Teresa
Die Sonne fiel auf ihr schimmerndes, helles Haar. Feine Strähnen lagen über ihrer Stirn, die sie in tiefe Falten gelegt hatte. Angestrengt blickte sie auf das kleine Büchlein, das vor ihr lag. Ihre Zunge lugte ein klein wenig aus dem Mundwinkel, was ihre Anspannung noch verdeutlichte. Ihr Rücken war gekrümmt, das dünne Sommerkleid umwehte ihren dürren, schlaksigen Körper, während sie so am offenen Fenster saß. Das beruhigende Rauschen des Windes, der durch die saftig grünen Baumwipfel fuhr drang jedoch nicht in ihr Bewusstsein. Auch nicht die hin und her huschenden Schatten, die das Sonnenlicht warf, das durch die wankenden Äste gefiltert wurde.Ungelenk bewegte sie ihren Stift über das kleine Buch, setzte die Mine auf die erste Linie und begann zu schreiben:
„Ich will nicht vergessen!
Nicht wie ich heiße, nicht wie alt ich bin, nicht das, was ich alles erlebt habe, nicht die Menschen, die mich viele Jahre begleiteten. Und doch schreitet der Verfall in meinem Kopf unaufhaltsam fort. Er nimmt keine Rücksicht auf meinen Willen, wird dieser doch bald diesem Monster der Vergessenheit Untertan sein.
Vvieles habe ich bereits vergessen, bitte meine Freunde und Verwandten, mir immer wieder zu erzählen, was sie erlebten, was sie vorhaben und auch von meiner Vergangenheit. Oft spüre ich die Tränen unendlicher Trauer in meinen Augen stehen, wenn sie mir von Ereignissen erzählen, die sich so wundervoll anhören, und ich mich dennoch nicht an sie erinnern kann. Ich grabe tief in meinen Erinnerungen, wende mich nach innen um danach zu suchen. Sie müssen doch Spuren hinterlassen haben. Empfindungen oder Bilder. Doch da ist nichts. Ein Nichts, das sich immer gieriger durch meinen Schatz der Vergangenheit frisst. Ohne zu sortieren verschlingt es hier einen Happen Kindheitserinnerung, dort die grauenvolle Zeit des Krieges. Eigentlich sollte ich für dieses Ausradieren dankbar sein, doch ist der Preis dafür viel zu hoch. Kostet es wertvolle, wundervolle Gedanken, von denen ich dachte, sie würden mich bis ans Ende meiner Tage begleiten. Mein ganzes Leben lang vertraute ich darauf, im Alter mich mit meinen Erinnerungen glücklich zur Ruhe setzen zu können. Dann, wenn der Körper nicht mehr in der Lage sein würde, die Unternehmungen, die ich als junge Frau erlebte, auszuführen. Doch nun ist es anders, als ich es mir je vorstellen konnte. Meinem Körper geht es gut, er ist gesund, soweit es möglich ist für mein jetziges Alter, agil und nur wenige Beschwerden, die so typisch für mein Alter wären….“
Teresa hob den Kopf, blinzelte in einen Streifen Sonnenlicht, auf dem feiner Staub silbrig tanzte. Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel, die sie mit ihrer faltigen Hand vorsichtig abtupfte. Sie blickte wieder auf ihre Worte hinab. Die Handschrift kam ihr fremd vor, unbekannt, und doch, als sie weiter schrieb erkannte sie, dass diese aus ihrer Hand entsprang:
„Ich weiß es einfach nicht mehr. Ich kann mich nicht mehr an mein Alter erinnern. War ich mir eben noch sicher, dies niemals zu vergessen, scheint mir jetzt, eine endlose Zeit vergangen zu sein, in der alles im Nichts verschwinden konnte. Unbemerkt, heimlich, still und leise.
Woran könnte ich mich festhalten, wie es wieder zurückholen, mich erinnern, wie alt meine Kinder sind und deren Kinder. Könnte ich es so ausrechnen, wie alt ich in etwa sein könnte? Es erschreckt mich, dieser innere Verfall, der sich lautlos und schmerzlos vollzieht. Manchmal scheine ich Schmerz in den Augen meiner Besucher zu erkennen. Leiden sie, wenn sie mich derart vergesslich erleben? Wenn sie mein Gesicht betrachten, nachdem sie mir von jemandem erzählten, der vor kurzem gestorben ist? Was verrät mein Gesicht, wenn ich die Übermacht des Vergessens spüre?
Wohin sind die Verknüpfungen verschwunden, die Fähigkeit einen Namen einem Gesicht zuzuordnen? Emotionen zu Erlebnissen? Wie kann sich dies einfach auflösen? Ausgelöscht werden, als wären diese niemals vorhanden gewesen? Sind sie vielleicht alle doch noch irgendwo, doch habe ich keinen Zugang mehr zu diesem Bereich, den ein tollwütiges Tier eisern bewacht? Habe ich den Schlüssel zu meinem Erinnern verloren?
Manchmal sehe ich meine Eltern in Gedanken vor mir. Uralte Erinnerungen sind dies, und doch sind sie noch da. Wie ein verstaubtes Familienfoto, das man auf einem spinnwebverhangenen Speicher wiedergefunden hat. Ich freue mich darüber, hoffe, das gierige Tier hat es nicht mitbekommen, wie ich mich in diese Nische meiner Gedanken schlich. Ich möchte sie noch lange festhalten.
Doch werde ich es irgendwann überhaupt noch bemerken, WAS ich vergessen habe?“
Erneut hob Teresa ihren Kopf, fuhr sich mit zitternder Hand durch das graue Haar, das eine Pflegerin, an deren Namen sie sich nicht mehr erinnern konnte, heute morgen sorgfältig gekämmt hatte. ‚Warum passiert das mir‘ flüsterte Teresa leise und blätterte die beschriebene Seite ihres Büchleins um. Sie beobachtete ein kastanienbraunes Eichhörnchen, das mit einem Haselnusszweig im Mund, hastig den rauen Stamm eines uralten Baumes hinaufkraxelte. Teresa lächelte und ihr Blick sank zurück auf das Buch. Überrascht betrachtete sie es, strich über die leere Seite, atmete einmal tief ein.
Ungelenk bewegte Teresa ihren Stift über das kleine Buch, setzte die Mine auf die erste Linie und begann zu schreiben:
„Ich will nicht vergessen…..