeigers an. Erneut nahm der Bibliothekar in seinem Sessel Platz, öffnete langsam das Buch und blickte hinauf zur Empore, in deren dunklen Winkeln sich die ältesten Bücher befanden, die die Menschheit jemals schuf.
„Oh, Mathilda, wie schön. Da bist du ja“ grüßte er die dort oben stehende Gestalt. „Komm, und gesell dich zu mir, erzähl mir, was dir in der Zwischenzeit widerfahren ist.“ Sanft lächelnd folgte Mathilda seiner Aufforderung und glitt schwebend die geschwungene Wendeltreppe hinab. Ihr weißes Kleid, das mit Rüschen bedeckt war, zeigte an einigen Stellen bereits gräuliche Verfärbungen. Das Mieder, das ihre Taille so schmal hielt, dass Balthasar sie mit seinen beiden Händen hätte umfassen können, lief vorne spitz zusammen und zerfloss in reifengespannten, weiten Röcken. Der schwere Damast streifte das gedrechselte Geländer der Treppe und das Rascheln, das dies erzeugte, kündigte an, dass sie die kleine Bank erreichte, die Balthasar gegenüber stand. „Bitte, nimm doch Platz“ ermunterte er Mathilda. Er beobachtet wie ihre zartgliedrigen Finger sittsam über ihren hinteren Teil des Kleides strichen, damit sie sich auf die Bank setzen konnte. Vornehm und edel, so wirkte Mathilda, und das schon seit ihrem ersten Zusammentreffen. Kerzengrade saß sie nun vor ihm aufgerichtet. Sein Blick glitt über das zierlich geschnittene Gesicht. Leicht herzförmig endete es im Kinn, das von dem hohen Kragen des Kleides gestützt zu werden schien. Er lächelte sie aufmunternd an, als er ihren Blick aus den veilchenblauen Augen bemerkte.
„Ach Balthasar“ seufzte sie, „ immer wieder freue ich mich, deiner Einladung nachkommen zu können, doch kann ich dir noch immer nichts Erfreuliches berichten. Seit dem Tod meines Gatten, du erinnerst dich – das Duell?“ Balthasar nickte grimmig schweigend. „Nun ja, ich werde wohl meinen Haushalt nicht mehr länger finanziell tragen können. Selbst wenn ich nun die Stelle als Näherin angenommen habe, doch wird es nicht reichen, für mich und die Kinder“. „Das betrübt mich Mathilda, sehr sogar. Ist niemand deiner Familie in der Lage, euch zu unterstützen?“ schlug Balthasar vor. Mathilda schüttelte den Kopf. Ihre langen Korkenzieherlocken bewegten sich mit der Bewegung ihres Hauptes. „Niemand. Seit dem bekannt wurde, weshalb mein Gatte zu diesem Duell aufgefordert wurde. Diese Schande möchte keiner in seiner Familie tragen. Die Frau des Herzogs, die meinen Mann verführte, lebt inzwischen wieder zufrieden bei ihrem Mann, der ihr wohl verziehen hat, nachdem er beim Duell erfolgreich war. Doch ich, die wahrlich nichts mit dieser Sache zu tun hatte, werde im Nachhinein für diesen Fehltritt meines Gatten bestraft.“ Mathilda hob ihre schweren Lider, die ihre großen Augen bedeckten und feucht schimmerten Tränen in ihrem Blick. „Ach Mathilda, meine Liebe. Ich fühle mit dir, fühle mich dennoch hilflos. Auch wenn es dir nicht viel Mut machen wird: die Frauen in ferner Zukunft werden es leichter haben, in solchen Situationen, auch werden die Männer nicht mehr allzu oft das Leben durch Fehltritte verlieren.“ Langsam erhob sich Balthasar, nachdem er das Buch auf den kleinen Beistelltisch abgelegt hatte und begab sich zu einem winzigen Sekretär, der in einer dunklen Ecke seinen Platz hatte. Balthasar’s linke Hand glitt über die hölzerne Verschnörkelung am oberen Rand und mit einem leisen Klicken fuhr eine kleine Lade aus dem scheinbar makellos glatten Holz hervor. Er zog einen kleinen Lederbeutel heraus und schob die Lade wieder zurück in ihre Unsichtbarkeit. Er blieb vor Mathilda stehen und hielt den Beutel mit Münzen über ihre Hände, die züchtig in ihrem Schoß lagen. „Nimm es, Mathilda. Mehr kann ich momentan leider nicht für dich tun. Doch glaube mir, wenn ich dich das nächste Mal einlade, wird es besser sein.“ lächelte er ihr zu. Traurig erwiderte Mathilda seinen Blick, schämte sich ein wenig als sie ihre Hand hob, um das Leder zu ergreifen. Ein silbriges Leuchten begleitete diese kurzfristige Berührung der Zeiten, dann erlosch es auch schon wieder. „Vielen Dank…..“ errötete sie, unfähig zu mehr Worten blickte sie zu Boden. Balthasar saß bereits wieder in seinem Sessel und hatte das Buch auf seinen Knien. Er lächelte noch immer, als er langsam das Buch schloss und beobachtete, wie Mathilda sich in sanften Schwaden auflöste. ‚Wie gern würde ich ihr von ihrem weiteren Schicksal erzählen‘ dachte er traurig. ‚Nur noch wenige Jahre, und das Glück läuft ihr über den Weg.‘ Dabei strich er gedankenverloren über den welligen Ledereinband des Buches. Erneut erhob er sich, um das Buch wieder zurück an seinen angestammten Platz zu stellen.
Wieder erfüllte das melodische Schlagen der Standuhr die Luft. Neun ineinander fließende Töne verkündeten, dass bereits eine volle Stunde vergangen war. „Es wird Zeit, ich muss mich ein wenig beeilen, mein nächster Gast ist weniger geduldig“ murmelte Balthasar. Auf der Suche nach dem Buch erinnerte er sich an das letzte Gespräch mit diesem Gast, der stets unter Strom zu stehen schien.
Balthasar fand den Almanach und nahm rasch Platz, um sofort den braun eingebundenen Buchdeckel zu öffnen. Ein Husten veranlasste ihn, in die Richtung zu blicken, aus der dieses Geräusch stammte. Auf der Empore stand ein korpulenter Mann, mit einer sehr hohen Stirn. Seine dunklen langen Haare, die seinen Ei-förmigen Kopf umrahmten, zeugten von einer gewissen Eitelkeit, sich nicht völlig der Kahlheit zu ergeben. Der silbergraue Anzug wirkte schmuddelig und ungepflegt, der Träger desselben lief unruhig auf und ab. „Benjamin, du machst mich nervös, bitte komm herunter!“ lautete Balthasar‘s Aufforderung an seinen Gast.
„Ihr seid der einzige Mensch, der mich in dieser vertraulichen Art ansprechen darf, und das wisst Ihr. Dennoch bin ich ungehalten darüber, dass ihr mich erneut zu Euch eingeladen habt. Stehe ich doch kurz vor dem Durchbruch meines nächsten Experimentes.“ „Ich weiß, Benjamin, ich weiß. Genau deshalb rief ich dich zu mir. Ich möchte dir ein wenig helfen…“ „Helfen? Ihr? Ha!“ stieß sein Gast unwillig hervor. „Wie wollt IHR mir denn helfen können? Sitzt hier zwischen all den toten Büchern und wollt mir gute Ratschläge geben.“ Verächtlich wandte er sich ab, um erneut über den knarzenden Holzboden hin und her zu laufen. Ruckartig zerrte er an der goldenen Kette, die über der Weste, die seinen mächtigen Bauch umspannte, baumelte und zog eine hübsch verzierte Uhr aus der kleinen Tasche. Er drückte auf die obere Vorrichtung und der Deckel sprang mit einem leichten Klacken auf. Noch immer hin und her laufend schnaubt er: „Ihr haltet mich auf. Warum stehlt Ihr meine Zeit? Was sollte ich von Euch schon erwarten können?“ „Mein Lieber, ich betrachte mich zwar nicht als dein Feind, doch stammt nicht der Spruch von dir, der von ein wenig Überwindung des Stolzes erzählt: Liebe deine Feinde, denn sie sagen dir deine Fehler.“
„Ja ja, ich kenne meine Worte. Dennoch bleibt es mir noch immer ein Rätsel wie Ihr mir helfen könntet. Ich bitte Euch, bringt es hinter Euch und sprecht es aus, was Ihr mir auch immer zu sagen habt.“ Balthasar seufzte, jedes Mal verliefen ihre Unterhaltungen ähnlich. Er würde sich wohl nie daran gewöhnen. Dennoch tat er seinem Gast den Gefallen und erklärte: „Bei deinem nächsten Experiment, dann, wenn du vorhast es auszuführen, nimm Deinen Sohn mit. Mehr verlange ich nicht von dir. Du wirst mir dankbar dafür sein. Vertrau mir!“
Benjamin blickte den Alten an, als hätte dieser mit seiner Äußerung bestätigt, geisteskrank zu sein. Daher entschloss er sich nachzugeben: „Wenn dies alles ist, was Ihr wollt? Mein Sohn begleitet mich bei vielen Experimenten, also werde ich ihn auch beim nächsten dabei haben. Das Wetter muss nur noch dementsprechend passen.“ „Ich weiß, Benjamin. So, nun entlasse ich dich, damit du dich an dein Werk begeben kannst.“
Bevor sein Gast sich noch verabschieden konnte, hatte Balthasar das Buch geschlossen und blickte erleichtert hinter den sich verziehenden Schwaden her. ‚Ich glaube ich werde alt‘ stöhnte Balthasar im Geiste ‚dieser Benjamin wird mir einfach zu anstrengend. Ich sollte mir für die nächste Zeit Gäste aussuchen, die weniger aufregend sind. Um Benjamin brauche ich mir keine Sorgen zu machen, er wird seinen Erfolg haben‘.
Kurz grübelte Balthasar darüber nach, ob der letztens vergessen hatte, das Buch wegzulegen, dann rief er:„Tom? Du kannst herauskommen. Wie oft habe ich dir schon erklärt, dass ich es nicht dulde, dass du dich hier herumtreibst, wenn ich nicht nach dir gerufen habe!“ Mehr Feststellung als Frage, rief Balthasar diese Worte durch den Raum. Mit rot angelaufenem Kopf trat ein sommersprossiger Junge in zerrissener Kleidung hinter dem letzten Bücherregal auf der Empore hervor. Seine nackten Füße platschten leise, als er sich zur Treppe bewegte. Mit einem frechen Grinsen schwang er sich auf den Handlauf der Treppe und rutschte mit quietschenden Geräuschen, die seine klammernden Hände verursachten, hinab zu Balthasar. Unten angekommen richtete er sich auf, kratzte sich durch das strubbelige rote Haar und starrte zu Boden. „Tschulligung, ich war doch so neugierisch“ nuschelte Tom. „Ich weiß, Tom. Nun wo du hier bist, gibt es was zu berichten?“
Wieder kratzte sich Tom am Kopf und flüsterte: „Gestern Nacht auf dem Friedhof. Da ham wir was beobachtet. Ich wollt mich nur verabschieden, denn wir werden jetzt Piraten und auf der Jackson-Insel leben. Alles andere is zu gefährlich.“ Ängstlich blickte Tom über die Schulter. „Tom, du weißt, wie ich denke; so wie du handelt, wird es geschrieben stehen. Also tu es, ich wünsche dir viel Glück, und vielleicht besuchst du mich bald, auch wenn du Pirat geworden bist.“ Leicht verwirrt blickte Tom den alten Mann an, er verstand selten, was dieser sagte und schon gar nicht konnte sich Tom vorstellen, dass er etwas schreiben würde. Er blickte hinter Balthasar her, der nach einem dünnen Band griff, der offen auf dem Schreibtisch gelegen hatte. „Bis bald, Tom und grüße Polly von mir“ und mit diesen Worten schloss er das Buch. Erneut seufzte er, als er zusah, wie Tom sich auflöste.
‚So jung und unbeschwert, erfrischend und dennoch werde ich immer wehmütig, wenn ich ihn vor mir habe‘ dachte Balthasar über diese Begegnung. ‚Wie konnte das nur passieren, dass ich dieses Buch habe offen liegenlassen‘? grübelte er noch kurz weiter, während er es an seinen Platz im unteren Regal zurückschob.
Seine Gelenke knackten entrüstet, als er sich wieder aufrichtete. Er bewegte seinen Kopf ein wenig nach hinten im Versuch, sich einzurenken, dabei fiel sein Blick auf einen zerfledderten Buchrücken. Schmutzig und grau schimmerten die gebundenen Seiten durch das dünne Leinen, das sie kaum mehr zusammenhielt. „Na sowas“ schimpfte Balthasar. „Wie konnte ich dies nur übersehen? So alt ist dieses Buch doch gar nicht“ doch dann fiel ihm ein, dass dies die Originalausgabe war, die er von Victor persönlich erhalten hatte. „Herrje, wie konnte ich sie nur derart verkommen lassen“ schimpfte er sich. Sorgfältig legte er seine Finger um das fragile Dokument und zog es zwischen den anderen Bänden hervor. Gedankenverloren strich sein Daumen über die in den Deckel geprägte Abbildung der Kathedrale.
Er begab sich in seinen Sessel und überlegte, ob er den Buckligen zu sich rufen sollte. Er war ebenfalls anstrengend. Nicht so wie Benjamin in seiner Ungeduld, dafür aber durch seine fast völlige Taubheit. Ein Schauer überfuhr ihn, als er sich entschloss, den Buchdeckel zu öffnen.
Ein unheimliches Grunzen schallte durch die Regalreihen der Empore. Gefolgt von einem Rumpeln und ungleichmäßigen Schritten unterlegt mit Schlurfen. Ein paar Bücher polterten zu Boden und Balthasar verlor die Geduld. „Komm sofort herunter. Lass das!“ befahl er seinem neuen Gast. Nebenbei ertönte das beruhigende Schlagen der Standuhr. Elf Uhr. Balthasar legte das zerschlissene Buch offen auf den kleinen Beistelltisch um die Kerze, die in dem schweren Kerzenständer neben seinem Sessel wartete, zu entzünden. Zuckende Schatten huschten sofort über die Rücken der Bücher, vergoldeten seine Schätze. Ein Schnaufen kündigte seinen Gast an, der sich hinter dem Treppengeländer zu verbergen versuchte. „Komm zu mir“ sprach Balthasar nun etwas sanfter, beim Anblick der ängstlich kauernden Gestalt. Mit eingezogenem, zur Seite geneigten Kopf und aufmerksamen Blicken näherte sich sein Gast. Vor Balthasar sank er zu Boden und kniete zu seinen Füßen. Warm lehnte dieser deformierte Körper am Bein des Alten. Da er dies bei jedem seiner Besuche tat, versuchte Balthasar nicht mehr, ihn davon abzubringen. Sein Gast fühlte sich wohl und nur so kam es ein wenig zur Konversation. „Sei so gut, erzähl mir von ihr“ bat Balthasar. Ein Rucken durchfuhr den Buckligen, als er ihren Namen aussprach. „Esmeralda“ lispelte er. „sie ist so schön“ und ein Leuchten glitt über seine entstellten Gesichtszüge. „Ja mein Freund, ich weiß. Ich bin immer wieder überrascht, wenn sie mich besucht, von welch überwältigender Schönheit sie ist.“ entgegnete Balthasar.
Leicht eifersüchtig spie ihm sein Gast entgegen: „Aber sie liebt dich nicht! Sie liebt nur Phoebus. Ich muss sie beschützen. Meister Frollo ist böse. So böse.“ Den letzten Satz flüsterte er leise und ängstlich. „Ich weiß, aber auch du musst dich vorsehen, mein mutiger Freund.“ flüsterte Balthasar wehmütig, und wagte es sogar, seine Hand auf den kahlen Schädel seines Gastes zu legen, ihn vorsichtig zu streicheln. Dieser zuckte erschreckt zurück. Glaubte er doch mit der nächsten Berührung geschlagen zu werden. Anders kannte er es nicht. „Geh lieber, geh zu ihr und beschütze sie. Du bist ein guter Mensch“ sagte Balthasar leise und schloss das Buch. Der verschwundene warme Körper hinterließ nun eine fröstelige Kälte an seinem Bein. Er stand auf um das Buch auf den Tisch zu legen, auf dem die reparaturbedürftigen Exemplare darauf warteten, wieder restauriert zu werden. So langsam würde er diese Arbeit angehen müssen, dachte er.
Langsam schritt er die endlosen Reihen der Bücher ab. Stolz und Ehrfurcht erfüllten ihn beim Anblick dieser Seiten, die Jahrtausende gefangen hielten. Jederzeit konnte er eintauchen in vergangene Zeiten, in Erinnerungen versinken.
Der erste Glockenschlag, der Mitternacht ankündigte, hallte in seinem Kopf. Unbewusst zählte er mit, während er auf seinen Sessel zusteuerte. Es wurde kälter im Raum, ein eisiger Wind blies von der Empore herab und löschte das warme Licht der Kerze. Ein bläuliches Schimmern drang durch die Reihen der Regale auf der Empore. Balthasar schüttelte sich vor Kälte, das Leder seines Sessels fühlte sich an, als wäre es eine Oberfläche aus Eis.
Ein riesiger Foliant löste sich aus der obersten Reihe, an die sich Balthasar nur selten wagte. Getragen auf dem blauen Licht durchquerte das fast armlange Buch den Raum, um sanft aber schwer auf seinen Oberschenkeln zu landen. Er schauderte, als seine Finger den Einband berührten. Wusste er doch nur zu genau, aus was dieser Einband bestand. Normalerweise wurde das Leder aus Schweinen hergestellt, doch dieses Leder bestand aus der Haut der Lebewesen, die es gelernt hatten, sich diese Tiere Untertan zu machen.
Kalter Schweiß lief über seinen Rücken, seine Finger zitterten, als er die untere Ecke ergriff, die in einem goldenen Dreieck zum Schutz vor Stößen eingefasst war, um den schweren Deckel zu öffnen.
Sofort erklangen laute, schwere Schritte von der Empore herab. Balthasar schloss für einen kurzen Moment die Augen, um sich zu sammeln. Nur äußerst selten kam dieser Besuch, und wenn, dann immer unangekündigt. Noch nie hatte er diesen Besucher einladen können, geschweige denn, ihn verschwinden lassen.
Balthasar spürte, wie eine bleierne Schwere von seinen Füßen aufstieg und bereits in Kniehöhe angelangt war. Unfähig sich zu erheben, harrte er aus. Er spürte seinen Atem in die Nase dringen, vermischt mit einem leichten Nebengeruch, der Schwefel sehr nahe kam. Eine üble Begleiterscheinung dieses Gastes. Tiefes, hämisches Gelächter hallte durch den Raum, der plötzlich viel größer erschien als vor wenigen Minuten. Balthasar hielt noch immer die Augen geschlossen, lauschte den Geräuschen, die sich ihm näherten. Sein Puls begann zu steigen, dennoch fraß sich die Kälte weiter durch seinen Körper. Der Foliant auf seinem Oberschenkel begann sein Eigenleben und fing an fingerbreit über seinen Beinen zu schweben. Unwillkürlich öffnete Balthasar seine Augen und er beobachtete das dargebotene Schauspiel. Die Seiten begannen knisternd umzublättern. Balthasar nahm den Geruch des Pergaments wahr, welches nicht die Struktur des üblich bekannten Pergaments trug.
Auch dieses, hauchdünne Material bestand aus demselben, wie der Einband. Tiefrote Schriftsymbole leuchteten auf, schreckliche Abbildungen, die ihr eigenes Leben führten. Jede Abbildung veränderte sich. Jedes Bild war in Bewegung, schien lebendig zu sein. Eine Abbildung zeigte eine Verbrennung, das Opfer erlitt dieselbe Pein des eigenen Todes wieder und wieder. Balthasar wünschte, die Seite würde endlich weiterblättern, doch quälte sie ihn für unendliche Augenblicke weiter. Die Schreie des Verbrennenden hallten durch seinen Kopf.
Plötzlich wurde das Buch mit einem heftigen Ruck zugeschlagen. Balthasar zuckte zusammen, soweit sein versteinerter Körper noch dazu in der Lage war. Erschrocken blickte er auf. Vor ihm ragte eine riesige Gestalt auf. Mehr als zwei Meter groß, schätzte Balthasar den Mann, der auf ihn herabblickte. Lange schwarze Haare, ein kantiges Gesicht, das von zwei dunklen Augen beherrscht wurde. Ein breiter Brustkorb mit passenden Schultern, die kaum durch einen üblichen Türrahmen passen dürften. Der durchtrainierte Körper war eingepackt in schwarzer Kleidung. Eng lag das Shirt über dem muskelbepackten Oberkörper, der in einer engen Jeans endete. Darunter schwarze Lederstiefel, von denen Balthasar hoffte sie wären aus dem üblichen Leder. Ebenso der bodenlange Ledermantel.
„Alter Mann!“ dröhnte es aus dem Mund des Riesen. „Willst du mich nicht begrüßen?“ fragte er hämisch und nahm das Buch an sich, um es dabei zu beobachten, wie es an seinen Platz im Regal zurückkehrte. Wieder wandte er sich Balthasar zu, der noch immer um seine Stimme rang. „Nun?“ knurrte der Hüne und seine dunklen Augen schlossen sich zu glühenden Schlitzen. „Ich…“ krächzte Balthasar, „… heiße dich willkommen.“ Ein Husten schüttelte seinen Körper. „Würdest du mir mitteilen, mit wem ich die Ehre habe? Ich habe dich noch nie gesehen!“ keuchte er.
Ein kehliges Lachen durchflutete die Bibliothek. „Michelangelo, so darfst du mich nennen. Mein Gebieter bevorzugt diese Art der Namen. Als dunkler Engel gebührt mir ein solcher Name. Leider ist mein Gebieter verhindert, selbst bei dir zu erscheinen. Er beklagt sich über zu wenig Zeit. Deshalb schickt er mich zu dir. Du würdest in den letzten Jahrhunderten sehr müßig mit diesem Gut umgehen. Sie an Gestalten verschwenden, deren Auftauchen nicht unbedingt nötig sei.“ Ein wütender Blick streifte Balthasar, doch regte sich in ihm Trotz: „Michelangelo, so so. Sein letzter Gesandter hieß Leonardo.“ Er schaffte sogar ein amüsiertes Lächeln. „Dein Gebieter beschwert sich also über zu wenig Zeit?“ fragte er schnell weiter, um den Riesen nicht noch weiter zu verärgern.
Dieser nickte nur ungeduldig und verschränkte seine mächtigen Oberarme vor seinem Brustkorb. Lässig lehnte er an einem der Regale und blickte wartend auf den Alten herunter. Der Bibliothekar räusperte sich: „Ich werde nicht ständig auf Zuruf deines Gebieters handeln. Er sollte sein Anliegen persönlich vortragen.“ sprach er mutig den Riesen an. Die Luft im Raum wurde noch kälter, eine eisige Hand schien sich um Balthasar‘s Kehle zu schließen. „Alter Narr“ brüllte der Hüne. „Was glaubst du, wer du bist? Mein Gebieter duldet deine Spielereien nur, weil er Respekt vor deiner Macht hat. Die Macht, der Zeit zu gebieten. An dir liegt es, meinem Gebieter einen Gefallen zu tun, oder er wird dir dein Dasein für die verbleibende Ewigkeit verderben. Dass er dazu in der Lage ist, brauche ich dir nicht zu erläutern.“ drohte der Ledermann weiter.
Balthasar schluckte schwer. Langsam löste sich der Griff um seinen Hals: „ Gib mir den Folianten!“ befahl er heiser dem Gesandten. Dieser blickte den zähen Alten auf seinem Sessel an, streckte seinen rechten Arm nach hinten aus, öffnete seine Finger und der große Foliant glitt leise aus dem Regal zurück in die lederbehandschuhte Pranke. „Hier. Und fang an!“ knurrte Michelangelo, als er den Folianten auf Balthasar‘s Schoß legte. Der alte Mann stöhnte unter dem Gewicht leise auf, und sah zu, wie es erneut begann sich von alleine zu öffnen, die Seiten umzublättern. Die roten Lettern glitten an seinen Augen vorbei, das Bild der Verbrennung mit den schrecklichen Schreien, weitere Greueltaten, bis zur ersten leeren Seite.
Der Federkiel und das Tintenfass befanden sich auf dem Beistelltischchen. Nach diesem Kiel griff Balthasar und blickte den schwarzen Engel herausfordernd an. „Und nun – reiche mir die Tinte!“ befahl er dem Engel. Unverzüglich schob dieser den Ärmel seines Mantels bis hoch zum Ellbogen. Griff hinter sich, in den Gürtel seiner Jeans und zog einen schwarzen, gewellten Dolch hervor, den er ohne zu zögern in sein nacktes Fleisch des Unterarmes stieß. Schwarzes Blut quoll hervor, das in der riesigen Faust des Engels anfing sich zu sammeln. „Fang an!“ befahl Michelangelo. Ein wenig geschockt starrte Balthasar auf das zähe Blut, das die Handfläche des Engels langsam füllte. Dann tauchte er die Feder in das dunkle Blut und begann den ersten blutroten Buchstaben auf das Pergament zu kratzen, um die Zukunft für viele weiter Jahrhunderte festzulegen…..